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«ADHS wird zu schnell und zu oberflächlich diagnostiziert»

Aus Ausgabe
12/01 Dezember/Januar 2025/2026
Lesedauer: 13 min
Die Schwelle zur ADHS-Diagnose sei zu niedrig, kritisiert Soziologe Pascal Rudin. Die zunehmende Medikalisierung wälze Probleme zudem aufs Kind ab und verstelle den Blick auf gesellschaftliche Missstände.
Interview: Virginia Nolan

Bilder: Raphael Waldner / 13 Photo

Herr Rudin, Sie sagen, ADHS sei keine Krankheit, ­sondern ein gesellschaftliches Konstrukt. Das müssen Sie erklären.

Aus medizinischer Sicht bezieht sich der Begriff Krankheit auf eine Störung oder Beeinträchtigung physiologischer Funktionen, die objektiv nachweisbar ist. Man sieht eindeutig, ob ein Arm gebrochen ist oder eine Infektion vorliegt. ADHS hingegen beschreibt die Abweichung von einer Norm, die wiederum von gesellschaftlichen Erwartungen geprägt ist.

Unsere Sicht auf das Kind ist ­defizitorientiert. Man hat zu sehr im Blick, was es zu optimieren gilt.

Es geht um Kinder, die ­hibbelig, unaufmerksam und impulsiv sind.

Genau – beziehungsweise um Verhaltensweisen, die in bestimmten sozialen Kontexten als unangemessen oder auffällig gelten. Die Art und Weise, wie wir kindliches Verhalten einordnen, hängt stark von kulturellen, institutionellen und sozialen Faktoren ab. ADHS ist somit ein gesellschaftlich konstruiertes Phänomen, keine Erkrankung im klassischen Sinn. Es gibt weder Bluttests noch bildgebende Verfahren, die ADHS eindeutig nachweisen können.

Pascal Rudin ist Sozialarbeiter, Soziologe, Mitglied der Expertengruppe ADHS des Bundesamts für Gesundheit sowie Repräsentant für Kinderschutz und Kinderrechte bei den Vereinten Nationen in Genf. Er befasst sich mit den sozialen, kulturellen und ökonomischen Aspekten von Kindheitskonstruktionen.

Das ist bei den meisten psychiatrischen Diagnosen der Fall. Stellen Sie folglich auch die Existenz von Persönlichkeitsstörungen oder Schizophrenie infrage?

Die Psyche ist so komplex, dass wir sie wohl nie auf objektivierbare Messwerte werden herunterbrechen können. Ich kritisiere nicht die psychiatrischen Diagnosen an sich – der gesellschaftliche Diskurs darüber gibt mir zu denken. Gerade in Bezug auf ADHS: Hochkomplexe Sachverhalte werden oft beliebig interpretiert, verkürzt und vereinfacht. Wissenschaftliche Befunde sprechen nicht dafür, dass wir ADHS «wie einen Beinbruch behandeln» sollten, wie es manche Stimmen fordern. Auch gibt es ein paar wichtige Aspekte, die zeigen, dass sich die ADHS-Debatte vom gesellschaftlichen Umgang mit anderen psychiatrischen Diagnosen unterscheidet.

Nämlich?

Erstens betrifft die Mehrheit der ADHS-Diagnosen Kinder, die in einer sensiblen Entwicklungsphase sind. Zweitens spielen bei den Diagnosekriterien Erwartungen an schulische Leistung und Verhaltensweisen, die im schulischen Kontext als wünschenswert gelten, eine Schlüsselrolle. Drittens wird ADHS vergleichsweise schnell medikamentös behandelt statt psychotherapeutisch begleitet. In manchen Kantonen erhalten fast 20 Prozent der Buben zwischen 11 und 15 ​Jahren Psychostimulanzien. Ich meine, es wäre an der Zeit, sich zu hinterfragen, welche Normen da als Massstab dienen.

Wo drückt Ihrer Meinung nach der Schuh?

Aus meiner Perspektive als Soziologe geht das Phänomen ADHS über eine individuelle Störung hinaus. Es ist Ausdruck davon, wie wir als Gesellschaft mit Vielfalt umgehen und Normalität definieren – von Erwartungen, die wir an Kinder stellen. Die Toleranz gegenüber Abweichungen wird immer kleiner, der Anpassungsdruck steigt. Das alles führt zu einer defizitorientierten Sicht aufs Kind. Man hat zu sehr im Blick, was es zu optimieren gilt. Das betrifft auch unser Schulsystem. Es spielt eine zentrale Rolle in der Entstehung und Reproduktion des ADHS-Diskurses.

Inwiefern?

Unsere Schulen sind auf Standardisierung und Leistung ausgerichtet. Kinder, die unterschiedlich sind, sollen das Gleiche leisten. Die berühmte Tiermetapher veranschaulicht das Problem gut: Wenn die Ente stets klettern üben muss, weil sie im Vergleich zum Affen schlechter auf Bäume kommt, wird sie irgendwann nur noch mittelmässig schwimmen – und im Klettern trotzdem schlecht bleiben.

Statt das Kind im sozialen Kontext zu verstehen, sucht man die Ursache in neuronalen Strukturen oder genetischen Dispositionen. Das ist aus meiner Sicht eine problematische Verkürzung.

Wenn nur bestimmte Fähigkeiten als wertvoll gelten, werden Kinder, die andere Stärken mitbringen, zu Verlierern gemacht. Eine ressourcenorientierte Schule müsste Vielfalt anerkennen und fördern, kindlichen Grundbedürfnissen nach Sinnhaftigkeit, Teilhabe und so weiter adäquat begegnen.

Stattdessen sollen Kinder ruhig sitzen und funktionieren. Wer das nicht so gut kann, gilt als auffällig. Hinzu kommt ökonomischer Druck: Betreuungseinrichtungen müssen effizient arbeiten, Lehrpersonen grosse Klassen unterrichten.

Nun ja, die Schule hatte, als ADHS noch kein Thema war, vermutlich höhere Erwartungen an Kinder: Es galten Zucht und Ordnung, Frontalunterricht war die Regel, Klassen mit über 30 Kindern ebenso.

Und Kinder, die laut oder ungestüm waren, wurden bestraft. Ich behaupte nicht, dass die Schule früher besser war, und will auch nicht leugnen, dass ein Wandel stattgefunden hat. Es würde überdies zu kurz greifen, den ADHS-Diskurs an der Schule allein aufzuhängen – aber sie spielt eine wichtige Rolle. Die Schule ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Wertesystems, das sich stets im Wandel befindet. Heute ist man sich weitgehend einig, dass Züchtigung als Erziehungsmittel ein No-Go ist – man darf trotzdem kritisch hinterfragen, inwieweit sich die Position des Kindes verbessert hat. Dazu muss ich ein bisschen ausholen.

Bitte.

Unsere Sicht aufs Kind, die Art und Weise, wie wir sein Verhalten deuten und darauf reagieren, hat sich historisch verändert. Im vorletzten Jahrhundert galten Kinder, die aneckten, als moralisch fehlgeleitet. Man ging davon aus, dass sie durch Züchtigung auf den richtigen Weg gebracht werden müssen.

Mit dem Aufkommen der Psychoanalyse veränderte sich diese Denkweise: Nun war die Mutter für kindliches Fehlverhalten verantwortlich. Später weitete sich dieser Blick etwas, man suchte Ursachen vermehrt in familiären Dynamiken. Wir entwickelten uns vom moralisch geprägten Weltbild, das den Fehler beim Kind sieht, hin zu einem psychosozialen Ansatz, der Umgebungsfaktoren beleuchtet. Dieser wird nun immer mehr abgelöst durch ein medizinisch-biologisch orientiertes Weltbild.

Das heisst?

Wir haben es mit einer zunehmenden Medikalisierung zu tun, der Tendenz, dass schwierige Verhaltensweisen, belastende emotionale Zustände oder Probleme, die nun einmal Teil der menschlichen Realität und des menschlichen Erlebens sind, medizinisch gedeutet und als behandlungsbedürftig eingestuft werden.

Die Schwelle zur ADHS-Diagnose ist heute so niedrig, dass sie kaum noch zwischen Entwicklungsvarianz und behandlungsbedürftiger Störung unterscheidet.

Wenn kindliches Verhalten Fragen aufwirft, sucht man die Antwort immer öfter in den Neurowissenschaften. Auffälligkeiten werden im Gehirn verortet, komplexe Lebenslagen in Krankheiten übersetzt. Statt das Kind im sozialen Kontext zu verstehen, sucht man die Ursache in neuronalen Strukturen oder genetischen Dispositionen. Das ist aus meiner Sicht eine problematische Verkürzung, die gesellschaftliche Verantwortung ausblendet.

Dann halten Sie ADHS für ein Zeitgeistphänomen, während Forschungsresultate nahelegen, dass es sich um eine neurobiologische Störung handelt?

Ich bestreite nicht die Existenz dieses Störungsbilds. Aber ich wiederhole: Es gibt kein medizinisches Verfahren, das es eindeutig identifizieren kann – was aus meiner Sicht zumindest einen vorsichtigeren Umgang damit gebieten würde. Forschende sind in ihren Aussagen stets zurückhaltend und nie so absolut, wie Medien den Sachverhalt verhandeln. Da werden vage angedeutete Hinweise schnell zu kausalen Zusammenhängen, selbst minimale Unterschiede in bildgebenden Verfahren als neurobiologische Tatsachen präsentiert, sogar dann, wenn es ihnen an statistischer Aussagekraft fehlt. Es ist nachvollziehbar, dass Menschen dafür empfänglich sind.

«In der Schweiz nimmt bereits mehr als jeder zehnte Bub zwischen 11 und 15 ​Jahren ADHS-Medikamente ein. Im Kanton Neuenburg sind es sogar fast 20 Prozent. Wir haben es mit einer diagnostischen Inflation zu tun», sagt Pascal Rudin.

Was meinen Sie damit?

Wir leben in einer Welt, die Effizienz, Selbstoptimierung und Wettbewerb fördert und Scheitern auf die Verantwortung des Einzelnen abwälzt. Zum Performance-Druck, dem Eltern umso stärker unterliegen, weil sie ihr Kind für die Leistungsgesellschaft fit machen sollen, kommen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, der Einfluss digitaler Medien, die enge Taktung schulischer Anforderungen, überlastete Lehrpersonen und ein Schulsystem, das Hilfe an Dia­gnosen koppelt. Diese Entwicklung wälzt strukturelle Probleme immer mehr aufs Individuum ab – das Kind ist das Problem – und verstellt den Blick auf zugrundeliegende Missstände. Als Folge davon haben wir es mit einer diagnostischen Inflation zu tun.

Medizinerinnen bestreiten dies: Sie gehen weiterhin von 5 Prozent Betroffenen weltweit aus und begründen die Zunahme an ADHS-Diagnosen mit verbesserter Aufklärung, Sensibilisierung und Diagnostik.

Diese Argumentation ist mir vertraut. Natürlich kann eine erhöhte Sensibilisierung zu mehr Diagnosen führen, aber das allein erklärt nicht die erheblichen regionalen Unterschiede. Wenn Diagnoseraten in verschiedenen Ländern, sogar innerhalb der Schweiz, stark variieren, zeigt das doch: Es handelt sich hier nicht um eine biologisch determinierte Grösse, sondern um ein gesellschaftlich konstruiertes Bewertungsmuster, das darüber entscheidet, ob ein Kind als ADHS-betroffen gilt oder nicht. Technisch basiert die häufig zitierte Prävalenzrate von 5 Prozent, also der Anteil Betroffener, auf statistischen Verfahren, bei denen internationale Prävalenzwerte – die zwischen 1 und fast 18 Prozent schwanken – zu einem Durchschnittswert modelliert wurden. Es gibt allerdings gute Gründe, diesen Wert infrage zu stellen.

Ich leugne nicht den Leidensdruck der Kinder. Ich will nur, dass man die richtigen ­Fragen stellt.

Warum?

Eine Prävalenzrate von 5 Prozent ist eine groteske ­Untertreibung angesichts der Tatsache, dass in der Schweiz bereits mehr als jeder zehnte Bub zwischen 11 und 15 ​Jahren ADHS-Medikamente einnimmt. Im Kanton Neuenburg sind es, wie gesagt, in der ­Altersgruppe fast 20 Prozent der Buben. Das ist aus meiner Sicht eine Untergrabung der Idee von Normalität in der kindlichen Entwicklung. Die Menge an verschriebenen ADHS-Präparaten in der Schweiz steigt und steigt – seit 2021 um jährlich 10 Prozent. Sicher: Man weiss nicht, ob diese Medikamente auch eingenommen werden. Doch selbst unter Berücksichtigung dieser Unsicherheit liegen solche Werte deutlich über dem, was die Ärzte während Jahrzehnten als sinnvoll bezeichnet hatten.

Nämlich?

Man ging stets davon aus, dass rund die Hälfte der 5 Prozent von Kindern, die ADHS haben, eine medikamentöse Behandlung brauchen. Diese Marke haben wir längst überschritten: Rund 4 Prozent aller Schweizer Schulkinder – bei den Buben sind es 5,5 Prozent – erhalten ADHS-Medikamente via Grundversicherung, hinzu kommen die Fälle, in denen die Invalidenversicherung die Kosten trägt. Diesen Anstieg begründet man nun damit, dass die Vollversorgung noch nicht erreicht sei und Nachholbedarf aufgrund Unterdiagnostizierung bestehe. Gleichzeitig bemüht man immer wieder die Prä­valenzrate von 5 Prozent als scheinbaren Beleg dafür, dass alles in geordneten Bahnen verläuft. Schon vor zehn Jahren rügte der Uno-Kinderrechtsausschuss die Schweiz dafür, dass ADHS bei Kindern zu häufig und zu oberflächlich diagnostiziert werde.

«Zu oberflächlich»: Was heisst das?

Mittlerweile monieren vermehrt auch Ärzte, mit denen ich durch meine Arbeit in der ADHS-Expertengruppe des Bundesamts für Gesundheit in Kontakt stehe, dass etwas aus dem Ruder läuft. Ich höre von Fällen, in denen Abklärungen im Rahmen einer einmaligen Konsultation stattfanden und Diagnosen auf Basis eines kurzen Gesprächs und standardisierter Fragebögen gestellt wurden. Ich bemängle, dass dafür keine psy­chiatrische Expertise nötig ist – auch Kinder- und Hausärzte ohne entsprechende Spezialisierung können die Diagnose ADHS stellen.

Hinzu kommt, dass die Diagnosekriterien in psychiatrischen Klassifikationssystemen wie dem DSM-5 kontinuierlich ausgeweitet wurden. Die Schwelle zur Diagnose ist heute so niedrig, dass sie kaum noch zwischen Entwicklungsvarianz und behandlungsbedürftiger Störung unterscheidet. Es besteht viel Interpretationsspielraum.

«Früher mussten die Symptome seit mindestens einem Jahr akut anhalten, heute darf ADHS nach einem halben Jahr diagnostiziert werden», sagt Pascal Rudin im Gespräch mit Fritz+Fränzi-­Redaktorin Virginia Nolan.

Können Sie dafür ein Beispiel machen?

Früher war für die Diagnose ADHS eine stärkere Beeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen erforderlich. Heute reichen gemäss DSM-5 bereits sechs von neun sehr allgemein gehaltenen Symptomen wie «verliert oft Dinge», «hat Schwierigkeiten damit, leise zu spielen», «ist leicht abzulenken» oder «hat oft Schwierigkeiten zu warten».

Früher mussten die Symptome seit mindestens einem Jahr akut anhalten, heute darf ADHS nach einem halben Jahr diagnostiziert werden. Wir laufen Gefahr, dass die Diagnose mit einer Checklisten-Bilanz gleichgesetzt wird, unabhängig davon, ob tatsächlich eine Störung vorliegt – zumal auch Konflikte und Kummer bewirken können, dass Kinder impulsiv, unaufmerksam oder ungehalten sind. Es braucht eine multiperspektivische Diagnostik, die auch pädagogische, familiäre und gesellschaftliche Faktoren einbezieht. Nur dann können wir sinnvolle Hilfen entwickeln.

Sie ernten für Ihre Aussagen viel Kritik. Man wirft Ihnen vor, dass Sie die Existenz einer neurobiologischen ­Störung anzweifeln und ­damit den Leidensdruck ­betroffener Kinder leugnen.

Ich nehme das Leiden der Kinder und ihrer Familien sehr ernst. Gerade deshalb kritisiere ich die vorschnelle Pathologisierung. Denn eine Diagnose kann stigmatisieren, sie kann den Blick auf soziale Ursachen verstellen und zu Behandlungen führen, die nicht immer hilfreich sind. Mein Bestreben ist es, den Blick zu weiten – auf das Umfeld, die gesellschaftlichen Bedingungen, die Verantwortung, die wir als Gemeinschaft tragen. Wer das als Bagatellisierung deutet, missversteht meinen Punkt. Ich leugne nicht den Leidensdruck oder dass Kinder im besagten Fall Unterstützung brauchen. Ich will nur, dass man dabei die richtigen Fragen stellt.

Eine Medikamentengabe ohne begleitende Gespräche, schulische Intervention und therapeutischen Einbezug der Familie halte ich für verantwortungslos.

Und keine Medikamente verschreibt?

Ich bin kein Gegner von Ritalin und ähnlichen Präparaten. In bestimmten Fällen können sie sinnvoller Bestandteil einer Unterstützung sein, vorausgesetzt, ihr Einsatz wird sorgfältig begründet, regelmässig überprüft und kritisch hinterfragt. Das Problem ist die fast reflexartige Verschreibung von Medikamenten, ohne dass zuvor andere Massnahmen ausgeschöpft oder erwogen wurden. Eine Medikamentengabe ohne begleitende Gespräche, schulische Intervention und therapeutischen Einbezug der Familie halte ich für verantwortungslos. Es geht nicht darum, ob, sondern unter welchen Bedingungen Ritalin verschrieben wird. Oder aber man entscheidet sich als Gesellschaft für einen Kurswechsel und greift bewusst zum Giesskannenprinzip.

Was wollen Sie damit sagen?

Der Hausarzt einer Familie, die ich als Sozialarbeiter begleitete, sagte einmal, dass viel mehr Kinder von Methylphenidat – dem in ADHS-Medikamenten enthaltenen Wirkstoff – profitieren könnten, im Grunde auch sollten, wo Umweltanforderungen immer komplexer würden. Wenn es ein Instrument gibt, das ihnen mehr Ausdauer und Konzentration ermöglicht, warum es nicht nutzen? Methylphenidat hat eine hohe Responder-Rate, es sprechen viele darauf an.

In der Berufswelt macht man sich die antriebssteigernde Wirkung von Ritalin und Co. bereits zunutze, auch greifen bekanntlich immer mehr Studierende darauf zurück, um in Prüfungsphasen leistungsfähiger zu sein. Die Frage ist: Wollen wir Neuroenhancement, also die Steigerung geistiger Leistungsfähigkeit durch psychoaktive Sub­stanzen, auch bei Kindern etablieren? Mit solchen Fragen müssen wir uns auseinandersetzen. Darüber die Hände zu verwerfen, ist keine Lösung, wenn je nach Region bereits jedes zehnte bis achte Kind eine solche Substanz einnimmt.

Nirgendwo in der Schweiz bekommen so viele Kinder ADHS-Medikamente wie im Kanton Neuenburg. Woran liegt das?

Das lässt sich nicht abschliessend beurteilen, aber es gibt Indizien: Eine stärkere Orientierung am französischen Gesundheitssystem, das generell einen höheren Trend zur Medikalisierung aufweist, oder eine traditionell engere Verflechtung zwischen medizinischer Diagnostik und schulischer Unterstützung.

Demgegenüber ist man im Tessin sehr zurückhaltend: Nur 0,8 Prozent der Schulkinder erhalten ADHS-­Präparate verschrieben.

Das Tessin ist ein spannendes Beispiel dafür, dass es auch anders geht. Einerseits ist der Kanton beeinflusst vom südlichen Nachbarn Italien, wo die Skepsis gegenüber Ritalin gross ist, die Verschreibung sogar lange Zeit verboten war. Andererseits besteht im Tessin eine traditionell stärkere Orientierung an pädagogischen und sozialen Lösungen. Das Bildungssystem ist insgesamt etwas durchlässiger, weniger stark von früher Selektion geprägt, der Umgang mit kindlicher Unruhe oft weniger defizitorientiert. Auch in der ärztlichen Praxis scheint man zurückhaltender mit Diagnosen und Medikamenten umzugehen. Das zeigt: ADHS ist kein naturwissenschaftlich eindeutiges Phänomen, sondern hochgradig kulturell formbar.