Wenn ADHS in der Familie liegt
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Wenn ADHS in der Familie liegt

Lesedauer: 10 Minuten

Ein Kind mit der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS stellt die Eltern vor besondere Herausforderungen. Noch schwieriger wird es, wenn auch Mutter oder Vater von ADHS betroffen sind – und das ist gar nicht so selten.

Text: Christine Amrhein
Bilder: Shelley Reis

Schon als kleines Kind war Kilian sehr unruhig», erzählt Daniela Chirici. «Auf dem Spielplatz musste ich ständig hinter ihm her sein. Im Mehrfamilienhaus, in dem wir gewohnt haben, gab es dauernd Ärger mit anderen Kindern. Und einige Eltern waren der Meinung, wir hätten die Erziehung nicht im Griff», sagt die Mutter des heute 18-jährigen Kilian.

Der gelernten Krankenschwester wurde früh klar, dass ihr Sohn anders ist als andere Kinder: Als Baby schrie er viel und reagierte empfindlich auf Reize. An Kilians fünftem Geburtstag wandte sie sich an eine Beratungsstelle der ADHS-Organisation elpos und liess die Auffälligkeiten bei einem spezialisierten Arzt abklären. Die Diagnose lautete: ADHS.

Erst viel später, als Kilian bereits 11 Jahre alt war, erfuhr die Mutter, dass auch Kilians Vater ADHS hat. «Es gab eine Phase, in der er viel gearbeitet hat und sehr gestresst war», berichtet Chirici. «Irgendwann hat er dann gesagt: Die Konzentrationsprobleme, die Unruhe, das kommt mir alles bekannt vor.» Auch Kilians Vater liess sich untersuchen und bekam die Diagnose ADHS. «Erst da sind mir einige Dinge klar geworden», erzählt Chirici. «Dass die beiden sich in vielen Dingen ähnlich sind, hat dazu geführt, dass sich manche Situationen aufgeschaukelt haben. Wenn Kilian einen Wutanfall hatte, wurde sein Vater oft auch wütend und laut.»

ADHS bei Erwachsenen wird oft lange nicht erkannt, weil die Symptome meist weniger ersichtlich sind.

Es ist gar nicht so selten, dass ein Kind und ein oder sogar beide Elternteile ADHS haben. «Das ist nicht überraschend, weil genetische Faktoren bei ADHS eine wichtige Rolle spielen», erläutert Isolde Schaffter-Wieland. Sie ist ADHS-Coach und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS.

«Allerdings merken betroffene Eltern zunächst oft nur, dass ‹etwas nicht stimmt›, dass sie die Erziehung oder ihr ganzes Leben ‹nicht auf die Reihe bekommen›. Vielen ist lange nicht klar, dass sie selbst ADHS haben.» So etwa ging es einer Mutter, die zu ihr in die Beratung kam: «Sie war mit ihrem Kind, bei dem später ADHS diagnostiziert wurde, völlig überfordert und kam im Alltag kaum zurecht», sagt Schaffter-Wieland. «ADHS wurde bei ihr erst erkannt, als ihr Sohn 25 Jahre alt war. Bis dahin hat sie sich bis zum Burnout durchs Leben gekämpft.»

ADHS
Die ADHS-Serie

In unserer elfteiligen Serie haben wir genau hingesehen: Betroffene kommen zu Wort, Therapieansätze werden verglichen und natürlich widmen wir uns auch der Frage, ob die Krankheit vielleicht gar keine ist. Die ganze Serie gibt es jetzt als 48-seitiges PDF-Dokument zum Download!

Dass ADHS oft lange nicht erkannt wird, liegt daran, dass die Symptome individuell sehr unterschiedlich sein können. Bei Erwachsenen sind sie häufig weniger ersichtlich. Speziell Frauen kämen oft bis zur Geburt ihrer Kinder in Ausbildung und Beruf relativ gut zurecht und hätten Strategien im Umgang mit ihren «Besonderheiten» entwickelt. «Aber wenn ein Kind da ist, sind sie plötzlich fremdbestimmt und können ihren Tag nicht mehr so strukturieren wie bisher», sagt Schaffter-Wieland. «Dadurch geraten sie unter Druck, was wiederum vorhandene ADHS-Symptome verstärkt.» Viele Eltern würden zunächst annehmen, dass die Probleme allein mit dem Kind zusammenhingen – und vergeblich versuchen, sie selbst in den Griff zu bekommen.

Symptome von Kind und Eltern ­verstärken sich gegenseitig

Doch durch die Konstellation «Kind und Eltern mit ADHS» können vielfältige Probleme entstehen. «Häufig verstärken sich die Symptome von Kind und Eltern gegenseitig», sagt Johannes Streif, Stellvertretender Vorsitzender des ADHS Deutschland e. V. «Zum Beispiel kann es sein, dass das Kind wegen Kleinigkeiten weint und die Mutter dann schnell die Nerven verliert. Oder dass der Vater, der am Arbeitsplatz gut zurechtkommt, beim Nachhausekommen wegen des Chaos und Lärms überfordert ist.»

Typisch ist auch, dass sich Eltern mit ADHS bei der Erziehung inkonsequent verhalten, überreagieren und zu Streit neigen. «Dazu kommt, dass sie ihre Gefühle nicht so gut wahrnehmen und ihr Verhalten nicht so gut regulieren können», so Streif. «Sie versuchen vielleicht, weniger impulsiv zu sein, nehmen aber gar nicht wahr, wenn ihre Gefühle in einer Stresssituation ‹von Grün auf Rot› wechseln.»

Zudem brauchen Kinder mit ADHS viel Struktur, einen klaren Tagesablauf und klare Regeln. «Eltern mit ADHS haben zuweilen selbst einen chaotischen Lebensstil und es fällt ihnen schwer, ihren Kindern Struktur zu vermitteln», sagt Schaffter-Wieland. «Andererseits gibt es auch Eltern, die ihr Leben bisher stark strukturiert haben und das auch ihrem Kind vermitteln wollen. Sie kommen dann oft an ihre Grenzen, wenn das Kind die Regeln oder Strategien nicht einfach übernehmen kann.» Darüber hinaus hätten viele ADHS-Betroffene hohe Ansprüche an sich selbst – und seien schnell frustriert, wenn sie das Gefühl hätten, alles «nicht gut genug» zu machen.

Die Diagnose ist oft eine ­Erleichterung

Häufig fallen Kinder mit ADHS schon im Kleinkindalter auf. Die Diagnose wird dann oft in den ersten Schuljahren gestellt. «Lehrpersonen wissen heute besser über ADHS Bescheid und raten den Eltern deshalb häufiger zu einer Abklärung», sagt Schaffter-Wieland. «Bei manchen Eltern führt die ADHS-Diagnose dazu, dass sie ihr eigenes Verhalten stärker reflektieren – und früher oder später erkennen, dass sie ihrem Kind sehr ähnlich sind.» Andere würden durch Informationen im Internet oder Hinweise ihres Partners darauf kommen, dass sie selbst betroffen sein könnten. «Im Grunde ist es sinnvoll, wenn Eltern, deren Kind ADHS hat und die Probleme bei der Alltagsbewältigung haben, selbst ein ADHS-Screening machen», betont die Expertin. Das empfiehlt auch das European Network Adult ADHD – in der Praxis wird dies aber bisher nicht konsequent umgesetzt.

Wussten Sie, …

… wie sich ADHS und ADS unterscheiden?
Typisch für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind Probleme bei der Aufmerksamkeit, impulsives Verhalten, Hyperaktivität und eine gestörte Selbstkontrolle. Betroffene Kinder bleiben mit ihrer Aufmerksamkeit nicht lange bei einer Sache, sind unruhig, ungeduldig und aggressiv. Treten die Aufmerksamkeitsprobleme ohne Hyperaktivität auf, spricht man von einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS). Diese Kinder wirken abwesend, sind unaufmerksam und bleiben bei den Schulleistungen hinter ihren tatsächlichen Fähigkeiten zurück.
Erwachsene mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und ihren Alltag zu organisieren. Ihre Stimmung wechselt häufig schnell, sie reagieren sehr emotional und impulsiv und können ihre Gefühle schlecht regulieren. Manche sind auch ruhelos und überaktiv. Die Symptome wirken sich oft negativ auf zwischenmenschliche Beziehungen und berufliche Leistungen aus. 

… wie häufig ADHS bei Kindern und Erwachsenen vorkommt?
Etwa 3 bis 4 Prozent der Bevölkerung sind von einer ADHS betroffen – es ist also eine relativ häufige Störung. Bei Kindern und Jugendlichen sind etwa 5 bis 6 Prozent betroffen, bei Erwachsenen 2 bis 3 Prozent.Etwa die Hälfte leidet noch im Erwachsenenalter unter ADHS-Symptomen, sodass eine professionelle Unterstützung sinnvoll ist. Die andere Hälfte hat gelernt, gut mit ihren Besonderheiten zu leben. Oft hat ein förderndes und verständnisvolles Umfeld dazu beigetragen, dass die Betroffenen Selbstvertrauen und Strategien entwickeln konnten, um mit der ADHS-Veranlagung gut umzugehen. Manche konnten zudem ihre Leidenschaft zum Beruf machen und dort ihre Fähigkeiten voll entfalten. 

… warum ADHS häufig nicht oder erst spät erkannt wird?
Erst um das Jahr 2000 wurde ADHS bei Erwachsenen auch im deutschsprachigen Raum zum Thema. Es stellte sich heraus, dass die Störung bei bis zu zwei Dritteln der als Kinder Betroffenen auch im Erwachsenenalter weiter besteht. Bei vielen Erwachsenen wurde jedoch die ADHS in der Kindheit nicht erkannt und nicht diagnostiziert. Die Symptome, die bei Erwachsenen auftreten, sind häufig vielfältiger und weniger charakteristisch als bei Kindern. So schwächt sich die Hyperaktivität oft ab und zeigt sich eher als innere Unruhe. Zudem haben viele ADHS-Betroffene weitere psychische Erkrankungen, etwa Depressionen, Angststörungen oder eine Sucht. Die Symptome können sich mit denen der ADHS überlappen: So treten Stimmungsschwankungen und Konzentrationsprobleme auch bei einer Depression auf. Bisher gibt es nur wenige auf ADHS spezialisierte Ärzte und Psychotherapeuten. Deshalb wird die Störung häufig nicht erkannt oder falsch diagnostiziert – vor allem, wenn nicht gezielt nach den ADHS-Symptomen gefragt wird. Dadurch kann die Störung dann auch nicht angemessen behandelt werden.

Die Diagnose zu kennen, ist für viele Familien eine grosse Erleichterung. So etwa bei Familie Gasser: Sowohl beim ältesten, heute 15-jährigen Sohn Yorick als auch beim jüngsten Sohn Len, 10 Jahre, wurde in der zweiten Klasse ADS festgestellt – also eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität. «Beide sind eher Träumer und es fällt ihnen schwer, sich auf Dinge zu konzentrieren, die sie nicht interessieren», berichtet Mutter Manuela. Auch Vater Matthias liess sich abklären – und erfuhr etwa zur gleichen Zeit wie Yorick, dass er ADS hat. «Zu wissen, dass sein Vater das Gleiche hat, war für Yorick sehr entlastend», sagt Manuela Gasser. «Und Lens Reaktion, als er die Diagnose erfuhr, war ‹Oh, deshalb ist in der Schule manches für mich so schwer.›»

Die Behandlung erfolgt individuell

Wichtig ist, dass der Diagnose eine geeignete Unterstützung folgt. «Der erste Schritt ist die sogenannte Psychoedukation, in der die Eltern über die Symptome der ADHS, einen guten Umgang damit und die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt werden», sagt Schaffter-Wieland. «Die weitere Unterstützung kann individuell sehr unterschiedlich sein – je nachdem, welche ADHS-Symptome im Vordergrund stehen und wie stark die damit verbundenen Probleme sind.»

Für manche sei ein niederschwelliges Angebot ausreichend, etwa die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe für ADHS, eine Beratung oder ein Elterncoaching. Bei stärker ausgeprägten Problemen kann eine Psychotherapie oder Ergotherapie für das Kind sinnvoll sein – oder eine multimodale Therapie, bei der solche Massnahmen mit einem ADHS-Medikament kombiniert werden.

Kinder mit ADHS brauchen klare Regeln. Und Eltern, die liebevoll, aber bestimmt die Einhaltung dieser Regeln einfordern.

Beim Elterncoaching erfahren die Eltern zum Beispiel, dass es wichtig ist, sich konsistent und wohlwollend zu verhalten und Druck und Stress zu vermeiden. «Sie lernen, wie sie ihre Zeit besser strukturieren können, wie sie mit Regelverstössen umgehen können oder wie sie ihr Kind aus einer Erhitzungsphase herausholen können», erläutert Schaffter-Wieland. Oft ist es hilfreich, wenn der Berater die Eltern eine Zeit lang im Alltag begleitet und sie in ganz konkreten Situationen unterstützt. In einer Psycho- oder Ergotherapie lernt vor allem das Kind, aber auch die Eltern Strategien, wie sie mit den ADHS-Symptomen besser umgehen können.

Doch letztlich muss jede Familie wohl ihren eigenen Weg finden. Als Daniela Chirici von der ADHS-Diagnose erfuhr, zog die Familie auf einen Bauernhof, wo Kilian seinen Bewegungsdrang besser ausleben konnte. Chirici beschäftigte sich intensiv mit dem Thema ADHS, besuchte eine Elterngruppe, machte später selbst eine Ausbildung zur Elternberaterin. Kilian besucht, seit er acht Jahre ist, regelmässig eine Verhaltenstherapie, die ihm bisher sehr geholfen hat. Dort hat Kilian gelernt, sich in Wutsituationen selbst zu beruhigen.

So gelingt ein guter Umgang mit AHDS beim Kind

  • Stellen Sie klare Regeln auf und schaffen Sie eine verlässliche Tagesstruktur. Das gibt Ihrem Kind Orientierung und Halt. Sagen Sie Ihrem Kind, was Sie von ihm erwarten. Verwenden Sie Ich-Botschaften, etwa: «Ich möchte, dass du alle Sachen vom Boden in die grosse Kiste räumst.» Seien Sie bei der Umsetzung der Regeln konsequent.
  • Loben Sie Ihr Kind, wenn es die Regel eingehalten hat. Auf Verletzungen der Regeln sollten Sie angemessen und konsequent reagieren. Hat ihr Kind zum Beispiel ein Spielzeug absichtlich zerstört, sollten Sie es ihm nicht nachkaufen.
  • Fördern Sie das Selbstbewusstsein Ihres Kindes. Achten Sie auf seine Stärken und auf das, was es gut gemacht hat, und loben Sie es dafür. Sagen Sie Ihrem Kind, was Sie an ihm besonders schätzen.
  • Überlegen Sie, was wirklich von Bedeutung ist und welcher «Kampf» sich wirklich lohnt. Unbedeutendes Fehlverhalten sollten Sie übergehen.
  • Vermeiden Sie plötzliche Veränderungen, weil das bei Kindern mit ADHS Stress auslöst. Kündigen Sie Veränderungen rechtzeitig an.
  • Sieht Ihr Kind rot, nehmen Sie sich selbst emotional heraus und lassen Sie sich nicht auf Diskussionen ein. Sprechen Sie mit ruhiger Stimme. Verordnen Sie sich und Ihrem Kind eine Auszeit und klären Sie das Problem später in einer ruhigen Situation.
  • Bleiben Sie mit Ihrem Kind in einer guten Beziehung. Schliessen Sie am Abend mit ihm Frieden und sehen Sie den nächsten Tag als «weisses Blatt», auf dem neu angefangen werden kann.

    Quelle: Tipps zum Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit ADHS auf der Website der Arbeitsgemeinschaft ADHS:
    www.ag-adhs.de

Sehr wichtig war für die Familie auch, eine Tagesstruktur und klare Regeln zu haben – etwa, wann Kilian Hausaufgaben machen musste und wie lange er fernsehen durfte. Die Schulzeit sei dennoch für alle schwierig gewesen, weil es Kilian schwerfiel, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren. «Aber im Moment hat er das Ziel, seine Schreinerlehre erfolgreich abzuschliessen. Das motiviert ihn beim Lernen sehr», sagt seine Mutter.

Kilians Vater begann nach seiner ADHS-Diagnose ebenfalls eine Therapie. Die Situation zu Hause wurde für ihn zunehmend schwierig, sodass es vor sechs Jahren zur Trennung kam. Inzwischen hat er aber einiges verändert und das Verhältnis zwischen ihm und Kilian ist deutlich besser geworden.

Eine bunte Familie managen

Auch bei Familie Gasser hat die ADHS vieles auf den Kopf gestellt. Mutter Manuela entschied sich nach der Diagnose ihrer Söhne, ihren Job aufzugeben und quasi in «Vollzeit» ihre Familie zu managen. Denn zusätzlich stellte sich heraus, dass Vater Matthias neben der ADS von Asperger-Autismus betroffen ist – ebenso wie ihr mittlerer Sohn Orell, 13 Jahre.

«Ich habe viele Bücher über ADHS gelesen, Kurse dazu gemacht und vieles in unserem Familien­leben angepasst», erzählt die frühere Kinderkrankenschwester. «Sehr geholfen hat uns auch ein Elterncoaching – und ein Paarcoaching, das ich mit meinem Mann in einer schwierigen Beziehungsphase gemacht habe.»

(Bild: Shelley Reis)
Es ist gar nicht so selten, dass ein Kind und ein Elternteil ADHS haben. Genetische Faktoren bei ADHS spielen eine grosse Rolle.

Für alle drei Kinder sei es hilfreich, eine gewohnte Tagesstruktur zu haben, klare Absprachen zu treffen und Dinge rechtzeitig im Voraus zu planen – denn Unvorhergesehenes sei für sie schwierig. Ihren Mann, der als Informatiker in einem Spital arbeitet, habe der Trubel des Familienlebens lange sehr belastet. «Inzwischen hat er unter der Woche ein eigenes Zimmer und ist nur am Wochenende zu Hause», erzählt Manuela Gasser. «Dadurch klappt es mit dem Familienleben deutlich besser.»

Medikamente: Ja oder Nein?

Geholfen hat beiden Familien auch eine Medikation mit Stimulanzien, wie sie viele Kinder mit ADHS bekommen. Die Entscheidung dafür fällt vielen Eltern jedoch nicht leicht. «Meistens suchen sie zunächst sanftere Hilfe und zögern lange, bevor sie sich für ein Medikament entscheiden», berichtet Schaffter-Wieland. «Aber viele, die es versuchen, erzählen, dass es den Alltag deutlich erleichtert hat. Betroffene können sich damit besser konzentrieren und in Schule, Lehre oder Studium ihre Fähigkeiten besser ausschöpfen. Und sowohl Kinder als auch Erwachsene sagen, dass sie mit der Medikation fokussierter und weniger impulsiv sind und ihren Alltag besser strukturieren können.»

«Ich war am Anfang sehr skeptisch», gesteht Daniela Chirici. «Dann hat mein Mann vorgeschlagen, zunächst mal für vier Wochen Ritalin zu probieren. Da war Kilian sechseinhalb Jahre alt. Es hat wirklich viel gebracht: Unser Familienalltag wurde viel ruhiger und geordneter. Und die Medikation hat auch mitgeholfen, dass sich Kilian schneller auf die Verhaltenstherapie einlassen und neue Strategien besser lernen konnte.»

Das Engagement der Eltern lohnt sich

Auch Yorick und Len bekamen jeweils im Alter von neun Jahren Ritalin. «Das war für uns alle eine grosse Erleichterung», berichtet ihre Mutter. «Bei Yorick zum Beispiel haben sich die schulischen und sozialen Fähigkeiten deutlich verbessert, die Einordnung in eine Gruppe fiel ihm deutlich leichter.» Inzwischen habe er seinen eigenen Rhythmus gefunden und nehme seit drei Jahren kein Ritalin mehr – und das funktioniere gut.

Natürlich erfordere es insgesamt viel Zeit und Energie, ein Kind mit ADHS grosszuziehen, sagt Daniela Chirici. «Aber aus meiner Sicht bringen eine geeignete Behandlung und das Engagement der Eltern viel. Das möchte ich auch anderen vermitteln: dass aus einem Kind mit ADHS durchaus etwas werden kann.»

Hier finden Sie Infos und Hilfe zum Thema ADHS

Schweizerische Fachgesellschaft ADHS, Anlaufstelle für Informationen über ADHS und die Suche nach fachlicher Unterstützung:
www.sfg-adhs.ch
elpos, ADHS-Organisation mit Informationen und sechs Beratungsstellen für ADHS in der Schweiz:
www.adhs-organisation.ch
ADHS Deutschland e. V., Informationen zu ADHS, Beratung und Selbsthilfegruppen: www.adhs-deutschland.de
Elternberatung zu ADHS von Daniela Chirici:
www.beratung-adhs.ch

Christine Amrhein
ist Psychologin. Sie lebt und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in München.

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