«Im Ausgang wird schnell mal ein Messer gezückt»
Warum nehmen wir Gewalt, die junge Männer erleben, einfach hin und wie soll man als Mutter darauf reagieren? Unsere Kolumnistin Michèle Binswanger ist verstört und hofft auf den Vaterinstinkt.
Mein 17-Jähriger erzählte so beiläufig, als rede er über das Plätzchen, das er gerade in Stücke schnitt: «Im Ausgang wird schnell mal ein Messer gezückt. Mein Kollege hat jetzt auch eins.» Mein Mutterinstinkt schreckte aus dem Dämmerschlaf hoch. Messer?! Gewitzt von nunmehr jahrelanger Erfahrung mit Teenagern, liess ich mir nichts anmerken und fragte beiläufig: «Hm? Wie muss ich mir das vorstellen?»
«Es läuft immer gleich. Da kommen irgendwelche Stresser, man sieht es ihnen schon von Weitem an. Sie fragen nach einer Zigarette oder so was, dann fangen sie an zu provozieren. Und einer in der Gruppe steigt immer darauf ein.»
Sicher der mit dem Messer!, rief der Mutterinstinkt und erinnerte mich daran, wie oft man von tödlichen Messerstechereien unter Jugendlichen im Alter meines Sohnes liest. Aber unter Aufbietung meiner gesamten mentalen Selbstbeherrschung gelang es mir, ruhig zu bleiben.
Eigentlich ist es ein Skandal. Während die ganze Welt über Sexismus gegenüber Frauen spricht und es tausend Initiativen dagegen gibt, nimmt man die alltägliche Gewalt, die junge Männer im Ausgang erleben, als gegeben hin.
«Wäre es nicht besser, sich gleich zu verziehen, wenn solche Stresser kommen?», fragte ich. Der Kleine zuckte mit den Schultern und murmelte irgendwas. Ich verstand es nicht, begriff aber, dass mütterliche Ratschläge nicht fruchten würden.
Eigentlich ist es ein Skandal. Während die ganze Welt über Sexismus gegenüber Frauen spricht und es tausend Initiativen dagegen gibt, nimmt man die alltägliche Gewalt, die junge Männer im Ausgang erleben, als gegeben hin. Und nicht nur das. Weil es üblich geworden ist, dem Mann als Vertreter des Patriarchats eine pauschale Mitschuld zuzuschreiben für alles, was in der Welt schiefläuft, werden Jungs doppelt gestraft. Sie sollen für das Elend der Welt verantwortlich sein, obschon sie daran keinen Anteil hatten. Gleichzeitig sind sie selber mit einer ganz spezifischen Männer- und Gewaltproblematik konfrontiert, ohne Rezepte dagegen oder Antworten darauf zu kennen. Sie sollen ihren Mann stehen und richtige Männer werden, aber wie, sagt ihnen niemand. Mit dem, was sie da draussen erleben, sind sie allein.
Das ist verstörend. Als meine Tochter anfing auszugehen, sprach ich mit ihr über sexuelle Integrität und darüber, wie man sich schützen kann. Die Situation meines Sohnes aber überfordert mich. Sexismus ist zwar ein Übel, aber wenigstens ist er einigermassen berechenbar. Was sich von Gewalt nicht behaupten lässt. Das macht es so schwierig. Ich weiss nicht, was es heisst, ein Mann zu werden – schon gar nicht in der heutigen Gesellschaft.
In solchen Situationen weiss der Mutterinstinkt auch nicht weiter. «Dein Kollege rennt mit einem Messer herum?», fragte ich.
«Nur zur Selbstverteidigung», antwortete mein Sohn.
«Wäre es nicht klüger, sich gar nicht erst auf solche Auseinandersetzungen einzulassen?», fragte ich ziemlich lahm. «Das ist ja ganz schön gefährlich.»
Es half nicht viel, dass der Sohn mir erläuterte, man müsse eben schlitzen, nicht stechen. Und es half ebenso wenig, dass mein Partner mir erklärte, der Gefahr einfach auszuweichen sei für einen jungen Mann auch keine Lösung, zumindest nicht unter Kollegen. Eine Lösung blieb allerdings auch er schuldig.
Mein Mutterinstinkt wird wohl noch eine Weile nicht mehr ruhig schlafen. Und darauf hoffen, dass der Vaterinstinkt übernimmt.