Trotz Handicap den Weg in die Berufswelt finden
Für viele Kinder und Jugendliche mit einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS), ADHS oder einem anderen kognitiven Defizit ist die Schule eine Mühsal. Das Wissen wird auf eine Art vermittelt, die ihre Schwächen täglich von Neuem zum Vorschein bringt. Manche ecken mit ihrer Unruhe an, andere werden als geistig minderbemittelt angesehen. Dabei hat ihr Gehirn lediglich Mühe, geschriebene Zeichen zu interpretieren oder Nebengeräusche auszublenden.
Im Vergleich dazu scheint die Lehre Erlösung zu bieten. Endlich können Zapplige anpacken, werden Leseschwachen ihre Aufgaben mündlich erklärt. Endlich können sie sich mit etwas beschäftigen, das sie wirklich interessiert.
Doch zuerst müssen sie Berufswahl und Lehrstellensuche bewältigen – wo oft ähnliche Fertigkeiten gefragt sind wie im Schulunterricht. Und in der Lehre und Berufsschule sind sie mit ihrer Legasthenie, Dyskalkulie, ihrer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts- oder Autismus-Spektrum-Störung (ASS) wieder gefordert.
Die IV zu kontaktieren, kostet viele Eltern Überwindung.
Patrick Brütsch, IV-Berufsberater
Hinzu kommt: Viele haben schon mehrere Abklärungen und Unterstützungsmassnahmen erlebt und die Nase voll von Erwachsenen, die ihnen sagen, was sie tun müssen. «Viele wollen nichts mehr von ADHS hören und verweigern sich deshalb anfänglich der Unterstützung», beschreibt Susanne Spalinger von der ADHS-Organisation Elpos Schweiz den Gemütszustand vieler Betroffener gegen Ende der Schulzeit.
Einige mit LRS, ADHS oder ASS schaffen den Übergang auch ohne professionelle Hilfe. Sie haben gelernt, ihre Schwächen zu kompensieren und ihre Stärken zu nutzen. Doch es gibt auch jene, deren Schwierigkeiten in der Schule sich in der Berufswahl, Lehrstellensuche und Lehre fortsetzen. Und auch für sie gibt es Lösungen, für die meisten zumindest. Wer danach sucht, findet Listen von beruflich höchst erfolgreichen Menschen mit ADHS. Und es hat schon manche Legasthenikerin ein Hochschulstudium abgeschlossen. Wobei auch viele der Erfolgreichen auf ihrem Weg individuelle Unterstützung hatten.
Sich Unterstützung holen
Wenn in der zweiten Oberstufenklasse die Berufswahl zum grossen Thema wird, ist es an der Zeit, zu klären, ob das eigene Kind den Herausforderungen gewachsen ist. Sind die Zweifel der Eltern und Lehrpersonen gross, ist es angezeigt, weitere Unterstützung zu suchen. Das kann eine Organisation sein, die sich auf das Defizit des eigenen Kindes spezialisiert hat.
Viel Fachwissen dazu haben auch die kantonalen IV-Stellen, die Job-Coaching von der Berufswahl bis zum Abschluss der Lehre bieten. Die IV zu kontaktieren, kostet viele Eltern Überwindung, weiss Patrick Brütsch, IV-Berufsberater bei der SVA Zürich. «Einige meinen, bei der IV gehe es gleich um Rente und man gelte dann ein Leben lang als behindert.»
Keine Angst vor der IV
Das Gegenteil ist der Fall. Die IV hilft, Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, damit sie keine Rente brauchen. Sie beschäftigt spezialisierte Berufsberaterinnen, die Erfahrung und ein Netzwerk haben, um Jugendliche mit ADHS, einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder psychischen Schwierigkeiten durch die Berufswahl zu begleiten.
Entscheidend ist, dass Menschen mit einem Defizit ihre Stärken kennen und nutzen.
Monika Lichtsteiner, Psychologin und Berufsberaterin
Falls sinnvoll, vermittelt die IV einen Jobcoach, der die Jugendlichen während der Lehre unterstützt. Wichtig: Um von der IV Unterstützung zu erhalten, muss eine Diagnose vorliegen, die von einer spezialisierten Fachstelle erstellt wurde.
Speziell ist die Situation bei LRS. Liegt «nur» eine Lese- oder Rechenschwäche vor, gibt es keine IV-Leistungen. Wobei Leistungen hier als finanzielle Leistungen oder Kostenübernahmen zu verstehen sind. Brütsch versichert: «Wir beraten auch Jugendliche mit einer Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche als einziger Diagnose und vermitteln sie an den passenden Integrationspartner weiter.»

Alternative Wege wählen
Eine KV-Lehrstelle ist mit starker LRS noch schwerer zu erhalten, als sie es ohne bereits ist. Mit ausgeprägter Dyskalkulie eine Informatiklehre zu absolvieren, ist ebenfalls nur schwer möglich. Das liege auch daran, dass die Betroffenen aufgrund formaler Kriterien wie Rechtschreibung und Schul-Mathematik nicht zeigen könnten, was sie draufhaben, wendet Monika Lichtsteiner ein. Sie ist Psychologin und Berufsberaterin und arbeitet seit 20 Jahren mit LRS-Betroffenen.
«Für manche Eltern ist es schwer, zu akzeptieren, dass sich ihre Vorstellungen von der Berufsbildung ihres Kindes auf direktem Weg nicht verwirklichen lassen. Aber ein anderer Beruf bietet die Möglichkeit, das Ziel später zu erreichen», hält sie fest.
Sie beschreibt das Beispiel einer jungen Frau mit starker Schreibschwäche, die mit einer zweijährigen EBA-Lehre in die Berufsbildung einstieg. Danach wollte sie einen technischen Beruf lernen und machte eine Schnupperlehre in diesem Bereich. Dabei beeindruckte sie ihren Berufsbildner so sehr, dass sie eingestellt wurde und nun kurz vor dem Lehrabschluss steht.
«Ihre Auffassungsgabe, die Fähigkeit, technische Probleme zu erfassen und zu lösen, und ihre Fähigkeiten zur Selbstorganisation sind hervorragend. Um sich schriftlich auszudrücken, nutzt sie im Lehrbetrieb digitale Hilfsmittel wie Chat GPT», sagt Lichtsteiner. In der Berufsschule sei der Gebrauch solcher Hilfsmittel aber weiterhin ein Problem.
Diagnose in die Bewerbung?
Eine heikle Frage ist, ob die Diagnose in die Bewerbung gehört oder nicht. Grundsätzlich ist Transparenz wichtig, und wer von der IV unterstützt wird, sollte dies angeben, da beispielsweise die Berufsfachschule diese Information sowieso mit dem Lehrbetrieb teilt. Ausserdem dürfte eine starke ADHS früher oder später sowieso offensichtlich werden.
Ist es aber nur eine leichte Schwäche, die für den gewählten Beruf von geringer Relevanz ist, findet es Monika Lichtsteiner legitim, wenn ein Jugendlicher diese für sich behält. «Aber nur dann, wenn er nicht einen Nachteilsausgleich braucht.» Damit ist eine Kompensation für diagnostizierte Schwächen bei Prüfungen gemeint. Darauf geht dieser Text später ein.
Entscheidend sei, dass Menschen mit einem Defizit ihre Stärken kennen und nutzen. Das beginnt in der Schnupperlehre und setzt sich in der beruflichen Ausbildung fort. Manche müssen ihre Talente selber erst finden, nachdem sie jahrelang in der Schule hauptsächlich negative Beurteilungen erhalten haben. Auch dabei können Fachpersonen helfen.
Ein weiteres Vorurteil sei, dass es die Lehrstellensuche erschwere, wenn die IV beteiligt sei, sagt Patrick Brütsch. Dabei seien viele Lehrbetriebe froh, eine Fachperson zu haben, die sie im Umgang mit einem Lernenden mit besonderen Bedürfnissen berät.

Darauf spezialisierte Fachleute arbeiten beispielsweise bei Impulsis in Zürich, einer Fachstelle für die berufliche Integration von Jugendlichen. Andrea Rüegg, Co-Geschäftsleiterin, beschreibt deren Arbeit so: «Wenn ein Berufsbildner keine Erfahrung mit ADHS hat, erklären wir ihm beispielsweise, was die Beeinträchtigungen bedeuten und dass er dem Lernenden nicht mehrere Aufträge auf einmal geben soll, sondern einen nach dem anderen.» Konzentrationsschwache brauchen vielleicht die Erlaubnis, Noise-Cancelling-Kopfhörer zu tragen oder an einem Ort im Betrieb zu arbeiten, wo sie ihre Ruhe haben.
Dass digitale Hilfsmittel wie Chat GPT, Rechtschreibe-Tools und Online-Übersetzung ohnehin auf dem Vormarsch sind, hilft Menschen mit LRS. Auch Lernende ohne kognitive Schwächen lernen, sie sinnvoll einzusetzen. Und noch eine aktuelle Entwicklung nützt Jugendlichen mit ADHS, LRS, Autismus oder anderen Herausforderungen: «In den Branchen mit Mangel an Lernenden sind viele Betriebe bereit, eine Extrameile zu gehen, um junge Menschen auszubilden», sagt Andrea Rüegg. Diverse weitere Fachleute teilen diese Ansicht.
Nachteilsausgleich bei Prüfungen
Um Jugendlichen mit diagnostizierten Schwächen eine passende Berufsausbildung zu ermöglichen, gibt es noch ein entscheidendes Mittel: Es nennt sich – wie schon erwähnt – Nachteilsausgleich. Diesen können Seh- und Hörbehinderte ebenso in Anspruch nehmen wie Auszubildende mit ADHS, ASS, LRS oder auch mit psychischen Beeinträchtigungen wie beispielsweise einer Sozialphobie.
Nachteilsausgleich kann bei Prüfungen in der Berufsschule gewährt werden und ebenfalls bei praktischen Prüfungen im Betrieb. Jeder Kanton hat eine Stelle, bei der er beantragt werden muss.
Etwas zu präsentieren, gehört in den kaufmännischen Berufen zu den Kernkompetenzen. Jugendliche mit einer Sozialphobie haben da grosse Schwierigkeiten.
Christina Frei Jenni, Prorektorin des Bildungszentrums Zürichsee BZZ
Eine der am häufigsten gewährten Kompensationen ist mehr Zeit, um eine Prüfung zu lösen, 55 statt 45 Minuten seien Standard, sagt Christina Frei Jenni, Prorektorin des Bildungszentrums Zürichsee BZZ, wo Informatik-, Mediamatik-, FaBe- und KV-Lernende ihren Berufsschulunterricht erhalten.
Gewisse Schulen ermöglichen den Einsatz von Assistenzpersonen, die Leseschwachen die Prüfungsaufgaben vorlesen. Am BZZ sei dies nicht möglich, so Frei Jenni. In Einzelfällen könnten Examen jedoch mündlich statt schriftlich abgelegt werden. «Jeder Nachteilsausgleich ist für unsere Schule und unsere Lehrpersonen eine organisatorische Herausforderung, aber wir sind pragmatisch und wohlwollend.»

Schritt für Schritt hernaführen
Dabei seien diese Formen des Ausgleichs noch die einfacheren. Oft werde Gelerntes nicht mehr in klassischen Prüfungen getestet, sondern über Projektarbeiten, Podcasts oder Filme. Da wird es noch anspruchsvoller, auch jenen mit Lernschwächen die gleichen Chancen auf Erfolg zu bieten.
«Etwas zu präsentieren, gehört in den kaufmännischen Berufen zu den Kernkompetenzen», nennt Frei Jenni ein Beispiel. «Jugendliche mit einer Sozialphobie haben da grosse Schwierigkeiten.» Diese könnten erste Präsentationen zu Hause auf Video aufzeichnen und würden dann Schritt für Schritt an das Vortragen vor Publikum herangeführt.
Kommunikation ist entscheidend
Die professionelle Unterstützung und der Nachteilsausgleich könnten im Lauf der Zeit reduziert oder aufgehoben werden, betont IV-Berufsberater Patrick Brütsch. Dem pflichtet Christina Frei Jenni bei. Sie erlebe es immer wieder, dass Jugendliche sagen, sie möchten es ohne Nachteilsausgleich probieren. Vielen Menschen mit LRS, ADHS oder einem anderen Defizit gelinge es mit zunehmender Erfahrung immer besser, ihre Schwächen zu kompensieren und im Arbeitsmarkt gleich viel zu leisten wie Menschen ohne ihre Diagnose.
Damit der Übergang von der Schule in die Berufsbildung gelingt, hilft eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehrbetrieb, Berufsschule und Fachleuten für die berufliche Integration. Entscheidend für viele Jugendliche ist es, im Lehrbetrieb und in der Berufsschule eine Vertrauensperson zu haben. Und was fast alle der Befragten betonen: Die Jugendlichen übernehmen den wichtigsten Part. Sie müssen bereit und motiviert sein, sich weiterzuentwickeln und für ihre Bedürfnisse einzustehen. So wird ihre Diagnose in ihrem Berufsleben irgendwann keine Rolle mehr spielen.