Neue Familienmodelle: Und wie geht es den Kindern?
Heute wachsen Kinder in einer Vielzahl an Familienformen auf: Patchworkfamilien, Einelternfamilien, gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern, Pflegefamilien und Adoptivfamilien. Worauf kommt es an, damit Kinder sich in ihren Familien gut entwickeln können? Teil 8 unserer Serie «Wie Familie gelingt».
Vater, Mutter, Kind(er) – lange Zeit schien es selbstverständlich, in welcher Familienform Kinder aufwachsen. Und heute noch gilt das System der Erstfamilie als dasjenige, an dem sich Politik und Gesellschaft orientieren. Es scheint das natürlichste, stabilste und «normalste».
Dabei waren die Formen des Zusammenlebens schon immer sehr vielfältig und das vermeintlich stabile Bild der Familie schon früher von anderen Familienformen durchdrungen. Oft geht auch vergessen, dass die «traditionelle» Familie in der Menschheitsgeschichte ein relativ neues Modell darstellt, das sich als Norm erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts etablieren konnte.
Was als normal definiert wird, ist relativ und veränderlich.
Man sollte sich bewusst sein: Als normal wird jeweils definiert, was die Mehrzahl der Menschen in einer Gesellschaft tut oder lässt. Normal ist daher relativ und veränderlich. Ein Familienmodell ist eine Beschreibung der Zusammensetzung einer Familie und deren gemeinsamen Lebens. Es sagt jedoch wenig über die Qualität des gelebten Zusammenseins aus.
Wer zur Familie gehört, ist subjektiv
Aus welchen Personen eine Familie besteht und in welcher Beziehung diese zueinander stehen, kann ganz unterschiedlich definiert werden. Während das biologische Familienmodell alle Personen zur Familie zählt, die durch Blutsverwandtschaft verbunden sind, wird in psychologischen Modellen Familie dadurch charakterisiert, dass sich die einzelnen Mitglieder einander zugehörig und untereinander stark verbunden fühlen. Geht es einem Mitglied der Familie schlecht oder ist ihm etwas besonders gut gelungen, sind auch die anderen davon betroffen und fühlen mit.
Untereinander besteht ein besonderes Gefühl von Nähe und Intimität. In der Regel leben die Mitglieder miteinander, teilen Erlebnisse, erleben Gemeinsamkeit und spüren ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Damit ist eine Familie in der Regel auf Dauer und Beständigkeit ausgelegt. Das subjektive Erleben der Mitglieder ist das wesentliche Kriterium der Familie.
Im psychologischen Sinne lässt das Konstrukt Familie daher verschiedene Formen nebeneinander stehen: Wer einer Familie zugehört, definieren die einzelnen Familienmitglieder selbst. Familie ist damit unabhängig von Blutsverwandtschaft, Trauschein oder auch – in manchen Fällen – dem Führen eines gemeinsamen Haushalts.
Nicht selten führt das unterschiedliche Empfinden, wer zur Familie gehört und wer nicht, zu Differenzen.
Die Frage, wen wir zu unserer Familie zählen, hat Auswirkungen auf unser Verhalten: Wir möchten Kontakt haben zu unserer Familie. Wir möchten uns mit dieser verbunden fühlen. Zu Familienfesten werden beispielsweise die Menschen eingeladen, die subjektiv dazugehören.
Damit wird jedoch auch deutlich: Wer zur Familie gehört, kann von den unterschiedlichen Mitgliedern der Familie unterschiedlich interpretiert werden. Nicht selten führt das unterschiedliche Empfinden, wer dazugehört und wer nicht, zu Differenzen. Gehört der neue Lebenspartner von Mama nun auch zur Familie oder (noch) nicht? Und die neuen Halbgeschwister?
Eltern sein in einer alternativen Familienform
Es gibt verschiedene Gründe, warum alternative Familienmodelle entstehen und Familien nicht dem traditionellen «Idealbild» einer Familie entsprechen. Nicht immer sind diese alternativen Modelle frei gewählt und entsprechen dem Wunschbild der Familie selbst. Wir müssen uns bewusst sein: Idealvorstellungen prägen und beeinflussen unser Bewusstsein und unser Verhalten. Schuldgefühle und Unsicherheit sind nicht selten die Folge. Doch helfen diese nicht weiter.
Kinder benötigen positive, unterstützende, liebevolle und stabile Beziehungen zu Erwachsenen.
Wie die verschiedenen Familienmodelle auch entstanden sind und wie sie gelebt werden: Die Fragen und Bedürfnisse der Kinder, die in diesen Familien aufwachsen, bleiben an sich dieselben. Die Forschungsergebnisse sind diesbezüglich eindeutig: Kinder benötigen positive, unterstützende, liebevolle und stabile Beziehungen zu Erwachsenen, die Mut zur Erziehung haben und Kindern und Jugendlichen helfen, ihren Weg gehen zu können. Nicht hilfreich hingegen sind Stigmatisierung und Vorurteile.
Wie entsteht eine Familie?
Am häufigsten sind Veränderungen in Familienmodellen die Folge von Scheidungen und Trennungen. Diese Veränderungen in Lebensläufen zwingen alle Familienmitglieder, sich an neue Situationen anzupassen. Und es braucht Zeit, damit sich alle Familienmitglieder finden und neu definieren können.
Wenn jemand aus der Familie austritt oder jemand Neues in eine Familie tritt, ist dies nicht immer einfach. Neue Partner sind von den Eltern gewählt, nicht von den Kindern. Diese nehmen sie nicht selten als Bedrohung wahr: Nimmt mir die neue Person meine Mama oder meinen Papa weg? Bin ich meiner Mama und meinem Papa noch wichtig? Dies sind normale Fragen, da Veränderungen in Familiengefügen immer auch Unsicherheiten mit sich bringen.
Das Entwickeln des Gefühls von Sicherheit braucht Zeit und Geduld. Sicherheit gewinnen wir nur durch Erfahrungen: Sind diese positiv und stabil, kann Vertrauen entstehen. Die alltäglichen Erfahrungen zeigen Kindern, wer für sie Verantwortung übernimmt, für sie da ist, wer sie unterstützt und respektiert.
Kinder möchten, dass sich die Erwachsenen, die sie lieben, verstehen. Nichts ist für Kinder so stark verunsichernd wie Eltern, die zum Beispiel ständig miteinander in Konflikt geraten. Eltern, die nicht miteinander reden, oder Eltern, die einander nicht mehr zuhören und verstehen können.
So vermeiden Sie Loyalitätskonflikte
Kinder haben ein sehr feines Gespür dafür, was Eltern empfinden. Dies müssen sie auch, denn sie sind von den Eltern abhängig. Sie müssen einschätzen können, was passiert, wenn Mama oder Papa ein gewisses Gefühl haben. Und Kinder wissen auch deutlich, wie Eltern mit ihren Gefühlen umgehen können: Kann Papa mit der Trauer umgehen? Ist Mama verletzt, wenn ihr erzählt wird, wie toll es bei Papa ist?
Nicht selten übernehmen Kinder die Verantwortung dafür, wie es den Eltern geht. Sie möchten die Eltern schützen. Und sich selber auch vor Ohnmacht, Selbstvorwürfen und ambivalenten Gefühlen, mit denen sie schwierig umgehen können. In ihrem Verhalten versuchen sie, die Spannungen zu vermindern. Ein Rückzug oder nicht mehr ausdrücken, was es denkt und fühlt, sind Zeichen dafür, dass ein Kind sich schützt.
Kinder sollen nicht zwischen die Fronten geraten.
Wenn Kinder das Gefühl bekommen, über ein Elternteil urteilen und eine Position beziehen zu müssen, entstehen Loyalitätskonflikte. Die Ursachen für Loyalitätskonflikte liegen bei den Erwachsenen. Diese tragen auch die Verantwortung dafür, dass das Kind nicht zwischen die Fronten gerät. Sie müssen ihm signalisieren und zugestehen, dass es seine persönlichen Beziehungen zu allen für es wichtigen Familienmitgliedern, zu beiden Elternteilen, Grosseltern und anderen Personen, die aus Sicht des Kindes dazugehören, pflegen darf.
Kinder dürfen eigene Gefühle haben. Sie dürfen eigene Urteile bilden. Diese müssen nicht immer von den Eltern geteilt werden. Das Sprechen darüber, wie es mir als Mutter oder Vater geht, ist wichtig, damit Kinder die oftmals unklaren Signale einordnen können. Ebenso wichtig ist es, dass die Eltern ausdrücken, dass es nicht am Kind ist, sie zu beschützen oder vor Schmerz zu bewahren.
Lernen, mit den eigenen Gefühlen umzugehen
Auch wenn es manchmal weht tut, ist es notwendig, dem Kind immer wieder zu signalisieren, dass man selber mit seinen Gefühlen umgehen kann und wird. Das gelingt nicht allen Erwachsenen gleich gut. Nicht alle Gefühle sind schön. Viele schmerzen und tun weh. Und doch haben diese Gefühle eine Bedeutung. Sie zeigen uns an, was wir benötigen, was wir allenfalls verloren haben und was uns wichtig ist.
Dies anzunehmen, ist ein wichtiger Schritt, um einordnen und Wege finden zu können, wie wir unser Gleichgewicht wieder aufbauen können. Wenn der Mensch im emotionalen Gleichgewicht ist, sich spürt und annehmen kann, mit all seinen Gefühlen und Gedanken, wird er wieder offen für das, was ausserhalb von ihm geschieht. Offen für die Mitmenschen, das Leben und auch den verlorenen oder verlassenen Partner. Und damit auch gelassener für den Umgang der Kinder mit dem Menschen, der uns vermeintlich Leid angetan hat. Den das Kind jedoch liebt, als einen Teil seiner Familie wahrnimmt und erleben möchte.
Kinder möchten normal sein
In einem gewissen Lebensalter wird Kindern bewusst, dass sie vielleicht nicht so aufwachsen wie ihre Kollegen und Freunde. Sie beginnen, Fragen zu stellen, und möchten wissen, warum es bei ihnen anders ist als bei anderen. Wie die Lebenssituation auch aussieht: Das Kind sollte ehrliche Antworten darüber erhalten, warum es in einem Lebenskonzept aufwächst, das sich von anderen unterscheidet. Das Kind muss nicht alle Details kennen, doch darf es verstehen, warum eine Beziehung abgebrochen wurde, warum es einen Elternteil oder sogar beide nicht kennt. Und dabei darf es spüren, dass es geliebt und beschützt wird, so wie es ist.
Entscheidend ist, ob sich das Kind geborgen und gut versorgt fühlt, unabhängig von der Familienform, in der es aufwächst. Spürt es ein liebevolles Miteinander? Darf es sich gemäss seinen Anlagen und Interessen entwickeln und seine Begabungen entdecken? Können Eltern diese Fragen bejahen, so machen sie – egal welche Familienform gelebt wird – vieles richtig.
- Das Gefühl, einer Familie zuzugehören, gibt Sicherheit.
- Das Familienmodell an sich sagt wenig aus, wie es einem Kind in seiner Familie geht.
- Entscheidend für das Wohlergehen des Kindes sind die Erfahrungen, die es mit den Menschen macht, die es als seine Familie empfindet.
- Kinder benötigen positive und stabile Bindungen zu Bezugspersonen, die sie auf ihrem Weg ins Erwachsenenalter begleiten.
- Ein Kind muss Kontakte und Beziehung zu den Menschen pflegen dürfen, die ihm wichtig sind und zu denen es sich zugehörig fühlt.