Defizit: Berufsbildung geht auch mit einer Beeinträchtigung
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Berufsbildung geht auch mit einer Beeinträchtigung

Lesedauer: 4 Minuten

Mit der richtigen Unterstützung finden auch Jugendliche mit ADHS, Lese-, Schreib- und Rechenschwäche oder mit anderen kognitiven und psychischen Herausforderungen den Einstieg ins Berufsleben.

Text: Stefan Michel
Bild: Adobe Stock

Für viele Kinder und Jugendliche mit ADHS, einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) oder einem anderen kognitiven Defizit ist die Schule eine Mühsal. Das Wissen wird auf eine Art vermittelt, die ihre Schwächen täglich von Neuem zum Vorschein bringt. Im Vergleich dazu scheint die Lehre eine Erlösung zu sein. Endlich können Zapplige anpacken, werden Leseschwachen ihre Aufgaben mündlich erklärt, können sie sich mit etwas beschäftigen, das sie wirklich interessiert.

Doch zuerst müssen sie Berufswahl und Lehrstellensuche bewältigen – wo oft ähnliche Fertigkeiten gefragt sind wie im Schulunterricht. Und in der Lehre und Berufsschule sind sie mit ihrem ADHS, ihrer Legasthenie, Dyskalkulie oder ihrer Form von Autismus wieder gefordert.

Die IV zu kontaktieren, kostet viele Eltern Überwindung.

Patrick Brütsch, IV-Berufsberater

Wenn in der zweiten Oberstufenklasse die Berufswahl zum grossen Thema wird, ist es an der Zeit, zu klären, ob das eigene Kind den Herausforderungen gewachsen ist. Sind die Zweifel der Eltern und Lehrpersonen gross, ist es angezeigt, weitere Unterstützung zu suchen. Das kann eine Organisation sein, die sich auf das Defizit des eigenen Kindes spezialisiert hat.

Viel Fachwissen dazu haben auch die kantonalen IV-Stellen, die Job-Coaching von der Berufswahl bis zum Abschluss der Lehre bieten. Die IV zu kontaktieren, kostet viele Eltern Überwindung, weiss Patrick Brütsch, IV-Berufsberater bei der SVA Zürich. «Einige meinen, bei der IV gehe es gleich um Rente und man gelte dann ein Leben lang als behindert.»

Keine Angst vor der IV

Das Gegenteil ist der Fall. Die IV hilft, Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, damit sie keine Rente brauchen. Sie beschäftigt spezialisierte Berufsberaterinnen, die Erfahrung und ein Netzwerk haben, um Jugendliche mit ADHS, einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder psychischen Schwierigkeiten durch die Berufswahl zu begleiten.

Falls sinnvoll, vermittelt die IV einen Jobcoach, der die Jugendlichen während der Lehre unterstützt. Wichtig: Um von der IV Unterstützung zu erhalten, muss eine Diagnose vorliegen, die von einer spezialisierten Fachstelle erstellt wurde.

Speziell ist die Situation bei LRS. Liegt «nur» eine Lese- oder Rechenschwäche vor, gibt es keine IV-Leistungen. Wobei Leistungen hier als finanzielle Leistungen oder Kostenübernahmen zu verstehen sind. Brütsch versichert: «Wir beraten auch Jugendliche mit einer Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche als einziger Diagnose und vermitteln sie an den passenden Integrationspartner weiter.»

Entscheidend ist, dass Menschen mit einem Defizit ihre Stärken kennen und nutzen.

Monika Lichtsteiner, Psychologin und Berufsberaterin

Für viele bedeutet ihr Defizit auch, den Berufswunsch nicht direkt ansteuern zu können. «Für manche Eltern ist das schwer zu akzeptieren. Aber ein anderer Beruf bietet die Möglichkeit, das Ziel später zu erreichen», hält Monika Lichtsteiner fest.

Die erfahrene Psychologin und Berufsberaterin beschreibt das Beispiel einer jungen Frau mit starker Schreibschwäche, die mit einer zweijährigen EBA-Lehre in die Berufsbildung einstieg. Danach wollte sie einen technischen Beruf lernen und machte eine Schnupperlehre. Dabei beeindruckte sie ihren Berufsbildner so sehr, dass sie eingestellt wurde. Nun steht sie kurz vor dem Lehrabschluss.  

Entscheidend sei, dass Menschen mit einem Defizit ihre Stärken kennen und nutzen, so Lichtsteiner. Das beginne in der Schnupperlehre und setze sich in der beruflichen Ausbildung fort. Manche müssten ihre Talente erst finden, nachdem sie in der Schule jahrelang hauptsächlich negative Beurteilungen erhalten hätten.

Auch Lehrbetriebe schätzen Hilfe

Nicht nur die angehenden Lernenden sind froh um fachliche Unterstützung, auch viele Lehrbetriebe schätzten es, jemanden zu haben, der sie im Umgang mit einem Lernenden mit besonderen Bedürfnissen berät, sagt IV-Berater Brütsch. Darauf spezialisierte Fachleute arbeiten beispielsweise bei Impulsis in Zürich.

Andrea Rüegg, Co-Geschäftsleiterin, beschreibt deren Arbeit so: «Wenn ein Berufsbildner keine Erfahrung mit ADHS hat, erklären wir ihm beispielsweise, was die Beeinträchtigungen bedeuten und dass er dem Lernenden nicht mehrere Aufträge auf einmal geben soll, sondern einen nach dem anderen.»

Dieser Text stammt aus dem Berufswahl Spezial 2024. Bestellen Sie hier eine Einzelausgabe für 8.70 Franken.

Konzentrationsschwache brauchen vielleicht die Erlaubnis, Noise-Cancelling-Kopfhörer zu tragen oder an einem Ort im Betrieb zu arbeiten, wo sie ihre Ruhe haben. Auch die Tatsache, dass digitale Hilfsmittel wie Chat GPT, Rechtschreibetools und Onlineübersetzungen auf dem Vormarsch und immer breiter akzeptiert sind, hilft Menschen mit LRS. Begünstigend kommt hinzu: Viele Lehrbetriebe in Branchen mit Mangel an Lernenden sind bereit, auf Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen einzugehen.

Ein Mittel, das alle Betroffenen kennen müssen, ist der Nachteilsausgleich bei Prüfungen.

Grundsätzlich gilt: Transparenz ist wichtig und wer von der IV unterstützt wird, sollte dies angeben, da beispielsweise die Berufsfachschule diese Information mit dem Lehrbetrieb teilt. «Ein starkes ADHS wird früher oder später sowieso offensichtlich», betont Andrea Rüegg. Ist es aber nur eine leichte Schwäche, die für den gewählten Beruf von geringer Relevanz ist, findet es Monika Lichtsteiner legitim, wenn ein Jugendlicher diese für sich behält. 

Ein Mittel, das alle Betroffenen kennen müssen, ist der Nachteilsausgleich bei Prüfungen. Seh- und Hörbehinderten steht er zu, Auszubildenden mit ADHS, ASS, LRS oder auch mit psychischen Beeinträchtigungen kann er gewährt werden. Typischerweise kommt der Nachteilsausgleich bei Prüfungen in der Berufsschule zum Tragen. Er lässt sich auch auf praktische Prüfungen im Betrieb anwenden. 

Mehr Zeit für die Prüfung

Eine der am häufigsten gewährten Kompensationen ist mehr Zeit, um eine Prüfung zu lösen, 55 statt 45 Minuten seien Standard, erklärt Christina Frei Jenni, Prorektorin des Bildungszentrums Zürichsee (BZZ). Gewisse Schulen ermöglichen den Einsatz von Assistenzpersonen, die Leseschwachen die Prüfungsaufgaben vorlesen. Am BZZ sei dies nicht möglich, bedauert Frei Jenni. Dabei seien diese Formen des Ausgleiches noch die einfacheren.

Oft werde Gelerntes nicht mehr in klassischen Prüfungen getestet, sondern über Projektarbeiten, Podcasts oder Filme. Da wird es noch anspruchsvoller, auch jenen mit Lernschwächen die gleichen Chancen auf Erfolg zu bieten. «Etwas zu präsentieren, gehört in den kaufmännischen Berufen zu den Kernkompetenzen», nennt Frei Jenni ein Beispiel. «Jugendliche mit einer Sozialphobie haben da grosse Schwierigkeiten.» Diese könnten erste Präsentationen zu Hause auf Video aufzeichnen und würden dann Schritt für Schritt an das Vortragen vor Publikum herangeführt.

Die Jugendlichen müssen bereit sein, für ihre Bedürfnisse einzustehen.

Die professionelle Unterstützung und der Nachteilsausgleich können im Lauf der Zeit reduziert oder aufgehoben werden, betont Brütsch. Frei Jenni erlebt immer wieder, dass Jugendliche sagen, sie möchten es ohne Nachteilsausgleich probieren. Vielen Menschen mit ADHS, LRS oder einem anderen Defizit gelinge es mit zunehmender Erfahrung immer besser, ihre Schwächen zu kompensieren und im Arbeitsmarkt gleich viel zu leisten wie Menschen ohne ihre Diagnose.

Damit der Übergang von der Schule in die Berufsbildung gelingt, hilft eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehrbetrieb, Berufsschule und Fachleuten für die berufliche Integration. Entscheidend für viele Jugendliche ist es, im Lehrbetrieb und in der Berufsschule eine Vertrauensperson zu haben. Dabei spielen die Jugendlichen selber den wichtigsten Part. Sie müssen bereit und motiviert sein, sich weiterzuentwickeln und für ihre Bedürfnisse einzustehen. Sodass ihre Diagnose im Berufsleben irgendwann keine Rolle mehr spielt.

Stefan Michel
ist freier Journalist und Texter und lebt mit seiner Partnerin und zwei Kindern in Zürich.

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