Ich heirate eine Familie
Sechs Prozent aller Schweizer Kinder wachsen in Patchworkfamilien auf. Dass es nicht immer einfach ist, das Familienkonstrukt wie ein Puzzle immer wieder neu zusammenzusetzen, erlebt unsere Autorin Valerie Wendenburg.
Im Arbeitszimmer meines Vaters gab es in den achtziger Jahren einen winzigen Fernseher, der bei meinen Geschwistern und mir heiss begehrt war. Vor allem, wenn Sendungen wie «Wetten, dass…?» oder «Verstehen Sie Spass?» über den Bildschirm flimmerten. Mein Favorit war damals die Serie «Ich heirate eine Familie», die von 1983–1986 ausgestrahlt wurde. Ich verpasste keine einzige Folge. Fieberte mit, als «Werner» (Peter Weck) sich in «Angie» (Thekla Carola Wied) verliebte, die sich als alleinerziehende Mutter durch den Alltag hangelte und dem neuen Mann an ihrer Seite die Existenz ihrer drei Kinder erfolgreich bis zum Heiratsantrag verschwieg.
Die Patchworkfamilie, die mit einem gemeinsamen Kind noch Zuwachs bekam, faszinierte mich mit all ihren kleineren und grösseren Freuden und Sorgen.
«1+1 gleich 5»
30 Jahre später – ich hatte die Serie fast vergessen – verliebte ich mich. Ich war damals geschieden und lebte alleine mit meinen drei Söhnen – bis mein neuer Freund zu uns zog. Er heiratete eine Familie. Wie in der ersten Folge meiner Lieblingsserie hiess es auch bei uns: «1+1 gleich 5». Und auch wir bekamen – wie nach Drehbuch – zusammen noch eine Tochter.
An unserer Hochzeit stellte mein Bruder die These auf, dass mein Lebensweg angesichts dieser nicht abzustreitenden Parallelen seit meiner Jugend klar vorgezeichnet gewesen sei. Seitdem muss ich oft an die Serie denken, die auch jetzt noch Fanclubs hat und im Jahr 2020 sogar ein Revival im ZDF erleben durfte. Auch wenn viele Szenen heute wie aus der Zeit gefallen scheinen, muss ich immer wieder schmunzeln, wenn der Patchworkalltag aus den Fugen zu geraten scheint. Die Fernsehfamilie lebt vor, dass verstrickte Situationen mit Leichtigkeit besser zu bewältigen sind. Dass es mit Humor gelingen kann, sich selbst innerhalb der Familienkonstellation nicht zu wichtig zu nehmen und kleinere Konflikte mit einem Augenzwinkern hinzunehmen. Humor kann befreiend wirken und dabei helfen, für sich selbst einen neuen und passenden Platz im sich drehenden Familienkarussell zu definieren.
Der neue Mann und die Vaterrolle
Anders als in klassischen Konstellationen sind die Rollen in Patchworkfamilien nicht klar vorgegeben. Mein Mann hat nie versucht, in die Vaterrolle zu schlüpfen, ist aber für die angeheirateten Kinder da, wenn sie ihn brauchen oder um Rat fragen. Dies nun schon seit mehr als zehn Jahren. Gleichzeitig stellt er kaum Ansprüche und muss sich in seiner Rolle immer wieder zurücknehmen. Besonders in Zeiten von Corona, wenn bei diversen Schulanlässen pro Kind nur zwei Begleitpersonen zugelassen sind. Dann ist für die Jungs klar: Mami und Papi kommen mit. Mein Mann steht in solchen Situationen hinten an, auch wenn er im gemeinsamen Alltag Schulsorgen oder Prüfungsängste hautnah miterlebt. Er selbst hat sich nie darüber beklagt. Ich aber habe schnell das Gefühl, in der Mitte des Geschehens zu stehen und es allen recht machen zu müssen. Meine Alarmglocken gehen an, sobald ich Sorge habe, das Familiengleichgewicht könnte aus dem Lot geraten. In einer Patchworkfamilie wie unserer sind nicht automatisch alle gleichberechtigt, da die Gegebenheiten unterschiedliche sind. Beispielhaft dafür war jahrelang der Freitagabend, an dem die Tür ins Schloss fiel und meine Söhne sich auf dem Weg zu ihrem Vater machten.
Dieses plötzlich entstehende Ungleichgewicht zwischen den Geschwistern wirft mich oft aus der Balance, und auch unsere kleine Tochter wundert sich immer wieder, dass ihre Brüder plötzlich für eine gewisse Zeit weg sind. Mal findet sie es toll, alleine bei uns bleiben zu können, ein anderes Mal ärgert sie sich, dass ihre Brüder von zwei Papis Geschenke zum Geburtstags bekommen und sie nur von einem. Meinen Söhnen rechne ich hoch an, dass sie sich nie mit ihrer kleinen Schwester vergleichen und keine Konkurrenz unter den Geschwistern aufkommen lassen. Als einer von ihnen mit 16 Jahren ein Austauschjahr in Südamerika verbrachte und sich im Flugzeug tausende Kilometer von uns und seiner Heimat entfernte, tigerte ich schlaflos durchs Haus. Mein Mann hingegen schlummerte selig, er freute sich für meinen Sohn, sein Abschiedsschmerz war mit meinem nicht vergleichbar. In Momenten wie diesen kommt der Unterschied hinsichtlich der Bindung zum eigenen Kind zum Vorschein. Diese Tatsache anzunehmen und keine Gefühle erzwingen zu wollen, fordert mich heraus. Umgekehrt erscheinen mir das gute Verhältnis und der von Respekt getragene Umgang zwischen meinem Mann und meinen Söhnen als Geschenk und alles andere als selbstverständlich.
Es gibt kein Patentrezept für Patchworkfamilien
Aus Sorge vor einer Veränderung versuche ich oft, Konflikte bereits zu lösen, wenn sie sich erst anbahnen. Sind kleine Streitereien über noch ausstehende Gartenarbeit oder andere Nebensächlichkeiten im Anflug, versuche ich reflexartig, sie zu vertreiben. Rede meinen Söhnen ins Gewissen, bevor mein Mann dies tut. Heute versuche ich mit immer grösserem Erfolg, mich aus diesen Diskussionen herauszuhalten. Denn im Laufe der Zeit ist mir klar geworden, dass mein Harmoniebedürfnis durchaus kontraproduktiv sein kann. Auch dank meines jüngeren Sohnes, der mich neulich gefragt hat, weshalb ich eigentlich immer versuchen würde, alle Probleme zu lösen – das sei doch gar nicht nötig, es laufe doch alles gut so wie es ist.
Für Patchworkfamilien gibt es kein Patentrezept, wie aus den einzelnen Familienmitgliedern eine Familie zusammenwächst. Respekt und Wertschätzung sind essentiell, wenn das neue Lebenskonstrukt plötzlich wie ein Puzzle neu zusammengesetzt wird. Die Beziehung zwischen Elternteil, Partner oder Partnerin, Kindern und neuen Geschwistern müssen immer wieder neu ausgelotet werden. Alltägliche Reibereien gehören dazu, stellen aber kein ernst zu nehmendes Risiko dar, wenn Zuneigung und Respekt vorhanden sind. Dies zeigte bereits die Serie «Ich heirate eine Familie» auf humorvolle Weise. Sie «live» auf dem Bildschirm zu verfolgen, zog Mitte der achtziger Jahre nicht nur mich in den Bann und hilft auch heute noch, die eigene Situation mit der oft nötigen Gelassenheit zu betrachten.
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