Perfektionismus ist der Stress, nicht gut genug zu sein
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Vom Stress, nicht gut genug zu sein

Lesedauer: 2 Minuten

Der gesellschaftliche Druck drängt Jugendliche und Eltern immer mehr in den Perfektionismus. In den dunkelsten Stunden seines Elterseins wendet sich Kolumnist Mikael Krogerus an Gott und bittet um Erlösung.

Text: Mikael Krogerus
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Lieber Gott

Ich habe mal wieder eine Bitte an dich.

Du wirst sagen: Wer bist du, dich an mich zu wenden, wo du doch dein Leben lang so ein mieser, höchstens Möchtegern-Gläubiger warst?

Und du hast recht. Ich habe nie wirklich an dich geglaubt. Aber in den dunkelsten Stunden des Elternseins komme ich zu dir. Denn auch du bist ein Vater. Auch du kennst die knochentiefe Angst, dass wir unsere Kinder nicht mehr erreichen. Und auch die Verzweiflung, wenn wir in einer weiteren schlaflosen Nacht einsehen, dass wir ihnen tatsächlich nicht werden helfen können. Die kennst du, oder?

Ich bitte dich nicht, alles gutzumachen. Ich weiss, dass Jugendliche ihren eigenen Weg gehen müssen. Gehen werden. Ich bitte dich nur um etwas: Erlöse sie von ihrem Perfektionismus. Es ist die Wurzel allen Übels.

Du fragst warum?

Perfektionsstreben ist nicht der Versuch, etwas gut zu machen, es ist der Stress, nicht gut genug zu sein. Es ist nicht der Wunsch, sich selbst zu übertreffen, es ist die Sorge, schlechter zu sein als andere. Es ist nicht die Lust, einer Beschäftigung nachzugehen, die uns begeistert, es ist die bleierne Angst, die Erwartungen anderer zu enttäuschen. Wir Menschen, du hast das vielleicht nicht mitbekommen, Gott, handeln heute nicht mehr aus der Überzeugung, dass etwas wichtig ist, wir handeln zunehmend aus der Angst, eine Niederlage zu erleiden, beschämt zu werden, zu versagen, vom kleiner werdenden Kuchen nichts mehr abzubekommen.

Lieber Gott, zwinge uns Väter endlich, verdammt, in die Verantwortung.

Deshalb, Gott, schenke unseren Jugendlichen ein wenig Lust aufs Leben. Heile sie von ihrem Wahn, sich ständig mit anderen zu vergleichen, und von dem Schock, wenn sie feststellen werden, dass es immer jemanden gibt, der besser, schöner, beliebter ist als sie. Und hindere sie daran, in solchen Momenten ­Instagram zu öffnen, um Trost zu suchen, denn sie werden ihn dort nicht finden.

Eltern, die nach Perfektionismus streben

Und, Gott, wo wir schon mal miteinander sprechen, darf ich dich noch um etwas bitten? Heile auch uns Eltern vom Perfektionismus. Erlöse uns vom allgegenwärtigen Druck, den perfekten Geburtstag zu organisieren, das perfekte Znüni zu packen, die perfekte Schule zu finden, die perfekte Familie zu sein. Befreie uns von der Angst, dass unsere Kinder dereinst keine Jobs, keine Freunde, keine Zukunft finden werden. Nimm uns die Sorge, dass andere Eltern besser sind als wir.

Erlöse vor allem die Mütter von der Ideologie der «guten Mutter», denn sie enthält immer schon die Idee des Scheiterns und der Schuld, nicht gut genug zu sein. Und zwinge uns Väter endlich, verdammt, in die Verantwortung.

Ich weiss ehrlich gesagt nicht, wie das gehen soll, aber du, Gott, du weisst das, oder?

Amen.

Mikael Krogerus
ist Autor und Journalist. Der Finne ist Vater einer Tochter ­und eines Sohnes und lebt in Basel. Von 2013 bis 2023 war er Kolumnist für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi.

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