Heute wohne ich bei Papa

Bilder: Daniel Rihs, Samuel Trümpy, Herbert Zimmermann / 13 Photo
Früher war es in der Schweiz üblich, dass Trennungsväter ihre Kinder maximal jedes zweite Wochenende zu sich nahmen. Eltern, die es anders machten, galten als Exoten. Heute haben immer mehr Männer das Ziel, auch nach einer Trennung im Leben ihrer Kinder präsent zu bleiben.
Der Zehnjährige steigt aus dem Auto und geht auf das Haus zu. Dann bleibt er plötzlich stehen, dreht sich nochmals um und ruft: «Bis in einer Woche dann?» Sein Vater ruft zurück: «Ja, genau!» Der Bub streckt den Daumen nach oben, dann verschwindet er hinter der Gartenhecke.
Es komme ihm so vor, als würde sein Sohn von ihm eine Bestätigung einfordern, dass er als Vater auf keinen Fall seinen Termin verpasse, sagt Marc Petzold und lacht. Selbstverständlich wird er in einer Woche zur gewohnten Uhrzeit genau an dieser Stelle sein – und ihn abholen.
Marc Petzold und seine Frau leben getrennt. Die Obhut ihres Sohnes teilen sie sich. Für diese Lösung musste der 44-Jährige jedoch lange kämpfen.
Der Trend geht hin zur alternierenden Obhut

In der Schweizer Rechtsprechung sei in der Vergangenheit immer wieder ein Denkfehler gemacht worden. «Man ging davon aus: Mama ist gut, Papa muss es beweisen.» Das habe dazu geführt, dass manche Kinder nach Trennungen den gewohnten Alltag mit ihren Vätern verloren hätten. «Das passiert auch noch heute, aber es bessert sich.» Je nach Kanton und Gepflogenheiten vor Ort bräuchten Väter unterschiedlich starken Durchhaltewillen, um weiterhin ihre Kinder viel zu betreuen.
Diesen Willen zeigt Marc Petzold nun schon lange. Nach zweieinhalb Jahren voller Streitigkeiten ordnete ein Gericht die alternierende Obhut an. Da Petzold als Informatiker arbeitet, kann er viel von zu Hause aus erledigen – und sich daher auch gut um seinen Zehnjährigen kümmern.
Im Einverständnis beider Eltern übernahm auf richterliche Anweisung das Marie-Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich die Bewertung darüber, was dem Interesse ihres Sohnes am besten entspricht. Es sei zu erwarten gewesen, dass sich das Gericht nicht gegen die von ihm selbst beauftragte Empfehlung des renommierten Instituts stelle, meint Marc Petzold.
«Unserem Sohn bleiben durch diese einwöchigen Zeiträume am Stück häufige Wechsel erspart. Ich hole und bringe ihn jede Woche.» Der Weg zur Schule ist gleich lang wie der vom mütterlichen Haushalt. Petzold meint, dass dem Bub die gemeinsame Zeit mit ihm guttue.
Elternstreit belastet Kinder dauerhaft
Das sei eine gute Strategie, sagt Vereinspräsident Oliver Hunziker. Elternstreit belaste Kinder dauerhaft. Hunziker macht die Erfahrung: Richter entscheiden auch nach strittigen Trennungen immer häufiger pro geteilte Betreuung. Denn sie sähen, dass viele Eltern im Einvernehmen diesen Weg gingen – und dass es von Vorteil sei für alle. «Es gibt sehr viele junge Mütter, die sagen, sie möchten bald nach der Geburt wieder arbeiten», erklärt Hunziker. «Und die auch einfordern, dass ihre Männer als Väter präsent sind. Das spürt man und das ist wunderbar so.»
In der Vergangenheit galt für die Rechtsprechung: «Mama ist gut, Papa muss es beweisen.»
Neuerdings ist es so, dass bereits ab Kindergarten- oder Schuleintritt dem hauptbetreuenden Elternteil – meist sind das Mütter – eine 50-Prozent-Arbeitsstelle zugemutet werden kann, später auch mehr.
Somit gibt es nicht mehr klassisch einen Ernährer für Trennungsfamilien und eine Betreuerin der Kinder, sondern zunehmend betreuen beide Eltern und beide tragen zur finanziellen Versorgung der Kinder bei.
«Schritt für Schritt» werde eine partnerschaftliche Lösung nach der Trennung populärer, führt Hunziker aus. Immerhin leben heute in der Schweiz nach Angaben des Marie-Meierhofer-Instituts schätzungsweise 90 00 Kinder in multilokalen Familien, viele davon dürften aus Trennungsfamilien stammen. Es ist nach Angaben des Instituts davon auszugehen, dass die meisten eine für sich und ihre Kinder zufriedenstellende Familienlösung gefunden haben.
«Manchmal ist eine geteilte Betreuung auch einfach nicht möglich, aus ganz unterschiedlichen Gründen», räumt Hunziker ein. Allein ein Elternstreit darüber, ob eine geteilte Betreuung gut sei für die gemeinsamen Kinder, werde aber von Gerichten nicht mehr als Hinderungsgrund für das neue Modell gewertet.
Dringend nötig: eine frühe Kommunikation

Für viele Väter ist es schwierig, die Arbeit zu reduzieren – da braucht es Hartnäckigkeit gegenüber dem Arbeitgeber.
Der Verband männer.ch fordert Parität in vielerlei Hinsicht. So setzt er sich seit geraumer Zeit für mehr Vaterschaftsurlaub für Männer ein. Schneider berichtet, er erlebe Väter, für die es schwierig sei, die Arbeit anzupassen und zu reduzieren. Doch von denen wünscht er sich Hartnäckigkeit. «Ich behaupte, es ist in der Schweiz auch für Väter machbar, Beruf und Kinder miteinander zu vereinbaren – auch, wenn Männer manchmal mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen bei ihrem Arbeitgeber als Frauen.»
Da sowohl seine frühere Frau als auch er zu den Söhnen von Geburt an eine enge Verbindung hatten, habe sich die Eltern-Kind-Beziehung nach der Trennung nicht verändert. Selten träfen sie noch zu viert aufeinander, an den Geburtstagen der Kinder zum Beispiel. Einmal im Monat gingen sie als Eltern zu zweit etwas essen und sprächen über ihre Söhne und ihre Elternbeziehung.
- Erweiterte Betreuung
Väter betreuen ihre Kinder jedes zweite Wochenende und auch flexibel unter der Woche. In vielen Fällen beginnt die Betreuungszeit freitags nach Kindergarten oder Schule und endet montags mit Beginn des Kindergartens oder der Schule. Manchmal sind die Zeiten auch kürzer, von Samstagmorgen bis Sonntagabend. Zusätzliche gemeinsame Zeiten unter der Woche mit oder ohne Übernachtungen. Weit verbreitet und gerne gewählte einvernehmliche Lösung für Nachtrennungsfamilien. - Jedes zweite Wochenende
Klassischerweise jedes zweite Wochenende gemeinsame Vater-Kind-Zeit. Im Deutschen spricht man von Residenzmodell, in der Schweiz allgemein wieder von Besuchsrecht. Noch weit verbreitet – vor allem in Fällen, in denen es bereits seit Jahren Anordnungen und Regelungen gibt, die mit Hilfe der Behörden getroffen wurden.
- Alternierende Obhut
Betreuungszeiten mindestens 30 Prozent beim zweiten Elternteil. Dieses Modell kann in zahlreichen Variationen gelebt werden. Bei Kindern ab Schulalter regeln es Eltern oftmals so, dass die Kinder eine Woche bei der Mutter leben, eine Woche beim Vater. Oder fünf Tage bei der Mutter, drei Tage beim Vater, dann wieder fünf Tage bei der Mutter und so fort. Räumliche Nähe sehr von Vorteil. Bei kleineren Kindern sollten die Aufenthalte bei einem Elternteil nicht allzu lang sein, weil ihr Zeitempfinden anders als das von Erwachsenen ist. - Wenig bis gar kein Kontakt zu einem Elternteil
Leider gibt es noch immer auch solche Fälle. Das hat unterschiedlichste Gründe. Oftmals sehen Väter in diesen Konstellationen ihre Kinder nur, während Begleitpersonen dabei sind. Meist ist die gemeinsame Zeit auf wenige Stunden im Monat begrenzt, was viele Väter beklagen und viele Kinder stumm hinnehmen müssen. - Nestmodell
Kinder bleiben im elterlichen Haushalt, der bereits vor der Trennung bestand. Die Eltern wechseln ihren Aufenthalt. Das Nestmodell ist die alternierende Betreuung an einem Standort. Verursacht meist hohe Kosten und wird daher nur sehr selten gelebt.
Den Fokus auf die Kinder richten
Vielleicht auch deshalb, weil Dominik Blatt als Teamleiter einer Finanzabteilung arbeitet, sieht er einige strukturelle Defizite für Getrennterziehende. Blatt spricht einen geteilten Sozialabzug bei der Steuererklärung an, obwohl die Kinderbetreuung annähernd ausgeglichen sei. Und beim Krankenkassenabzug sollte nur abzugsberechtigt sein, wer die Prämien zahlt. Aber die Abzugsfähigkeit bestimme sich nach dem höheren Wohnanteil der Kinder. «Das sind Themen, die ich als sehr störend empfinde», sagt Blatt. «Gerade bei Getrennten und Geschiedenen fallen ja viele doppelte Kosten an», argumentiert Blatt. «Plötzlich wird man als alleinstehender Vater mit massiv höheren Ansätzen besteuert, obwohl man seinen Anteil zur Erziehung gleichermassen beiträgt.»
Sabine Brunner vom Marie-Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich beschäftigt vor allem eine Frage: Was genau entspricht denn dem Kindeswohl? Ein Begriff, der so umstritten ist wie kaum ein anderer. Brunner beklagt, dass sich die Professionen im Familienrecht selbst so uneins seien, welche Kriterien für die Regelung der Situation von Kindern getrennter Eltern Ausschlag geben sollen. Vor diesem Hintergrund sei es für Trennungsfamilien umso schwieriger, angemessene Lösungen zu finden. «Mich beschäftigt es sehr, dass selbst in der Fachwelt bisweilen ein solch heftiger Krieg geführt wird», sagt sie. Bei vielen Vätern spüre sie das Bemühen, auch nach einer Trennung für ihre Kinder da sein zu wollen «und ihre Stellung in der Familie neu zu finden», so Sabine Brunner. «Ich stelle mit Freude fest, dass sich Väter mehr engagieren als noch vor Jahren.»
Das Kindeswohl muss an erster Stelle stehen, nicht die Wünsche der Eltern.
In Einzelfällen könne es funktionieren, wenn die alternierende Obhut trotz eines Elternstreits angeordnet werde, erklärt Sabine Brunner. Und zwar dann, wenn die Eltern sich in ihren Rollen grundsätzlich respektierten und die Kinder selbst bei beiden Eltern sein möchten. Oftmals wäre es sinnvoll, wenn Eltern frühzeitiger ein Beratungsangebot in Anspruch nähmen, ist Brunner überzeugt.
Jeden Fall individuell beurteilen
«Die Väter sind ja oft auch nicht ganz unschuldig», sagt Hunziker mit Blick auf krass verlaufende Sorgerechtsstreitigkeiten. «Wenn ich höre, dass ein Vater in Beratungsgespräche kommt und sagt: ‹Es ist aber mein Recht›, korrigiere ich immer: Wenn, dann reden wir vom Recht des Kindes. Mütter und Väter haben Pflichten.» Hunziker gehört zu jenen, die sich immer wieder dafür einsetzen, dass die Mitarbeiter der KESB und Gutachter mit Weiterbildungen gestärkt werden und dass eine Qualitätssicherung eingeführt wird, die dann auch funktioniert. Ein Unding ist für ihn auch das Verhalten einiger Anwälte im Familienrecht. «Ein guter Richter weiss streitsuchende Anwälte zu ignorieren», sagt er.
Getrennte Eltern sind «getrennterziehend», nicht «alleinerziehend».
Und er denkt gerne in die Zukunft. Die Treffs der Väterberatungen glichen heute oft Lazaretten. Was nütze es, sich in Einzelfällen durch die Instanzen zu klagen, was manche Väter gerne tun würden? Wichtiger sei doch, Eskalationen von Anfang an zu unterbinden. «Gerichte sind für Familienthemen eigentlich das falsche Werkzeug», erklärt der Vereinspräsident. «Dort geht es darum, Schuldige zu finden. Wir brauchen aber keine Schuldigen, das nützt den Kindern nichts.» Viel besser wäre es, in Form einer Mediation, zur Not auch mit Zwang und im Beisein eines Juristen, eine Regelung zu treffen, die sich an paritätischer Elternschaft orientiert. «Und dann Stempel drauf, Gratulation.»