«Du gehst jetzt raus, bis du dich wieder beruhigt hast»
Oft sind Kinder so gefangen in ihrer Wut, dass sie andere mit ihren Ausrastern ängstigen. Viele Eltern und Lehrpersonen verordnen dem tobenden Kind dann eine «Auszeit». Dabei wäre es förderlicher, sich in das Kind hineinzufühlen und ihm zu helfen, seine Wut in Worte zu fassen.
Das Wichtigste zum Thema
Immer wieder erleben Eltern und Lehrpersonen Situationen, in denen Kinder und Jugendliche aus Sicht der Erwachsenen «bei Kleinigkeiten in die Luft gehen und ausrasten» und «überhaupt nicht mit Frust umgehen können». Und immer wieder wird in solchen Situationen ein einfaches Erziehungsmittel propagiert: die Auszeit (Time-out). Doch: Lernen Kinder, mit ihren Gefühlen umzugehen, wenn wir sie damit alleine lassen oder diese bewusst ignorieren?
Stefanie Rietzler, Psychologin und Autorin des Artikels, hat folgenden Tipp:
- Hilfreicher als eine Auszeit für Kinder ist ein Mensch, der sie bei der Gefühlsregulation begleitet. Das braucht Zeit, ist anstrengend und gerade in der Schule schwierig umzusetzen – aber es lohnt sich!
Wie Eltern und Lehrpersonen Kinder und Jugendliche konkret dabei begleiten können, besser mit ihren negativen Gefühlen im Familien- und Schulalltag umzugehen, erfahren Sie im vollständigen Artikel.
Die Augen des Mädchens verengen sich zu Schlitzen. «Wenn du mir noch einmal so eine schwierige Aufgabe gibst … dann … dann!» Mit einem Knall schmettert sie ihr Wasserglas auf die Tischplatte. Die Drittklässlerin ist zu einer Diagnostiksitzung bei mir. Noch vor einer Viertelstunde haben wir vergnügt Uno gespielt, nun scheint die Luft zu knistern. «Dir wird gerade alles zu viel», sage ich. Tränen steigen ihr in die Augen. «ICH. HASSE. AUFGABEN. LÖSEN», schreit sie. Mit einem Satz springt das Mädchen auf, wischt das Material vom Tisch und stürzt sich in die Puppenecke.
Immer wieder erzählen mir Eltern und Lehrpersonen von ähnlichen Situationen, von Kindern und Jugendlichen, die bei vermeintlichen «Kleinigkeiten in die Luft gehen und ausrasten» und «überhaupt nicht mit Frust umgehen können».
Und immer wieder wird in solchen Situationen ein einfaches Erziehungsmittel propagiert: die Auszeit (Time-out).
Das Kind soll lernen, sich selbst zu beruhigen
Die Methode stammt aus der Verhaltenstherapie: Indem man sich dem Kind nicht mehr zuwendet, es systematisch ignoriert beziehungsweise in einen anderen Raum schickt, soll es unter anderem einsehen, dass ihm sein Wutausbruch «nichts bringt».
Mit der Zeit sollen Kinder so lernen, sich selbst zu beruhigen und sich «angemessener» zu benehmen.
Lernen Kinder, mit ihren Gefühlen umzugehen, wenn wir sie damit alleine lassen oder diese bewusst ignorieren? Wendy Middlemiss, Psychologin an der Universität Nordtexas, wollte es genau wissen. In einer Studie liess sie Mütter ihre Säuglinge abends zu Bett bringen.
Wut zeigt uns und unserer Umgebung an, dass jemand unsere persönlichen Grenzen übertritt oder uns an einem Ziel hindert, das uns wichtig ist.
Das Schreien wurde ignoriert. Die Babys sollten lernen, sich selbst zu beruhigen und alleine einzuschlafen. Bereits am dritten Tag hörten die Säuglinge auf zu schreien und fanden selbst in den Schlaf.
Die Forscherinnen massen aber auch das Stresshormon Cortisol im Speichel der Kinder. Dabei zeigte sich, dass die Säuglinge lediglich äusserlich ruhig wirkten, innerlich jedoch sehr gestresst waren. Der Cortisolspiegel war nicht nur vor dem Einschlafen erhöht, sondern auch noch während des Schlafens.
Dieses Ergebnis unterstreicht die These vieler Bindungsforscherinnen und -forscher: Die Säuglinge lernen nicht, sich selbst zu beruhigen. Sie lernen, dass ihnen in der Not sowieso niemand zu Hilfe kommt und sie sich nicht voll auf ihre Bezugsperson verlassen können.
Auszeiten folgen einer ähnlichen Logik: «Unerwünschte Verhaltensweisen» des Kindes sollen «gelöscht werden». Solche Programme bergen immer die Gefahr, dass wir Erwachsenen es verpassen, nach dem guten Grund für die Gefühle und das Verhalten der Kinder zu suchen.
Und dass sie zwar äusserlich zu funktionieren scheinen, das Kind aber lediglich lernt, seine Gefühle nicht mehr zu zeigen.
Wenn wir in der Kindheit dazu gebracht werden, bestimmte Gefühle zu unterdrücken, wird es schwierig. Wut zeigt uns und unserer Umgebung beispielsweise an, dass jemand unsere persönlichen Grenzen übertritt oder uns an einem Ziel hindert, das uns wichtig ist.
Wenn wir verlernen, darauf zu hören, was unsere Gefühle uns mitteilen möchten, dann:
- verharren wir eher in Situationen, die uns langfristig nicht guttun,
- verlieren wir die Energie, eigene Grenzen zu setzen und für diese einzustehen,
- entwickeln wir keine Wege, um konstruktiv mit diesen Empfindungen umzugehen.
Oft sucht sich die Wut in der Folge ihren eigenen Weg, schlägt auf den Körper (Herzleiden, Kreislaufprobleme, Verspannungen) oder entlädt sich bei Menschen, die nichts dafür können.
Eine Auszeit als Verschnaufspause, nicht als Strafe
Während man Säuglinge und Kleinkinder mit ihren Gefühlen nicht allein lassen kann, sind ältere Kinder und Jugendliche manchmal froh, wenn sie sich aus einer Situation, die sie überreizt oder überfordert, zurückziehen dürfen.
Dann kann ihnen eine Verschnaufpause guttun – aber nur, wenn sie nicht den Charakter einer Strafe, sondern einer Hilfestellung hat.
Hilfreicher als eine Auszeit für Kinder ist ein Mensch, der sie bei der Gefühlsregulation begleitet.
Ich erinnere mich an einen Lehrer, der mit einem 13-Jährigen über die Gründe für seine Aggressionen sprach und ihm den folgenden Vorschlag unterbreitete: «Ich habe das Gefühl, manchmal wächst dir alles über den Kopf …» «Ja.»
«Mir hilft es manchmal, wenn ich mir einen Moment für mich nehmen kann: rausgehen, tief durchatmen, mich ein bisschen bewegen. Wäre das vielleicht auch etwas für dich?» Fortan stand es dem Lehrer wie auch dem Jugendlichen frei, durch ein Handzeichen zu signalisieren, dass eine kurze «Cool-down-Phase» für den Schüler jetzt sinnvoll wäre.
Deutlich hilfreicher als eine Auszeit ist für Kinder jedoch ein Mensch, der sie bei der Gefühlsregulation begleitet. Wir können die Gefühle des Kindes in Worte fassen, vielleicht auch einfach da sein und den Frust mit ihm gemeinsam aushalten.
Wenn das Kind sich ein wenig beruhigt hat, lässt sich darüber sprechen, was los war, was das Kind braucht, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt – und was wir uns von ihm wünschen.
Das braucht Zeit, ist anstrengend und gerade in der Schule schwierig umzusetzen – aber es lohnt sich!
Ob man ein Kind in seinem Frust begleitet oder ihm ermöglicht, sich zurückzuziehen: Das Wichtige ist die Haltung, die dahintersteht: Deine Gefühle sind okay – mir ist es wichtig, dass du gute Möglichkeiten findest, mit ihnen umzugehen. Auch wenn du wütend wirst, bin ich auf deiner Seite und für dich da.
Den kleinen Menschen in seiner Not sehen
Als ich mich an diesem Morgen neben die Drittklässlerin setze, die den Kopf in den Armen vergraben hat und sich verweigert, hallt der Rat einer Berufskollegin in meinem Kopf: «Du musst diesen kleinen Menschen, der da wütet, in seiner Not sehen.
Denkt man: Der will mich ärgern, der testet meine Grenzen aus, fühlt man sich manipuliert und wird selbst wütend. Besser sagst du dir: Dieses Kind ist überfordert und weiss gerade nicht weiter.»
Also atme ich tief durch und flüstere dem Mädchen zu: «Du bist gerade total wütend, hm?» Keine Reaktion. «Ich kann verstehen, dass du am liebsten aufhören würdest. Die Aufgaben sind echt knifflig …» «Warum gibst du sie mir dann?!», zischt sie hinter ihrem Haarvorhang.«Weil es mich interessiert, was du schon alles kannst – und weil ich sie dir zutraue.» Stille.
Wenig später hebt das Mädchen den Kopf.«Meinst du, wir können weitermachen?» Sie zuckt mit den Schultern.«Was würde dir helfen, wieder einzusteigen?» Ihre Hand greift eine kleine Plüschmaus.«Soll die sich zu uns setzen?» Das Mädchen nickt – und geht zurück an ihren Platz.