Deshalb streiten Kinder alle 20 Minuten

Der Nachwuchs streitet gerne und oft. Wie sollen Eltern mit den kleinen Kampfhähnen umgehen? Wie viel Streit ist normal? Und wann ist ein Eingreifen angebracht?
Du Dummkopf !» – «Selber dumm!» – «Das ist mein Lego!» – «Nein, meins!» – (Theatralisch aufheulend) «Aua!». Türeknallen. «Ja, so gemein!»
Ein Szenario, das Eltern zur Genüge kennen. Kinder streiten. Oft. Sehr oft. Verwandeln in Sekunden ein schönes Miteinander in eine erbitterte Nahkampfzone. Geraten sich über Kleinigkeiten in die Haare – wegen des Spielzeugs, das die Schwester nicht herausrücken will, wegen des letzten, ja allerletzten Gummibärchens, das sich der Bruder geschnappt hat.
Ist es normal, dass meine Kinder ständig streiten? Das fragen sich so manche Eltern. Mache ich als Erziehungsberechtigte(r) etwas falsch? Wie soll man auf kindliche Streitigkeiten reagieren? Warum streiten Kinder eigentlich so oft?
Streit ist ein Lebenselixier
«Streiten ist völlig normal», sagt Sarah Zanoni, Pädagogin und Coach aus Aarau. «Gemäss Studien streiten Kinder im Schnitt alle 20 Minuten und trainieren dabei wichtige Fähigkeiten fürs Leben, zum Beispiel, Kompromisse zu finden.»
Je jünger die Kinder, desto öfter wird gestritten. «In Kita- und Kindergartengruppen sind Konflikte an der Tagesordnung», schreibt die Verhaltensbiologin Gabriele Haug-Schnabel in ihrem Buch «Grundlagen der Entwicklungsarbeit». Sie beobachtete eine grosse Gruppe von Sechsjährigen über fünf Stunden und konstatierte rund 400 Streitereien. Meist wegen Kleinigkeiten, die in weniger als einer Minute auch schon wieder vergessen waren.
Streiten ist der beste Weg für Kinder, ihre Persönlichkeit kennenzulernen.
Kinder streiten also, weil sie streiten müssen. Es ist für sie eine Art Lebenselixier, ein Training auf dem Erkenntnisweg zur eigenen Persönlichkeit. Fachleute gewinnen Konflikten durchaus Positives ab. «Streit ist eine sehr wertvolle Quelle für das Selbstwertgefühl und die sozialen Kompetenzen des Kindes», sagt etwa der dänische Familientherapeut Jesper Juul.
Auch Sarah Zanoni ist überzeugt, dass Kinder beim Streiten «sehr viel und sehr viel Wichtiges» fürs spätere Leben lernen. «Zum Beispiel das Lösen von Konflikten – Kompromisse schliessen, teilen, tauschen oder warten können, bis man selber an der Reihe ist. Es geht dabei fast immer darum, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und anzumelden. Das ist fürs spätere Leben wichtig.»
Natürlich kommt es auch im Kindergarten zu Streit, schliesslich müssen dort 20 und mehr Kinder miteinander auskommen. Es gibt also viele Situationen, in denen das vier- oder fünfjährige Kind seine Bedürfnisse zurückstellen muss. Warum darf Tobias in die Werkstatt und ich muss warten? Warum stören die Jungen die Mädchen in der Puppenecke, und warum hat mich Anna nicht zu ihrer Party eingeladen? Das geht nicht ohne Streit.
Disharmonie im Kindergarten?
Um im Kindergarten ihren Platz zu erhalten, müssen sich die Kinder in einer grossen Gruppe behaupten. Dabei werden sie sich das eine Mal durchsetzen, das andere Mal wiederum zurücknehmen. Konfliktsituationen eröffnen den Kindern die Möglichkeit, zu lernen, wie sie Bedürfnisse und Wünsche formulieren und sich Anerkennung verschaffen können. Jedes Kind macht im Streit die Erfahrung, dass es gewinnen oder verlieren kann, und es spürt, dass es mit seinem Verhalten eine Wirkung erzielt.
Dass es dabei laut wird und manchmal auch grob, kann stressig sein. «Es ist für Eltern schwierig, Disharmonien zwischen ihren Kindern auszuhalten», sagt Sarah Zanoni. Vor allem, wenn diese ständig stattfänden. «Ausserdem befürchten Eltern, die Kinder könnten sich körperlich und seelisch verletzen.» Auch der Lärm, der meist mit Streit einhergeht, kann Mühe machen. Andere wiederum schätzen Harmonie sehr hoch ein und sehen im Streit etwas Negatives.
«Den Umgang mit Auseinandersetzungen lernen Kinder durch Kompromisse, die sie selbst gefunden haben.»
Margerite Blank-Mathieu, deutsche Erziehungswissenschaftlerin und Fachbuchautorin.
«Viele Erwachsene meinen ja, es ein sei erstrebenswertes Ziel, Kinderstreit möglichst zu vermeiden oder gänzlich zu verhindern», sagt Margerite Blank-Mathieu, deutsche Erziehungswissenschaftlerin und Fachbuchautorin. «Nur wer übt, sich mit anderen auseinanderzusetzen, kann sich in sie hineinversetzen. Den richtigen Umgang mit Auseinandersetzungen lernen Kinder erst durch Kompromisse, die sie selbst gefunden haben.»
Manchmal nehmen Erwachsene eine Situation auch als Streit wahr, die gar keiner ist. Oft handle es sich nur um ein Kräftemessen unter Kindern, so Blank-Mathieu. Es könne sich um ein Streitgespräch handeln, in dem Kinder versuchen, einander zu übertrumpfen. «‹Mein Bruder hat …›, so fängt es vielleicht an, und das andere Kind hat einen Cousin, der noch stärker, einen Onkel, der noch weiter gereist ist, ein Erlebnis, das noch schrecklicher war, vorzuweisen», sagt Blank-Mathieu.
Wie du mir, so ich dir!
Im Alltag geben vor allem drei Dinge Anlass zu Streitigkeiten:
- Erstens die Besitzansprüche: Diese machen Kinder dann geltend, wenn sie etwas für sich haben wollen.
- Zweitens führt die Maxime «Wie du mir, so ich dir» zu Konflikten. Die Forschung nennt dies die «Moral der strikten Gegenseitigkeit»: Man tut genau das, was der oder die andere auch getan hat, die Handlungsweisen werden vergolten. Auch verbale Streitigkeiten folgen diesem Schema, Schimpfwörter werden wiederholt und Behauptungen mit Gegenbehauptungen abgegolten.
- Drittens kommt es dabei nicht selten zu Handgreiflichkeiten. Auch diese haben laut Blank-Mathieu einen Grund: Kindergartenkindern ist es noch nicht möglich, diese Behauptungsstrategie durch andere, beispielsweise verbale Mittel abzustützen. Denn ihre Frustrationstoleranz und Impulskontrolle befindet sich erst im Aufbau.
«Friede mache» – Wie geht das?
Wer einmal ein Kind gefragt hat, wie es einen Streit auflösen würde, kennt vielleicht die Antwort, die sehr pragmatisch ausfällt: «Höremer uuf» oder «Machemer Friede». Da Streit und Hauen für viele Kinder identisch sind, ist das Aufhören zu hauen gleichzeitig das Ende des Streits und das wiederum identisch mit Vertragen.
Manche Kinder bekräftigen das durch gewisse sprachliche Formeln wie: «Wollen wir uns wieder vertragen?» Damit wird klar, dass für die Beendigung des Streits das Aussprechen einer Formel genügt. Manchmal wird es mit einem Handschlag bekräftigt. Kinder regeln das also ganz anders als Erwachsene, die eher der Meinung sind, dass sich der für den Streit Verantwortliche zu seiner Schuld bekennen muss, dies mit einer gewissen Glaubwürdigkeit vorträgt und den anderen um Entschuldigung bittet.
Vielleicht fällt es uns Eltern auch schwer, den Zoff im Kinderzimmer zu ertragen, weil wir ein anderes Freundschaftskonzept haben. Oder das eigene Unbehagen angesichts kindlicher Konflikte rührt daher, dass es uns schwerfällt, uns einzugestehen, dass es daheim nicht immer friedlich zu- und hergeht. Sich über Kinderstreit zu nerven, hat also immer auch etwas mit sich selbst zu tun. Eltern können sich indes fragen: Möchte ich vor allem, dass Ruhe ist im Kinderzimmer? Möchte ich das einzelne Kind stützen oder schützen? Oder möchte ich, dass die Kinder lernen, Konflikte konstruktiv zu lösen?
Wann sollen Eltern einschreiten?
Auch wenn Kinder immer wieder streiten, heisst das nicht, dass sie ihre Konflikte nicht selbst lösen können. Denn für Aussenstehende ist es nicht ganz einfach, zu entscheiden, ob es sich bereits um einen Streit handelt, der zu eskalieren droht, oder noch um harmloses kindliches Kräftemessen. Hinzu kommt, dass Eltern meist miserable Richter sind: «Den ‹Schuldigen› des Streits herauszufinden, ist oft unmöglich und bringt nur Frust», sagt Sarah Zanoni. In manchen pädagogischen Richtungen wird sogar gefordert, dass sich Eltern überhaupt nicht ins Geschehen einmischen.
«Es ist nicht falsch, als Eltern zuerst mal abzuwarten und zu beobachten», meint auch Sarah Zanoni. Einschreiten solle man aber, «wenn eines der Kinder körperlich oder psychisch deutlich unterlegen ist und Verletzungsgefahr herrscht». Legitim sei es auch zu reagieren, wenn es einem zu laut sei.
Eine andere Möglichkeit ist die örtliche Trennung der Kinder, eine Art Time-out. «Dieses fördert die Fähigkeit, wieder ‹runterzukommen›, im Fachjargon ‹Selbstregulation› genannt», erklärt Sarah Zanoni. Wer möchte, dass die Kinder dauerhaft weniger streiten, sollte mit ihnen zu einem ruhigen Zeitpunkt das Thema diskutieren. «Man darf seinen Kindern ruhig sagen, warum man als Eltern dieses ständige Gezicke und diese Kämpfe nicht mehr haben möchte.»
Das Ampel- und Bonussystem stellen wirksame Hilfsmittel dar.
Als wirksam hat sich laut Zanoni das Ampelsystem erwiesen: Wer merkt, dass er oder sie in den orangen oder roten Bereich kommt, soll eine erwachsene Person informieren, um eine Lösung zu finden. Auch gut ist das Bonussystem: «Wer einen Konflikt ruhig löst oder Provokationen ignoriert, erhält einen Belohnungspunkt. Mehrere Punkte lassen sich in eine Aktivität oder ein Geschenk eintauschen.»
Ein bisschen aber ist Streiten auch Charaktersache. «Gerade die sozial sehr aktiven Kinder sind häufiger als andere in Streitereien verwickelt», sagt die Pädagogin Mechthild Dörfler, die für das Deutsche Jugendinstitut in München unlängst eine Beobachtungsstudie durchgeführt hat. Aber auch hier gelte: Das «Wie» des Streitens ist entscheidend und nicht wie oft oder wie laut Kinder streiten.
- Innere und äussere Ruhe bewahren
- Beobachten und erst einschreiten, wenn es kritisch wird
- Wirds zu laut, gefährlich oder ungerecht: Kinder für kurze Zeit (15 Min.) räumlich trennen
- Loben, loben, loben: Positive Verstärker nützen mehr als Kritik. Deshalb jeden Schritt wertschätzen, wenn ein Kind lernt, seine Bedürfnisse angemessen zu formulieren und mit Frust umzugehen
- Für Langzeitwirkung: mit Kindern Abmachungen treffen
Psychologin Sarah Zanoni klärt auf: Deshalb streiten Geschwister so oft
Psychologin Sarah Zanoni erklärt, warum im Geschwisterstreit oft das ältere den Kürzeren zieht, dass Buben anders streiten als Mädchen und wie wichtig die Rolle der Erwachsenen ist.

Büchertipps:
- Sozio-emotionale Entwicklung im Kindesalter, Dokument der Erziehungsdirektion Bern: www.erz.be.ch,Erziehungsberatung, Stichwort: Praxisforschung Stichwort: Schriften, Sozio-emotionale Entwicklung (Band 11)
- Bildung für starke Eltern und starke Kinder: Übersicht über diverse Kurse und Vorträge zu Erziehungsfragen: www.elternbildung.ch
- Projekt zur Begleitung von Kindergarten und Elternhaus: www.instep-online.ch
- Starke Kinder, Förderung der sozialen Kompetenzen zur Prävention von Aggression: Forschungs- und Entwicklungsprojekt des Bundes, Hrsg. Fachhochschule Nordwestschweiz: Eltern und Schule stärken Kinder: www.esski.ch
- Übersicht über die Frühförderungsprogramme bei Entwicklungsverzögerungen: www.stiftungnetz.ch