Planet der Teenager
Michèle Binswanger verrät, was ihr Philosophiestudium mit der Teenager-Sprache ihrer Kinder zu tun hat.
In meinem Studium habe ich mich viel mit Sprachphilosophie beschäftigt. Was ist Wahrheit, war die Frage, die mich umtrieb – und vor allem: Können wir sie erkennen? Hier die Antwort aus meinen sechs Jahren Philosophie: Ja, es gibt Wahrheit, aber sie zu erkennen, ist schwierig, und Sprache kein geeignetes Mittel dazu.
Was nicht erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie verspielt, beweglich und unzuverlässig Sprache sein kann. Um das zu erkennen, braucht man natürlich kein Philosophiestudium. Es reicht, zu Hause zwei Teenager zu haben.
Ich weiss nicht, sind es die Hormone und wenn ja, sind es jene meiner Kinder oder meine eigenen, aber ich verstehe die beiden nicht mehr. Und zwar nicht im übertragenen Sinn. Ich verstehe ihre Sprache nicht. Stelle ich ihnen eine Frage, etwa: Wollen wir Reis oder Pasta zum Abendessen, sagen sie zum Beispiel: «Easy.» Oder «Ich schwör.» Frage ich dann nach, was das denn nun genau heisst, verdrehen sie die Augen und sagen zueinander: «Voll am Fronten.» Oder sie werfen sich vielsagende Blicke zu und grinsen.
Anstatt mich anzustrengen, sie zu verstehen, lasse ich ihre Sprache nur noch über mich hinwegplätschern.
Ich stehe da mit einem grossen Fragezeichen über meinem Kopf. Ich komme mir vor wie der Sprachforscher auf der bislang unentdeckten Insel, der ohne weitere Hilfsmittel die Sprache der Eingeborenen erlernen soll. Und sowas bin ich ja auch, die beiden leben auf ihrem Planet Teenager mit ihren Teenager-Themen und ihrer Teenager-Sprache.
Mir bleibt nur die genaue Beobachtung meiner Studienobjekte, um belastungsfähige Zusammenhänge zwischen einzelnen Lauten und ihren Bedeutungen zu eruieren. Wenn wir also zu dritt am Tisch sitzen und die beiden sich über ihren Tag austauschen, lausche ich aufmerksam ihrem Kauderwelsch und versuche ihrem Idiom auf die Spur zu kommen. Aber es ist schwieriger als gedacht.
Denn zwar scheint der Wortschatz ihrer Sprache stark begrenzt, er besteht nur aus ein paar Dutzend Wörtern. Aber wie im Chinesischen spielen Kontext und Betonung eine entscheidende und für mich nach wie vor undurchschaubare Rolle. Ein und dasselbe Wort kann je nach Betonung etwas heissen oder das Gegenteil. Das macht die Sache höchst anspruchsvoll.
Inzwischen bin ich demütig geworden. Anstatt mich anzustrengen, sie zu verstehen, lasse ich ihre Sprache nur noch über mich hinwegplätschern. Wie neulich beim Wandern, als ich es bald aufgab, an ihrer Konversation teilnehmen zu wollen. Bis ich plötzlich bemerkte, dass ich sie ja doch verstehe. Und dass ich sie nun über Dinge reden hörte, über die sie sich mit mir nie unterhalten. Über Kollegen, ihre Zukunft, welches Studium wie beurteilt wird, was ehrenvolles Verhalten ist und was nicht.
Ich staunte und lächelte und schwieg und lauschte die ganze Wanderung. Und ich begriff, dass es jenseits ihrer Worte eine Wahrheit gibt: Ich bin tatsächlich in einer neuen Welt gelandet, einer Welt, die meine beiden Kinder mitgestalten werden. Ich bin bereit, sie kennenzulernen.