«Ich will auch mal selber was entscheiden!»
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«Ich will auch mal selber was entscheiden!»

Lesedauer: 3 Minuten

Der zwölfjährige Dennis ist verzweifelt: Seine Eltern und sein Lehrer schreiben ihm immer alles vor, dafür würde er so gerne einmal selbständig eine Entscheidung treffen. Nun wendet er sich an unsere Expertin Sarah Zanoni.

Text: Sarah Zanoni
Bild: Adobe Stock

«Frag doch mal Sarah»

Hallo Sarah
Ich habe ein riesengrosses Problem. Immer wenn ich etwas entscheiden will, sind meine Eltern und auch mein Lehrer dagegen. Zum Beispiel, ob ich mit dem Velo fahren soll oder mit dem Bus. Oder ob ich die zusätzlichen Matheaufgaben machen muss, obwohl ich alles schon total gut kann. Alle tun so, als ob sie es besser wüssten. Aber dabei weiss ich doch selbst viel besser, was gut für mich ist. Das war schon immer so. Warum darf ich nicht endlich selbst entscheiden?
Dennis, 12  

Lieber Dennis
Du sagst etwas ganz Wichtiges: «Ich weiss doch selbst, was gut für mich ist.» Meine Meinung ist die, dass eigentlich fast jedes Kind total gut spüren kann, was gut für es ist. Trotzdem braucht jedes Kind seine Eltern (oder enge Bezugspersonen), die für es sorgen und sich kümmern, damit sich das Kind gesund entwickeln kann. Und die meisten Kindern sind zufrieden damit, dass ihre Eltern für sie entscheiden.

Dasselbe gilt für die Schule: Die Lehrperson muss sich darum kümmern, dass eine ganze Klasse Schulkinder bestmöglich gefördert wird, um den Schulstoff und ein positives Sozialverhalten zu erlernen. Wenn die Lehrperson dabei nicht die Leitung übernehmen würde, gäbe es zu viel Chaos. Für die meisten Schülerinnen und Schüler ist das okay und sie können es akzeptieren, dass die Lehrperson entscheidet, was zu tun ist und was nicht.

Dennoch gibt es Kinder, die schon seit klein auf sehr genau wissen, was sie wollen und was nicht. Manche Erwachsene denken, diese Kinder seien störrisch, egoistisch oder schlecht erzogen. Doch das sind diese Kinder nicht. Sie haben einfach nur das Bedürfnis, selber für sich entscheiden zu dürfen. Und das tun sie deshalb, weil sie sich viele kluge Gedanken machen und merken, was gut für sie ist.  

Die ganze Familie hat Bedürfnisse

Ich bin mir sicher, dass du eines dieser Kinder bist, lieber Dennis. Und ich vermute, dass du besonders intelligent bist. Denn es braucht Klugheit, logisches Denken und viel Realitätssinn, um so jung schon klar zu sagen: «So will ich das machen!» oder «Das macht keinen Sinn, deshalb mache ich das nicht!». 

Warum lassen dich deine Eltern und deine Lehrer nicht einfach selber bestimmen? Weil es für sie um einiges komplizierter wird, wenn sie deine Meinung bei jeder Sache miteinbeziehen und akzeptieren müssten. Vielleicht hast du ja auch Geschwister, um die sich deine Eltern auch noch kümmern müssen. Dann wird es umso anspruchsvoller, wenn sich Papa und Mama jedes Mal auf die einzelnen Bedürfnisse aller Familienmitglieder einlassen sollen. 

Es braucht viel Vernunft und eine gewisse Lebenserfahrung, um eigene Entscheidungen zu treffen.

Dein Wunsch, endlich selbst entscheiden zu dürfen, wird spätestens mit deinem 18. Geburtstag erfüllt werden. Dann bist du volljährig und kannst selbst bestimmen, was du tust oder lässt. Sogar Verträge abschliessen darfst du dann selbständig. Die Konsequenzen von alldem, was du ab achtzehn machst, musst du dann natürlich ebenfalls selbst tragen. Da dies viel Vernunft und eine gewisse Lebenserfahrung braucht, ist es eben sinnvoll, dass man dafür zuerst ein bestimmtes Alter erreichen muss.  

Nun aber zu deiner aktuellen Situation, die für dich sehr unbefriedigend ist. Ich empfehle dir, mit deinen Eltern ein Gespräch zu dritt zu führen. Also nicht einfach rasch im Auto oder beim Mittagessen. Erkläre deinen Eltern, dass du darunter leidest und dich oft wie ein Kleinkind behandelt fühlst, wenn sie dir immer noch alles vorschreiben. Du bist inzwischen in die Pubertät gekommen und kannst sehr wohl unterscheiden, wo zum Beispiel ein gewisses Risiko besteht (z.B. im Regen mit dem Velo zu fahren) und wo du aber selbst abschätzen kannst, ob etwas notwendig ist oder nicht – wie etwa die zusätzlichen Matheübungen.

Bitte sie, dir für drei Monate mehr Entscheidungs-Spielraum zu geben. Definiert gemeinsam, welche Bereiche das betrifft. Beispielsweise wie du zur Schule gehst, was du anziehst, das Lernen, die Verwendung deines Taschengelds. Am besten wäre es, wenn ihr dies auf einem Blatt Papier aufschreibt. Setzt bitte auch einen Zeitpunkt in drei Monaten fest, wann ihr das alles nochmals besprechen und vielleicht neu anpassen wollt.  

Ich hoffe, dass für dich damit etwas mehr Selbstbestimmtheit (das Fremdwort heisst: Autonomie) ins Leben kommt. Nun ist es an dir, zu zeigen, dass du dafür reif genug bist und wirklich schon mehr Verantwortung für dich selbst übernehmen kannst. 

Frag doch mal Sarah

In unserer Rubrik «Frag doch mal Sarah» beantwortet Jugendcoach Sarah Zanoni Fragen von Kindern und Jugendlichen.

Hast du auch eine Frage, die du ihr gerne stellen würdest? Dann sende eine E-Mail an online@fritzundfraenzi.ch oder kontaktiere uns auf unseren Social-Media-Kanälen.

Jugencoach Sarah Zanoni

Sarah Zanoni
arbeitet seit rund 20 Jahren als Jugendcoach mit Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen. Sie hält Vorträge und Seminare rund ums Thema Kind und Jugend und hat Bücher dazu publiziert. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und lebt im Kanton Aargau. Ihre Hobbys sind ihre Hunde, Krimis, Reisen und Schreiben.

Alle Texte von Sarah Zanoni

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