Ab wann kann ein Kind Entscheidungen treffen?

Es ist wichtig, dass Kinder ihre eigenen Entscheidungen treffen – doch je nach Alter sind sie dazu kognitiv noch gar nicht in der Lage. Eltern kommt daher eine verantwortungsvolle Rolle zu.
Wir schlafen heute Nacht in unserer selbst gebauten Hütte im Wald!» Die zehnjährige Tochter und ihre Ferienfreundin packen wild entschlossen bereits Schlafsack, Isomatte und Chips zusammen. Die Eltern hadern dagegen noch mit ihrer Entscheidung. Was, wenn auch diese Nacht wieder ein Gewitter kommt? Sind die kroatischen Schlangen in der Gegend wirklich alle ungiftig? Wer sonst könnte da noch unterwegs sein? Vor allem aber auch: Was für eine tolle und mutige Idee, das muss man doch eigentlich unterstützen! Oder?
Gute Entscheidungen zu treffen, ist schon für Erwachsene eine schwierige Aufgabe. Kinder bis ins junge Erwachsenenalter hinein können das oft noch gar nicht allein. «Die dazu notwendigen kognitiven Fähigkeiten sind sehr komplex und vielfältig und nehmen erst spät in der Entwicklung Fahrt auf», sagt Claudia Roebers, Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Bern.
Für Eltern bedeutet das: Sie müssen viele Jahre lang Entscheidungen für ihre Kinder treffen – und das nicht selten gegen deren Willen. Manchmal werden sie sich auch als falsch herausstellen. Gleichzeitig gilt es aber auch, die Kinder dazu zu befähigen und dabei zu unterstützen, irgendwann einmal selbst gute Entscheidungen treffen zu können. Wie bekommt man diesen Spagat hin?
Das prospektive Gedächtnis
Claudia Roebers empfiehlt, zunächst die Tragweite der Entscheidungen im Blick zu haben. «Entscheidungen, die in die Zukunft reichen, können Kinder bis zu einem Alter von zehn bis zwölf Jahren unter anderem deshalb nicht alleine treffen, weil ihr prospektives Gedächtnis noch nicht weit genug entwickelt ist.» Das heisst, dass ihnen die Fähigkeit fehlt, sich zu überlegen und abzuwägen, welche Auswirkungen eine Entscheidung in einem oder zehn Jahren haben könnte, weil sie vor allem im Hier und Jetzt leben.

Fragt man sie also, auf welche weiterführende Schule sie gehen möchten, ist für sie eine logische Antwort: «Ich will auf die Schule, weil Andrina auch dorthin geht!» Dass Andrina in zwei Jahren vielleicht gar keine Freundin mehr sein wird, können Kinder in diesem Alter noch nicht überblicken. Ähnlich sieht es aus, wenn man Kinder selbst entscheiden lässt, wie lange sie täglich am Handy hocken. Die Auswirkungen auf Gehirn oder Psyche können sie nicht begreifen, sie sehen nur den direkten Nutzen, den diese Zeit für sie bringt.
Entscheidungen transparent erklären
Bei Entscheidungen, die in die Zukunft reichen, ist deshalb die Perspektive der Eltern wichtig. «Bis zum Teenageralter sollten Eltern klarmachen, dass sie zwar die Meinung des Kindes berücksichtigen, aber dennoch die Kompetenz und die Hoheit über solche Entscheidungen haben», sagt Claudia Roebers. Dazu gehöre dann aber auch, dem Kind altersgerecht und transparent zu erklären, warum man sich als Eltern so und nicht anders entscheidet und welche Entscheidungshilfen man nutzt.
Dabei werden auch Erwachsene merken, dass ihnen Entscheidungen umso schwerer fallen, je längerfristig die Konsequenzen sind – auch darüber kann man offen mit Kindern reden. «Ob es einem Kind an einer neuen Schule gefällt, hängt stark davon ab, welche Mitschüler und Lehrerinnen es bekommt und wie sich seine Interessen und Fähigkeiten entwickeln. All das können auch Eltern nicht absehen», sagt Daniela Galashan, Neurowissenschaftlerin und Erziehungscoach aus Stuttgart.
Erfahrungsschatz aufbauen
Um eine Entscheidung treffen zu können, braucht man im Kopf ein Bild von dem, was einen erwartet. «Legt man einem Kindergartenkind ein rotes und ein grünes T-Shirt hin, kann es gut zwischen diesen beiden auswählen, denn es sieht, worum es geht», sagt Maya Risch, Familienberaterin aus Zürich. Fragt man es dagegen, ob es Lust auf einen Museumsbesuch hat, ist die Entscheidung sehr abstrakt und überfordert seine kognitiven Fähigkeiten, wenn es noch niemals dort war. Auch Erwachsene merken, dass ihnen Entscheidungen schwerer fallen, je mehr Neues sie mit sich bringen. Sie profitieren aber von ihrem grösseren Erfahrungsschatz.
Kinder treffen später nicht die besseren Entscheidungen, nur weil sie früh möglichst viel mitbestimmen durften.
Daniela Galashan, Neurowissenschaftlerin
«Wir generalisieren dann von bereits gelernten Zusammenhängen aus der Umwelt», sagt die Psychologieprofessorin und Psychotherapeutin Andrea Reiter, die an der Universität Würzburg zum Thema Entscheidungsprozesse forscht. Ähnliche Entscheidungen und Verhaltensweisen, die in der Vergangenheit zu guten Resultaten geführt haben, werden wiederholt.
Wer Freude daran hatte, Klavier zu lernen, entscheidet sich vermutlich eher dazu, ein weiteres Instrument zu lernen, als jemand, der sich damit gequält hat. Ein Kind wiederum, welches noch nie Musikunterricht hatte, weiss gar nicht, was es dort erwartet und wie es mit dem regelmässigen Üben zurechtkommt.
Entscheidungen ohne negativen Folgen
Die wichtigste Aufgabe von Eltern ist es, ihre Kinder dabei zu unterstützen, einen eigenen Erfahrungsschatz an Entscheidungen aufzubauen. Aber eben langsam und dem Alter entsprechend. «Kinder treffen später nicht die besseren Entscheidungen, nur weil sie zu Hause früh möglichst viel mitbestimmen durften», sagt Daniela Galashan. «Jede Entscheidung kostet uns ja Ressourcen und nimmt uns Energie.» Weshalb es reicht, ein Kindergartenkind morgens zu fragen, ob es ein rotes oder grünes T-Shirt anziehen möchte.
An einem anderen Tag kann es dann entscheiden, ob ein Apfel oder eine Banane in die Znünibox kommt. Je weniger Wahlmöglichkeiten ein Kind hat, umso leichter fällt die Entscheidung. Denn viel Auswahl bedeutet immer auch, dass man viele Dinge ausschliessen muss. Was wiederum das Gefühl zurücklässt, etwas verpassen zu können. Auch können sich Eltern anfangs auf solche Entscheidungen bei den Kindern beschränken, die keine negativen Folgen haben.
Übertragen von Verantwortung
Ab dem Primarschulalter gehört es Maya Risch zufolge dann aber auch dazu, persönliche Verantwortung für eine Entscheidung zu übernehmen – und damit möglicherweise auch die negativen Konsequenzen zu tragen. «Eltern möchten ihre Kinder verständlicherweise möglichst lange vor unangenehmen Erfahrungen bewahren, aber es ist wichtig, dass man sie diese selbst machen lässt», sagt Maya Risch.
Erwachsene wissen nur deshalb, wie unangenehm sich kalte Hände beim Fahrradfahren anfühlen, weil sie schon mal ohne Handschuhe einen Lenker gehalten haben – und entscheiden sich deshalb später dafür, welche anzuziehen. Dass einem mit fünf Glacen im Bauch schlecht wird, muss man vielleicht auch mal gespürt haben. «Auch selbst zu überlegen, wofür man sein Taschengeld ausgibt, und zu merken, dass es dann auch weg ist und wie lange man wieder sparen muss, sind gute Übungen zum Entscheiden», findet Maya Risch.
«Was würdest du anders machen?»
Eltern können solche Situationen aber nutzen, um ihren Kindern transparent aufzuzeigen, welche Faktoren sie selbst berücksichtigen, wenn sie beispielsweise ein Ferienziel aussuchen – und dass es dabei eben nicht nur um den schönsten Strand geht, sondern auch darum, was die Reise kostet und dass das Geld auch noch für die Autoreparatur reichen muss. «So sehen Kinder, welche Dimensionen eine Entscheidung beinhalten kann», sagt Maya Risch.
Fast noch wichtiger, als dem Kind Schritt für Schritt Entscheidungen selbst zu überlassen, findet Claudia Roebers es, hinterher gemeinsam über das Ergebnis zu reflektieren. «Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, würdest du es dann wieder genauso machen?», «Was hat gut geklappt?», «Wo gab es Schwierigkeiten?», «Was würdest du anders machen?» sind mögliche Fragen, die Eltern ihren Kindern in diesem Zusammenhang stellen können. «Solche Gespräche bringen wirklich viel, damit man zukünftig gute Entscheidungen trifft und auch lernt, zu seinen Entscheidungen zu stehen», sagt Claudia Roebers.
Die Pubertät ist ein guter Moment, um den Kindern die Angst vor falschen Entscheidungen zu nehmen.
Maya Risch, Familienberaterin
Ein Auslandsaufenthalt? Dieser Ferienjob? Welcher Beruf? Ab dem Teenageralter werden Entscheidungen immer komplexer. Um sie treffen zu können, müssten irrelevante Informationen aussortiert und die relevanten Für-und-Wider-Argumente aus verschiedenen Informationsquellen integriert, gegeneinander abgewogen und die richtigen Schlüsse gezogen werden, erklärt Andrea Reiter.
«Die Entwicklungspsychologie hat gezeigt, dass sich diese kognitiven Grundfertigkeiten von der Kindheit bis in die Jugend immer weiter verbessern, was auch zu besseren Entscheidungsfähigkeiten führt», so Reiter. Eltern können sich in diesem Alter vor allem als Gesprächspartner anbieten. Selbst Erwachsene treffen weitreichende Entscheidungen wie etwa einen beruflichen Wechsel meist nach einem Austausch mit anderen.
Keine Entscheidung ist für immer
«Es ist auch ein guter Zeitpunkt, um den Kindern die Angst vor falschen Entscheidungen zu nehmen», findet Maya Risch. Manchmal gebe es eben keine optimale Entscheidung, manchmal tue sich erst später eine weitere Möglichkeit auf oder Dinge entwickelten sich doch anders, als man es erwartet hat.
«Die wenigsten Entscheidungen sind ja unwiderruflich», sagt auch Daniela Galashan. Eltern könnten ihrem Kind deshalb auch die Sicherheit vermitteln, dass notfalls auch ein anderer Weg eingeschlagen werden kann – und dass sie das Kind so oder so bestmöglich unterstützen.
Die Nacht in der kroatischen Wildnis hat die Tochter übrigens völlig unbeschadet und ziemlich stolz überstanden. Die Eltern beneiden sie noch heute um ihren Mut – und um eine Erfahrung, die sie nun den Eltern voraushat.