Sorgerecht der Eltern – Umzug zu Mama oder Papa?

Bild: Kniel Synnatzschke / Plainpicture
Serie: Wie Familie gelingt – Teil 4
Wenn die Kinder getrennt lebender Eltern zu ungefähr gleichen Teilen abwechselnd bei Vater und Mutter leben und von diesen betreut werden, sprechen Juristen von «alternierender Obhut». Welche Vorteile bietet dieses Wechselmodell? Was geschieht, wenn ein Elternteil umziehen möchte?
Jacqueline und Matthias gehen inzwischen getrennte Wege, kümmern sich aber weiterhin gemeinsam um ihre Söhne. Im Rahmen einer Trennungsvereinbarung haben sie vor Gericht Folgendes vereinbart: Jacqueline betreut die Kinder von Sonntagabend bis Mittwochabend, Matthias von Mittwochabend bis Freitagabend, an den Wochenenden wechseln sie sich ab.
Umzug eines betreuenden Elternteils?
Ein Umzug ohne ihre Kinder kommt für Jacqueline allerdings nicht infrage. Zumal ihre Kinder, mit denen sie von klein auf nur Französisch gesprochen hat, sehr gerne bei den Grosseltern und Cousins in Lausanne sind.
In Anbetracht der Entfernung zwischen ihrem Wohnort in Bern und ihrem zukünftigen Wohnort in Lausanne wäre es für Jacqueline und Matthias nicht möglich, die momentane Aufteilung der Kinderbetreuung beizubehalten, insbesondere weil Tim inzwischen in die Schule und Jonas in den Kindergarten geht. Kann Jacqueline dennoch ohne Weiteres mit den Kindern umziehen?

Die Familie ist ein System aus Menschen mit besonderen Rollen, Normen und Anforderungen. In ihr suchen wir Liebe und Abgrenzung, Nähe und Distanz, sie gibt und nimmt Kraft. Wie beeinflusst das Familienleben die Entwicklung ihrer Mitglieder? Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen prägen das Familienleben und wie bestimmen institutionelle Strukturen das Leben in Familien mit? Diesen Fragen gehen wir in einer zehnteiligen Serie nach. Die Texte entstanden in Zusammenarbeit mit dem Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Fribourg unter der Leitung von Dr. Gisela Kilde und Dr. Annette Cina.
Wer entscheidet über den Wohnort des Kindes?
Möchte ein Elternteil mit dem Kind ins Ausland ziehen, bedarf es bei gemeinsamer elterlicher Sorge der Zustimmung des anderen. Stimmt der andere Elternteil einem Umzug des Kindes nicht zu, kann der umzugswillige Elternteil sich an ein Gericht oder eine Kindesschutzbehörde (KESB) wenden, damit diese eine neue Regelung für die Betreuung des Kindes finden.
Jacqueline und Matthias üben die elterliche Sorge gemeinsam aus. Die Entfernung zwischen Lausanne und Bern beträgt mehr als 100 Kilometer. Unabhängig davon, in welchem Haushalt Jonas und Tim zukünftig leben werden, kann das momentane Betreuungsmodell damit nicht mehr aufrechterhalten werden, sodass der Umzug der Kinder von der Zustimmung von Matthias beziehungsweise dem Gericht abhängig ist.
Es wird einzeln entschieden, ob ein Umzug zustimmungsbedürftig ist.
Matthias stimmt dem Umzug der Kinder nicht zu. Er wehrt sich vehement dagegen und droht Jacqueline mit rechtlichen Schritten, da er kein Verständnis hat für Jacquelines plötzlichen Wunsch, nach Lausanne zu ziehen. Ohne Matthias, Zustimmung kann Jacqueline die Kinder nicht mit nach Lausanne nehmen. Sie hat jedoch die Möglichkeit, beim Gericht, das auch für die Scheidung zuständig ist, einen Antrag auf Bewilligung zum Wechsel des Aufenthaltsortes der Kinder zu stellen.
Während das Verfahren vor Gericht noch läuft, darf Jacqueline mit den Kindern (noch) nicht umziehen. Die Kinder sollen bis zum Entscheid durch das Gericht in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Das gilt insbesondere für den Fall, dass beide Eltern sich um die Kinder kümmern können und wollen, da die Kontinuität der Betreuungssituation grossen Einfluss auf die spätere Entscheidung des Gerichts hat.
Das Gesetz ist darauf ausgelegt, dass der umzugswillige Elternteil vorgängig auf den anderen Elternteil, respektive das Gericht oder die KESB, zugeht, um eine gemeinsame Lösung zu finden.
Bei einem Umzug ohne Zustimmung sieht das Gesetz keine eigentliche Bestrafung vor. Das Gericht wird in diesem Fall aber gegebenenfalls prüfen, ob die Zuteilung der Kinder zum anderen Elternteil sinnvoll ist.
Wird das Gericht den Umzug der Kinder genehmigen?
Wird ein Kind im Alltag mehrheitlich von einem Elternteil betreut, was heute immer noch dem Standard entspricht, geht das Bundesgericht üblicherweise davon aus, dass es dem Wohl des Kindes entspricht, weiterhin mit seinem hauptbetreuenden Elternteil zusammenzuleben. Das gilt insbesondere für jüngere Kinder, da ihre Betreuung und Erziehung möglichst konstant sein sollten.
Je älter die Kinder sind, desto eher kann der Verbleib am bisherigen Wohnort dem Kindeswohl entsprechen, weil Schule und Freundeskreis mit zunehmendem Alter wichtiger werden.
Vorausgesetzt ist jedoch auch bei älteren Kindern, dass diese Wahlmöglichkeit überhaupt besteht. Das heisst, der andere Elternteil muss fähig und gewillt sein, für eine angemessene Betreuung des Kindes zu sorgen. Das ist häufig nicht der Fall, wenn die Betreuung bisher von einem Elternteil alleine besorgt wurde, während der andere Elternteil das Kind nur jedes zweite Wochenende zu sich genommen hat.
Verhindert werden kann nur der Umzug des Kindes.
Die Ausgangslage von Jacqueline und Matthias ist gewissermassen neutral. Sie haben sich die Betreuung bisher hälftig geteilt und sind auch in Zukunft beide bereit, die Betreuung der Kinder zu übernehmen.
Wo ist das Kind besser aufgehoben?
Es schaut sich dafür alle Facetten eines konkreten Falls an, da es für Kinder einen Unterschied macht, ob sie beispielsweise die Sprache am neuen Wohnort bereits beherrschen und entsprechend problemlos die Schule besuchen können oder nicht, ob sie einen Teil ihres Umfelds am neuen Wohnort bereits kennen oder ihnen alles völlig fremd sein wird. Oder ob die Kinder in ein wirtschaftlich gesichertes Umfeld ziehen oder ihre Verhältnisse in Zukunft weniger stabil sein werden.
Ebenfalls relevant ist, welcher Elternteil die Möglichkeit hat, die Kinder persönlich zu betreuen, und wie ausgeprägt die Fähigkeit eines Elternteils ist, den persönlichen Kontakt des Kindes mit dem anderen Elternteil zu fördern. Die Motive des Elternteils, der umziehen möchte, spielen vor Gericht keine grosse Rolle. Liegen jedoch keine plausiblen Gründe für einen Umzug vor und scheint es, als wolle der Elternteil nur umziehen, um die Kinder vom anderen Teil zu entfremden, spricht dies eher für den Verbleib des Kindes am bisherigen Wohnort.
Die Kinder sollen beim Vater in Bern bleiben.
Sorgerecht der Eltern: das Wichtigste in Kürze
- Die elterliche Sorge ist das Recht und die Pflicht, für sein Kind zu entscheiden, wo es das noch nicht selbst tun kann; Teil davon ist das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen.
- Möchte ein Elternteil mit dem Kind umziehen, braucht er die Zustimmung des anderen Elternteils, wenn der neue Wohnort im Ausland liegt oder wenn der Umzug einen erheblichen Einfluss auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den Kontakt des anderen Elternteils zu den Kindern hat.
- Verweigert der andere Elternteil die Zustimmung, kann sich der umzugswillige Elternteil an das zuständige Gericht oder die Kindesschutzbehörde wenden, um eine Neuregelung der Obhut und des Besuchs- und Ferienrechts zu erwirken.
- Der Umzug mit dem Elternteil entspricht vermutungsweise dem Kindeswohl, wenn die umzugswillige Person bisher für die Betreuung zuständig war und der andere Elternteil lediglich zwei Mal im Monat ein Besuchsrecht am Wochenende wahrgenommen hat.
Zur Autorin:
Die Serie «Wie Familie gelingt»in der Übersicht:
TEIL 2 Eltern sein – Paar bleiben
TEIL 3 Vater, Mutter, Eltern sein
TEIL 4 Sorgerecht der Eltern
TEIL 5 Geschwister – die längste Beziehung des Lebens
TEIL 6 Adoption
TEIL 7 Staat und Familie
TEIL 8 Familienmodelle
TEIL 9 Wurzeln und Flügel
TEIL 10 Kontaktrecht