ADHS: «Hier finden die Kinder ihre Stärken jenseits der Schule»
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«Hier finden die Kinder ihre Stärken jenseits der Schule»

Lesedauer: 2 Minuten

Erst nach der ADHS-Diagnose ihres älteren Sohnes lernt Cornelia, dass sie selbst davon betroffen ist. Die dreifache Mutter erzählt, weshalb sie sich mit ihrer Familie bewusst für das Landleben entschieden hat.

Aufgezeichnet von Kristina Reiss
Bild: Paolo De Caro / 13 Photo

Cornelia, 49, und ihr Mann Marc, 48, leben mit ihren Kindern Sophia*, 14, Andreas, 11, und Maria, 11, in einem kleinen Dorf.

Drei von fünf Familienmitgliedern haben bei uns ADHS. Unser Sohn Andreas bekam als Erster die Diagnose. Er war von Anfang an ein sehr quirliges Kind mit grossem Entdeckerdrang und einer sehr kurzen Aufmerksamkeitsspanne für alles, was nicht mit Maschinen und Werkzeug zu tun hat. Als es um die Versetzung vom Kindergarten in die Schule ging, waren in seinem Qualibogen mehrere Punkte als ungenügend markiert. Die Lehrperson meinte zwar, ‹da können wir noch zuwarten›, doch mein Mann und ich liessen nicht locker.

Wir wussten: Es gibt Förderstufen, die man einfordern kann.

Wir waren sensibilisiert durch unsere jüngste Tochter und ihre Sehbehinderung. Wir wussten: Es gibt Förderstufen, die man einfordern kann. Andreas hat heute Förderstufe B, so bekommt er wegen seiner Dyskalkulie separaten Mathe-Unterricht und hat inzwischen fast aufgeholt. Dazu nimmt er ein ADHS-Medikament. Damit geht es ihm gut.

Nach Andreas’ Diagnose sollte ich mich auch testen, weil es bei ADHS ja oft eine erbliche Komponente gibt. Prompt ergab sich ebenfalls ein positiver Befund. Ich war zwar immer eine gute Schülerin und im Beruf klappte auch alles – vermutlich aber nur, weil ich manches kompensieren konnte. Nach mehreren Unfällen mit Kopfverletzungen funktioniert das jedoch nicht mehr. Seither sind alle Geräusche etwa gleich laut und ich kann Gesprächen in lärmiger Umgebung kaum folgen. Was mir jedoch seit Kurzem etwas hilft, ist ebenfalls ein ADHS-Medikament.

Der Weg mit ADHS von Tochter Sophia

Auch unsere grosse Tochter Sophia war immer sehr gut in der Schule. Doch in der fünften Klasse hatte sie plötzlich Mühe mit Mathematik. Wir konnten uns das nicht erklären und liessen sie auf ADHS testen – mit ebenfalls positivem Befund. Sie bekam Ritalin, verstand Mathematik wieder, wurde jedoch bald depressiv. Wir dachten, es liege an der beginnenden Pubertät, doch im Unterricht war die Veränderung so sehr spürbar, dass uns die Lehrperson kontaktierte und Sophia das Medikament wieder absetzte.

Die Tiere tun uns allen gut und bringen viel Struktur in den Alltag.

Nach einigen Wochen hatten wir unsere fröhliche Tochter zurück. Im Gymnasium fühlte sie sich dann wie ein Fisch im Wasser, kam allerdings mit ihren Lernstrategien nicht mehr überall zurecht. Hier sind wir noch am Herumpröbeln, mit ADHS-Lernratgebern, Coachings und allenfalls einer tiefen Dosis eines anderen ADHS-Medikaments.

Wer ADHS hat, dem erscheint die Welt laut

Angesichts des manchmal turbulenten Alltags, der auch für die beiden ohne ADHS nicht immer einfach ist, hat es sich für unsere Familie sehr gelohnt, dass wir unser Einfamilienhaus im Mittelland verkauft haben und in ein Dorf am Ende der Schweiz gezogen sind. Wir wollten entschleunigen, mehr Zeit zusammen haben, die Kinder von den elektronischen Geräten wegbringen, näher am Herzschlag der Natur sein. Heute leben wir mit fünf Alpakas, zwei Pferden, einem Hund und vier Katzen.

Die Tiere tun uns allen gut und bringen viel Struktur in den Alltag: Ausmisten, Spazierengehen und Füttern müssen einfach sein. Und natürlich Knuddeln. Vor allem aber finden die Kinder hier ihre Stärken jenseits der Schule: Andreas ist richtig aufgeblüht beim Stallmisten, Heuen und Traktorfahren; Sophia reitet, und Maria hat einen Draht zu Tieren entwickelt. Hinzu kommt: Wer ADHS hat, dem erscheint die Welt recht laut. Die Tiere und die Natur aber nehmen den Lärm weg. Sie lenken den Blick wieder auf das Wesentliche. Und dann ist alles gut.»

*  Namen der Kinder von der Redaktion geändert.

Kristina Reiss
ist freischaffende Journalistin und Mutter einer Tochter, 12, und eines Sohnes, 9. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

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