«Lernende mit ADHS haben oft enorme Ressourcen»
Wie geht es weiter nach der Schule? Was braucht es, damit die Ausbildung ein Erfolg wird? Der Heil- und Sonderpädagoge Taulant Lulaj coacht junge Menschen mit ADHS bei der Lehrstellensuche und darüber hinaus.
Herr Lulaj, die Lehrstellensuche ist für junge Menschen generell eine Herausforderung. Was bedeutet dies für Jugendliche mit ADHS?
Der Berufswahlprozess gleicht einem Marathon, für den es viel Ausdauer und Durchhaltevermögen braucht – was vor allem Jugendlichen mit ADHS schwerfällt, die tendenziell alles in letzter Sekunde erledigen. Hinzu kommt: Um eine Lehrstelle zu finden, muss man wissen, was einen wirklich interessiert, wo die eigenen Stärken liegen. Gerade für junge Menschen, die während ihrer Schulzeit oft viel Frustration und Ablehnung erlebt haben, ist dies eine extreme Herausforderung.
Wie kamen Sie dazu, Jugendliche mit ADHS bei der Lehrstellensuche zu coachen?
Ich bin ausgebildeter Heil- und Sonderpädagoge und habe während meiner Zeit im Schuldienst erlebt, wie schwer sich junge Menschen mit ADHS damit tun – vor allem wenn die elterliche Unterstützung nicht gegeben ist oder sie sich von Mutter und Vater nichts sagen lassen wollen. Als Lehrer war ich da oftmals die einzige Konstante. Schülerinnen und Schüler baten mich denn immer wieder um Hilfe, und daraus hat sich allmählich mein heutiges Coaching entwickelt.
Wie gehen Sie bei einem Coaching vor?
Entweder kommt die Sozialversicherungsanstalt Zürich mit einem Fall auf mich zu. Diese unterstützt im Kanton Zürich junge Menschen mit Förderbedürfnissen wie etwa ADHS in der beruflichen Aus- und Weiterbildung und trägt die Kosten. Oder die Eltern kontaktieren mich. Dann mache ich eine Bestandsaufnahme: Wo steht der Jugendliche in der Berufswahl? Was braucht er oder sie genau? Anschliessend unterteilen wir den Prozess in kleine Schritte und legen fest, welche Aufgaben priorisiert werden müssen. Es geht dabei auch um ganz praktische Dinge wie etwa das Erstellen eines Bewerbungsdossiers.
Eltern sollten darauf achten, ihre Kinder nicht überzubehüten oder sie in eine bestimmte Richtung zu drängen.
Welche Rolle spielen die Eltern?
Eine sehr zentrale! Sie kennen ihren Nachwuchs am besten und können oft wertvolle Hinweise geben, zum Beispiel: «Du hast dich schon immer für Naturwissenschaften interessiert – wäre Chemielaborant nicht etwas für dich?» Gleichzeitig sollten Eltern darauf achten, ihre Kinder nicht überzubehüten oder sie in eine bestimmte Richtung zu drängen.
Der Nachwuchs interessiert sich für das Bäckerhandwerk? Ausprobieren lassen! Auch wenn es als Eltern schwer nachvollziehbar ist. Die wenigsten Menschen bleiben heute für Jahre im selben Beruf; es gibt immer Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Das Wichtigste ist, dass Jugendliche etwas finden, was sie wirklich interessiert.
Sollte man ADHS beim potenziellen Lehrbetrieb erwähnen? Oder lieber verschweigen?
Ins Bewerbungsschreiben gehört die Diagnose auf keinen Fall. Hat man jedoch im Vorstellungsgespräch überzeugt, würde ich empfehlen, es zu erwähnen – aber zum richtigen Zeitpunkt und noch vor Vertragsabschluss. Nicht sagen «Übrigens, ich habe ADHS», sondern das Ganze in etwas Positives ummünzen: «Ich habe ADHS, aber wenn ich das und das zur Verfügung habe, kann ich dies und jenes besonders gut.» Auf diese Weise lässt sich eine vermeintliche Stigmatisierung von Anfang an umgehen. Das kann man gut mit einem Coach erarbeiten.
Welche konkreten Dinge können helfen, damit die Lehre ein Erfolg wird?
Eine Autowerkstatt, in der einer meiner ehemaligen Klienten seine Ausbildung machte, hängte zum Beispiel eine Pinnwand auf, sodass der Lehrling genau sehen konnte, an welchen Tagen er Berufsschule hatte und wann er wie eingeteilt war. Dies half ihm, Struktur in seinen Tagesablauf zu bringen. Von dieser Transparenz profitierten letztendlich alle Mitarbeitenden. Eine weitere Jugendliche wünschte sich, jeden Tag in ihrem Ausbildungsbetrieb Feedback zu bekommen statt nur alle paar Wochen.
Ist das Interesse da, sind Menschen mit ADHS oft sehr produktiv und engagiert.
«Das bringt mir viel mehr», fand sie. Also haben wir dies gemeinsam ausgehandelt. Und mit dem Vorgesetzten einer anderen Auszubildenden vereinbarte ich, dass sie nicht eine Stunde Mittagspause macht, sondern stattdessen morgens 15 Minuten, nachmittags 15 Minuten und über Mittag nur eine halbe Stunde. Auf diese Weise kann sie sich besser regenerieren und fokussierter bleiben.
Das klingt alles nach eher kleineren Anpassungen.
Tatsächlich sind es oft nur minimale Stellschrauben, die es zu verändern gilt, damit Auszubildende mit ADHS gut arbeiten können. Ich erlebe da viel Offenheit vonseiten der Betriebe. Allerdings muss man dazu transparent kommunizieren – und zwar von Anfang an. Jugendliche, die während der Schulzeit viel Stigmatisierung erlebt haben, trauen sich dies jedoch oft nicht. Hier hilft es, wenn man sich Unterstützung holt. Und zwar von Beginn an – nicht erst, wenn es Probleme gibt.
Inwiefern profitieren Ausbildungsbetriebe von Jugendlichen mit ADHS?
Ihre Kreativität, ihr Ideenreichtum sowie ihre Hilfs- und Einsatzbereitschaft sind oft enorm, besonders wenn die Beziehung stimmt. Ist das Interesse da, sind Menschen mit ADHS ausserdem oft sehr produktiv und engagiert. Deshalb ist es ja so wichtig, dass der Beruf wirklich passt. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das in der Schulzeit sehr viele negative Erfahrungen gemacht hatte, während der Ausbildung in der Lebensmitteltechnologie aber richtig aufblühte. Voller Begeisterung absolvierte sie in ihrer Freizeit ein zusätzliches Praktikum, das so nicht vorgesehen war.
Unterstützen Sie als Coach auch in der Berufsschule?
Generell sollten Jugendliche das Lernen selbst organisieren. Mit ADHS fällt das jedoch oft schwer – zumal es dann auch einen Arbeitsalltag gibt und man die Lehrperson vielleicht nur noch ein- oder zweimal die Woche sieht. Kurz gesagt: Die Lernorganisation wird nun noch wichtiger. Dabei unterstütze ich bei Bedarf auch. Genauso wie bei der Vorbereitung auf die Matur. Was mir allerdings Sorgen macht, ist der Schulabsentismus bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS.
Wie zeigt sich dies?
Kinder gehen nicht mehr zur Schule aufgrund der vielen negativen Erfahrungen, die sie dort gemacht haben. Dies beginnt erschreckend früh, bereits ab der zweiten oder dritten Klasse. Hier wünsche ich mir von Schule und Eltern ein schnelleres Handeln. Kinder und Jugendliche müssen in schwierigen Situationen sofort aufgefangen und in ihrer Entwicklung gestärkt werden. Viele negative Erlebnisse erschweren später auch die Berufswahl. Wer kein Selbstbewusstsein in Bezug auf Lernen und Schule aufgebaut hat, ist sich seiner eigenen Ressourcen oft gar nicht bewusst.