Herr Renz-Polster, was kann man Kindern beibringen?
Niemand kann einem Kind Kreativität vermitteln oder Mitgefühl und soziale Kompetenzen lehren, sagt der deutsche Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster: Das müssten Kinder selber schaffen. Ein Gespräch über die Frage, wie Kinder das Fundament ihres Lebens selber aufbauen – und wie Eltern sie unterstützen.
Schwarzes Hemd, windzerzauste Haare, ein breites Lächeln im Gesicht. Der Mann auf der Bühne der Elternschule Bischofszell ist Deutschlands berühmtester Kinderarzt, Herbert Renz-Polster. Seine Frau Dorothea sitzt in der ersten Reihe. Zwei Stunden lang erzählt Renz-Polster Anekdote um Anekdote, zitiert Studie um Studie zum Thema «Wie Kinder wachsen» – ohne Spickzettel, ohne Versprecher. Und Renz-Polster beruhigt uns Eltern. Im Gespräch danach, erzählt der Kinderarzt , weshalb unsere Erziehungsansprüche manchmal scheitern – und warum Kinder das tun müssen, was sie tun.
Herr Renz-Polster, wir schreiben das Jahr 2018. Was haben unsere Kinder noch mit dem Steinzeitmenschen gemein?
Unsere Kinder sind dem Steinzeitalter in ihrer Ausstattung noch nicht entwachsen. Wir denken, sie seien genau so, wie wir sie haben wollen. Kinder kommen aber mit eigenen Erwartungen zur Welt.
Was bedeutet das?
Betrachtet man die Kindheit aus evolutionärer Sicht, so spielen Eltern eine wichtige Rolle, keine Sorge! Aber Menschenkinder entwickeln sich immer in eine neue, ungewisse Zukunft. Man braucht nur mal aus dem Fenster zu schauen: Während die Kinder gross werden, entsteht unter ihren Füssen im wahrsten Sinn des Wortes Neuland. Und da müssen die Kinder dann mit ihren Kameraden zurechtkommen, nicht mit Mama und Papa. Deshalb schauen sie sich in Bezug auf ihre eigenen Lebensstrategien recht hartnäckig bei anderen Kindern um.
Wie wichtig sind andere Kinder sagen wir mal bei den Vier- bis Fünfjährigen?
Ich nenne diese Altersspanne auch das Zeitalter der mittleren Kindheit. Im evolutionären Kontext der hochmobilen Jäger- und Sammler-Gruppe wäre die Mutter spätestens jetzt stark mit einem Neuankömmling beschäftigt. Kein Wunder, sind die Kinder jetzt bereit, sich einer anderen sozialen Welt zuzuwenden, die nicht mehr nur aus der intensiven Zweierbeziehung zur Mutter oder Hauptbezugsperson besteht. Das zentrale Entwicklungsmotiv in diesem Alter ist das Zusammensein mit anderen Kindern. Überhaupt Kinder, das ist jetzt das Riesending.
«Bei jedem Spiel lernen Kinder, ihren Gefühlshaushalt zu regulieren.»
Die Natur habe die mittlere Kindheit als eine Art Sparmodus geplant, schreiben Sie.
Ja, damit greift sie eine Besonderheit des Homo sapiens auf. Die anderen Menschenaffenarten bekommen erst wieder Nachwuchs, wenn das vorige Kind selbstständig ist. Bei uns Homo sapiens aber überlappen sich die Versorgungsansprüche – in den ursprünglichen Wildbeuterkulturen betrug der Geburtenabstand im Durchschnitt ungefähr drei bis vier Jahre. Wenn das nächste Kind geboren wird, sind die älteren Kinder also noch immer von Versorgung abhängig. Gleichzeitig brauchen die Eltern jetzt viel Energie für das nächste Kind. Dann ist es von Vorteil, wenn das ältere Kind ein bisschen weniger aufwendig ist.
Und das Erstgeborene muss lernen, seine Bedürfnisse aufzuschieben. Im Fachjargon nennen wir das Exekutivfähigkeit. Das ist etwas, worauf auch im Kindergarten Wert gelegt wird.
Das sich aber keineswegs erst im Kindergarten aufbaut. Exekutive Funktionen entwickelt das Kind von Anfang an. Schon Zweijährige lernen beim Versteckspiel oder beim Türmebauen, was Warten und Aufschieben bedeuten. Sie lernen ganz allein, dass Warten auch schön sein kann, weil danach etwas kommt – Belohnung in Form von positiven Gefühlen. Etwa beim Versteckspiel, kurz bevor man entdeckt wird. Bei jedem Spiel lernen Kinder, ihren Gefühlshaushalt zu regulieren. Mit zunehmendem Alter wird aber die Selbstkontrolle und damit das Sich-selber-Kennenlernen zum Thema.