«Wir neigen dazu, Kindern Verantwortung abzuerziehen» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Wir neigen dazu, Kindern Verantwortung abzuerziehen»

Lesedauer: 5 Minuten

Familienberaterin Christine Ordnung sagt, wir müssen die Integrität eines Kindes wahren, damit es lernt, verantwortungsvoll zu handeln. Es braucht aber auch Eltern, die keine Reibung scheuen und Service nicht mit Liebe verwechseln.

Interview: Virginia Nolan
Bilder: Rawpixel, Anne Gabriel-Jürgens / 13Photo

Frau Ordnung, wie bringen wir Kindern bei, Verantwortung zu übernehmen? 

Vielleicht vorweg: Wenn ich von Verantwortung spreche, beziehe ich mich auf den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, der dem Begriff eine soziale und eine persönliche Dimension zuschrieb. Soziale Verantwortung ist demnach die Form von Verantwortung, die wir füreinander als Familie, Schulklasse oder Gesellschaft tragen. Sie ermöglicht uns, in Gemeinschaft zu leben.

Wenn ich so viel Service wie möglich anbiete, ­werden die Kinder ­kooperieren – und sich ­bedienen lassen.

Die persönliche Verantwortung trägt jeder Mensch für sich selbst – für seine körperliche und psychische Gesundheit, seine Entwicklung. Sie setzt ein gutes Gespür für die eigenen Bedürfnisse voraus und die Fähigkeit, für diese einzustehen.

Aus meiner Sicht lautet die wichtigste Frage: Was können Eltern tun, damit Kinder das Bewusstsein für ihre persönliche Verantwortung nicht verlieren? Wir neigen nämlich dazu, es ihnen abzuerziehen. 

Christine Ordnung, Mutter einer erwachsenen Tochter, war Universitätsdozentin und Erwachsenenbildnerin, bevor sie sich 2002 bei Jesper Juul zur Familienberaterin ausbilden liess. 2010 gründete sie das Deutsch-Dänische Institut für Familientherapie und Beratung in Berlin, das Aus- und Weiterbildungen für Pädagogen und Familienberaterinnen anbietet.

Das müssen Sie erklären.

Kinder kommen durchaus als verantwortungsvolle Wesen auf die Welt. So übernimmt ein Säugling mit seinen bescheidenen Möglichkeiten Verantwortung für sein Bedürfnis nach Nahrung oder Körperkontakt, indem er durch Weinen, Lächeln oder Blickkontakt auf sich aufmerksam macht.

Er ist aber auf eine einfühlsame Bezugsperson angewiesen, die auf seine Zeichen reagiert. Früher ging man davon aus, dass Säuglinge Reflexbündel sind, so hat man sie auch behandelt. Da hat zum Glück ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Aber auch heute sind wir nicht davor gefeit, nach starren Idealnormen zu erziehen und damit kindliche Bedürf­nisse zu missachten. Das hat Folgen.

Nämlich?

Die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu kennen und dafür einstehen zu können, also seine persönliche Verantwortung wahrzunehmen, ist eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde psychische Entwicklung und die Fähigkeit, tragfähige Beziehungen zu pflegen.

In der Erziehung verfahren wir oft nach dem Motto: Ich tue etwas für dich, dafür sollst du etwa folgsam sein, dankbar, fleissig oder gut gelaunt.

Dafür braucht ein Kind Erwachsene, die seine Bedürfnisse und Grenzen ebenfalls respektieren, sprich: seine Integrität wahren. Ein junger Mensch, der auf diese Weise lernt, dass es die persönliche Verantwortung zu achten gilt, wird auch seine soziale Verantwortung wahrnehmen, ohne sie ständig an Bedingungen zu knüpfen.

In der Erziehung verfahren wir aber oft nach dem Motto: Ich tue etwas für dich, dafür sollst du etwa folgsam sein, dankbar, fleissig oder gut gelaunt. So untergraben wir auf Dauer die Bedürfnisse des Kindes und seine Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. Das meinte ich mit Verantwortung aberziehen. 

Sollen Eltern einem Kind dann alle Wünsche erfüllen?

Seine Bedürfnisse und Grenzen gut zu kennen und artikulieren zu können, bedeutet nicht, dass ich als Kind alles bekomme, was ich will. Aber ich möchte meine Wünsche äussern können und ein Gegenüber haben, das mich wahrnimmt, auch wenn die Antwort lautet: Ich sehe, das hättest du jetzt gerne, aber das gibts gerade nicht.  

Wie leben Eltern ihren Kindern vor,  was es heisst, ­Verantwortung zu ­übernehmen? 

Indem sie die Verantwortung für eigene Gefühle und Handlungen selbst tragen, statt sie abzuschieben.

Es ist leicht, die Verantwortung für Dinge zu übernehmen, die geglückt sind. Misslingt aber etwas, suchen Erwachsene oft nach Gründen, wer oder was daran schuld sein könnte: Das Essen ist angebrannt, weil der Partner mich etwas gefragt, das Telefon geklingelt, der Nachwuchs ge-stritten hat. Ich könnte stattdessen sagen: Mir ist das Essen angebrannt – ich habe mich ablenken lassen. 

Geht etwas daneben, mag mich das ärgern, aber ich muss niemand anderen dafür verantwortlich machen.

Trotzdem regt man sich auf.

Wir können schimpfen, uns ärgern. Aber bei alledem soll klar sein: Der Ärger ist meiner. Gelingt mir dies als Elternteil öfter, wird das Kind es sich abgucken und verstehen: Geht etwas daneben, mag mich das ärgern, aber ich muss niemand anderen dafür verantwortlich machen. Auch ständiges Moralisieren halte ich für problematisch.

Was meinen Sie damit?

«Ich habs dir doch gesagt!» – wie oft rutscht uns dieser Satz raus. Sei es, wenn die Prüfung misslang, weil zu wenig gelernt wurde, oder das Kind vom Baum fällt, obwohl wir doch sagten, der sei zu hoch. Ein Kind kann einfacher für Fehler und Missgeschicke einstehen, wenn wir nicht moralisieren – aus seinen Erfahrungen lernen wird es auch so.

Gehen wir über zur Gemeinschaft: Wie fördern Eltern soziale Verantwortung?

Der Mensch kommt als soziales Wesen zur Welt. Sich einzubringen, mit denen zu kooperieren, auf deren Fürsorge sie angewiesen sind – das müssen wir Kindern im Grunde nicht beibringen, sie tragen es in sich. Jedes Kind will sich als wertvoller Teil der Gemeinschaft begreifen, und Eltern haben es in der Hand, es diese Erfahrung machen zu lassen.

Wie?

Was Eltern allein tragen müssen, ist die Verantwortung für die Qualität des Familienklimas und die Beziehung zu den Kindern. Die Zuständigkeit hierfür können sie weder teilen noch delegieren, Kinder wären damit überfordert.

Eltern müssen also entscheiden, wie sie das Familienleben gestalten, was für Eltern sie sein wollen. Wenn ich glaube, dass ich meine Elternschaft dann gut erfülle, wenn ich so viel Service wie möglich anbiete, werden die Kinder kooperieren – und sich bedienen lassen.

Wir sollten vom Kind nicht erwarten, dass es unsere Aufforderung mit Freude aufnimmt. Aber wir können darauf bestehen, dass es ihr nachkommt.

Kleinkinder wollen noch mithelfen, aber schon Kindergartenkinder fangen an, sich anderweitig zu interessieren. Dann ist es wichtig, dass ich mich einklinke und sage: Ich möchte, dass du den Müll runterbringst, Geschirr spülst, was auch immer.

Darauf haben Kinder oft keine Lust.

Dann machen sie es ohne Lust. Wir sollten vom Kind nicht erwarten, dass es unsere Aufforderung mit Freude aufnimmt. Aber wir können darauf bestehen, dass es ihr nachkommt. Doch berichten mir viele Eltern, dass sogar sie selbst kaum Hausarbeiten erledigten, wenn die Kinder da seien – weil die ihre ­Aufmerksamkeit bräuchten.

Im Gespräch stellt sich oft heraus, dass die Sache nicht an den Kindern scheitert, sondern am Anspruch der Eltern nach sogenannter Qualitätszeit. Die wenigen Stunden, die man neben Job, Schule und Tagesbetreuung zusammen verbringt, sollen frei sein von Reibereien darüber, wie die Arbeit aufgeteilt wird.

Welche Folgen hat dies?

Eltern sehen sich dadurch in der Pflicht, gemeinsame Zeit «aktiv» zu verbringen, mit Dingen, die den Kindern Spass machen. Sie stecken eigene Bedürfnisse permanent zurück, statt Verantwortung dafür zu übernehmen und zu sagen: Ich brauche Ruhe, deine Hilfe – oder aber: Ich hätte Lust zu spielen, willst du auch?

So erleben Kinder ihre Eltern in einer Rolle statt als authentische Menschen. Dabei wären Auseinandersetzungen wichtig, denn Verantwortung zu übernehmen, lernen wir nicht im stillen Kämmerchen. Dafür braucht es Interaktion, Verhandlungen, Grenzen, die auch mal übertreten und neu abgesteckt werden. Dafür bietet die Familie das beste Übungsfeld.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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