ADHS und Schule: So gehts
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ADHS und Schule: So gehts

Lesedauer: 12 Minuten

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ist die häufigste Entwicklungsstörung im Kindesalter. Was bedeutet das für die Betroffenen? Für Eltern, Lehrpersonen, Schulkolleginnen und -kollegen? Und was braucht es, damit Kinder und Jugendliche mit ADHS gut lernen?

Text: Kristina Reiss
Bilder: Paolo De Caro / 13 Photo

Johan hört jedes Geräusch. Er hat Mühe, sich in der Schule zu konzentrieren, und bei den Hausaufgaben verliert er schnell den Blick auf das Wesentliche. Auch Hanna fällt die Konzentration schwer: Was ihre Lehrperson ihr erklärt, kann sie sich oft nicht merken. Andere Dinge hingegen behält sie wunderbar im Gedächtnis.

Johan und Hanna, die in diesem Dossier zu Wort kommen, haben ADHS. Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ist die häufigste Entwicklungsstörung im Kindesalter. Kinder und Jugendliche, die von ADHS betroffen seien, verfügten in Bezug auf ihr Alter und ihre Fähigkeiten über nicht entsprechende Aufmerksamkeit und Ausdauer, beschreibt es Oskar Jenni, Kinder- und Jugendmediziner sowie Co-Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich, und betont: «ADHS ist keine psychische Störung, sondern eine Entwicklungsstörung.» Laut internationalen Studien sind etwa drei bis fünf Prozent der Kinder davon betroffen.

Mädchen und Frauen haben genauso oft ADHS, bei ihnen wird es nur weniger erkannt.

Unterschied man früher zwischen ADHS und ADS – der Version ohne Hyperaktivitätsstörung –, arbeiten Ärztinnen und Ärzte sowie Forscherinnen und Forscher heute mit dem Oberbegriff ADHS. «Meist haben wir es ohnehin mit Mischformen zu tun, zudem lassen sich die verschiedenen Symptome nur schwer voneinander abgrenzen», sagt René Kindli. Er ist Kinder- und Jugendarzt in Mauren (FL) und beschäftigt sich in seiner Praxis seit vielen Jahren mit ADHS.

Die drei Symptome der Störung sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität oder eine Kombination daraus. Auch die Ausprägung sowie die Schweregrade sind sehr individuell und völlig unterschiedlich, dabei reicht die Bandbreite von kaum wahrnehmbaren bis sehr starken Symptomen.

Verträumte Mädchen, hyperaktive Jungen

Häufig zeigt sich eine ADHS beim Schuleintritt – wenn die Anforderungen an Kinder plötzlich deutlich höher sind und sie diesen aufgrund ihrer Symptomatik nicht gerecht werden können. Bei Menschen ohne Hyperaktivitätskomponente hingegen wird ADHS oft erst in der Oberstufe oder im Erwachsenenalter bemerkt. Sie wirken zwar häufig verträumt und abwesend, ecken aber durch ihr Verhalten nicht an, sodass zunächst kein Handlungsbedarf gesehen wird.

Der Reizfilter funktioniert bei ADHS nicht, sodass zu viele Reize ungefiltert eindringen.

René Kindli, Kinderarzt

Die verträumte Form ist bei Mädchen und Frauen häufiger zu finden, die hyperaktive bei Jungen. Bis vor ein paar Jahren dachte man, ADHS betreffe dreimal so viele Jungen wie Mädchen. Heute ist klar: Mädchen und Frauen haben genauso oft ADHS, bei ihnen wird es nur weniger erkannt.

So unterschiedlich die Ausprägungen der Symptome von ADHS auch sind, eines haben alle Betroffenen gemeinsam: die besonderen Bedürfnisse beim Lernen. Doch wo genau liegen die Herausforderungen? Wie sieht ein guter Unterricht für Kinder mit ADHS aus? Wie können Eltern und Lehrpersonen sie gezielt unterstützen? Zur Klärung dieser Fragen haben wir mit Fachleuten gesprochen und lassen in diesem Dossier auch betroffene Familien zu Wort kommen.

ADHS: Eine neurobiologische Besonderheit

Um erklären zu können, was ein Kind mit ADHS zum Lernen braucht, lohnt es sich, zunächst zu erklären, wie sein Gehirn funktioniert. Laut Experten wie René Kindli handelt es sich bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung um eine neurobiologische Besonderheit, eine Entwicklungsstörung des Gehirns. Diese besteht lebenslang und ist vor allem auf genetische Veranlagung zurückzuführen. Dabei arbeiten ADHS-Gehirne nicht schlechter – nur anders.

Es geht nicht um ein Nicht-Wollen, sondern um ein Nicht-Können.

Stefanie Rietzler, Psychologin

Betroffen sind vor allem Gehirnregionen, die bei der Verhaltenssteuerung und der Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. So ist bei Menschen mit ADHS die Kommunikation von Nervenzelle zu Nervenzelle im Gehirn beeinträchtigt. Der Botenstoff Dopamin bleibt nicht lange genug im sogenannten synaptischen Spalt, um einen Effekt auf die benachbarten Nervenzellen ausüben zu können. Somit werden Informationen nicht gut weitergeleitet, die neuronale Kommunikation ist gestört. «Auch der Reizfilter funktioniert nicht, sodass zu viele Reize ungefiltert eindringen», sagt Kinderarzt René Kindli.

Die Lenkung der Aufmerksamkeit

Die Folge: In der Schule werden Kinder mit ADHS von allem magisch angezogen, was bunt, laut, neu und für sie interessant ist oder sich bewegt: das Getuschel in der hinteren Bank, ein Vogel, der sich auf einem Zweig vor dem Fenster niederlässt. Zudem würden sie schnell in Tagträume abgleiten und dabei ihre Arbeitsaufträge vergessen, sagen Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund. Die beiden Psychologen und Lerncoaches leiten in ihrer Zürcher Akademie für Lerncoaching Weiterbildungen zum Thema ADHS und haben einen umfangreichen Elternratgeber geschrieben.

Paradoxerweise können Kinder mit ADHS aber auch stundenlang sehr gut bei der Sache bleiben – etwa beim Legospielen, Programmieren oder Gamen, kurz, wenn sie intrinsisch motiviert sind. «Aussenstehende sagen dann oft: ‹Dieses Kind kann ja gar nicht ADHS haben!›», erzählt Stefanie Rietzler. «Wir erklären dann, dass ADHS eigentlich ein Aufmerksamkeits-Lenkungs-Defizit ist.»

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Der Umzug aufs Land hat Andreas und Maria gutgetan. In der Natur finden sie besser zu ihren Stärken.

Diesen Kindern fällt es schwer, ihren Fokus bewusst auf das zu lenken, was gerade von aussen erwartet wird. Viel eher wird die Matheaufgabe, die die Lehrerin gerade erklärt, plötzlich von Gedanken an das spannende Hörspiel vom Vorabend verdrängt. «Es geht deshalb nicht um ein Nicht-Wollen, sondern um ein Nicht-Können», betont Rietzler.

Aufgrund der permanenten Anforderung, sich zu konzentrieren und den Fokus zu halten, ist die Schule für diese Kinder besonders anstrengend – was schnell zu Ermüdung führt. «Viele Eltern erzählen, dass für ihr Kind am Mittwoch die Woche schon gelaufen sei, weil es sich in der Schule immer so zusammenreissen müsse», sagt die Psychologin.

Die drei Symptome von ADHS
  • Unaufmerksamkeit: Die Betroffenen lassen sich durch äussere Reize leicht ablenken. Sie können den Fokus nur schwer auf eine bestimmte Sache halten, wichtige Details werden übersehen, Materialien oder Arbeitsaufträge gehen vergessen.
  • Impulsivität: Der Arbeitsstil von Betroffenen ist ungeordnet und chaotisch, in ihren Gesprächen gibt es keinen roten Faden, die Frustrationstoleranz ist gering.
  • Hyperaktivität: Betroffene haben Mühe, ruhig zu sitzen, stehen wiederholt vom Arbeitsplatz auf, sprechen oder singen in unpassenden Situationen

Störfaktor Impulsivität

Für die Schulleistung des betroffenen Kindes spielt der Aspekt der Unaufmerksamkeit die grösste Rolle; darunter leidet es aber oft im Stillen. Den Aspekt der Impulsivität hingegen bekommen auch Mitschülerinnen und Mitschüler sowie Lehrpersonen deutlich zu spüren. Wer sich im Unterricht nicht an Regeln halten kann, ständig dazwischenredet und seine Emotionen nicht zu steuern vermag, eckt bei anderen an. Auch die Hyperaktivität und der damit verbundene starke Bewegungsdrang führen zu Unruhe in der Klasse.

Zu Hause sind Hausaufgaben bei einem Kind mit ADHS oft ein grosses Streitthema.

Hinzu kommt: Mit ADHS gehen oft Lernstörungen einher – etwa im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen –, was den Schulalltag für diese Kinder noch herausfordernder macht. «Oft haben Schülerinnen und Schüler mit ADHS deshalb den Eindruck, sie könnten nichts und würden sowieso alles falsch machen», so Stefanie Rietzler. Was dazu führen kann, dass diese Kinder jegliche Motivation verlieren, in die Rolle des Klassenclowns schlüpfen oder sich ganz verweigern.

Zu Hause wiederum sind Hausaufgaben oft ein grosses Streitthema: Kinder und Jugendliche fangen nicht damit an oder bleiben nicht dran – was zu vielen Konflikten mit den Eltern führt. «Diese fühlen sich wie Hilfslehrer, die permanent schauen müssen, dass der Nachwuchs den Anschluss nicht verliert», beobachtet Fabian Grolimund. Auf Dauer besteht dann die Gefahr, dass ihre Beziehung zum Kind leidet.

ADHS-Diagnose und erste Massnahmen

Wer ADHS hat, ist also vereinfacht gesagt unaufmerksam, impulsiv oder zappelig. Diese Verhaltensweisen sind für die Kindheit bis zu einem gewissen Grad zunächst nicht ungewöhnlich. Für die Diagnose ist deshalb die Frage entscheidend, ab wann man von einer Störung sprechen kann. Um Kinder nicht irrtümlich einzustufen, haben sich Fachleute auf bestimmte Kriterien geeinigt, die für eine ADHS-Diagnose erfüllt sein müssen.

Ausgebildete Fachpersonen wie Kinder- und Jugendpsychiaterinnen oder Kinderärzte untersuchen dies gründlich. Ausserdem beleuchten sie die Patienten- und Familiengeschichte und schliessen andere Störungen aus, die ADHS-ähnliche Symptome auslösen könnten.

Fühlen sich ADHS-Kinder von der Lehrperson wertgeschätzt, strengen sie sich enorm an.

René Kindli, Kinderarzt

Abhängig von der Schwere der ADHS leiten sich dann die Massnahmen ab, die ein Kind braucht, um gut durch die Schulzeit zu kommen. Helfen schon wenige, klar formulierte Arbeitsstrategien? Ist ein Nachteilsausgleich in der Schule sinnvoll? Braucht es Medikamente?

«Zum Teil helfen nur schon regelmässige Bewegung und ein klarer, strukturierter Unterricht», sagt Kinderarzt René Kindli. Von manchen modernen Ansätzen hingegen wie etwa der Arbeit mit Wochenplänen, die viel Selbstorganisation verlangt, seien ADHS-Kinder einfach überfordert – «weil sie keine Struktur im Kopf haben».

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Statt eines schwammigen «Bis Freitag bearbeitet ihr alle drei Seiten»-Arbeitsauftrags helfe ihnen ein konkretes «Bis morgen rechnet ihr Aufgabe fünf bis zehn». Vor allem aber brauchen diese Schülerinnen und Schüler ganz viel Verständnis: einfühlsame Lehrpersonen, die merken, wenn ein Kind wegdriftet, und rechtzeitig eingreifen, ohne es blosszustellen – etwa indem sie es sanft berühren und daran erinnern, dass es wieder aufpassen soll.

Drei Punkte, um besser zu lernen

Rietzler und Grolimund setzen auf drei Punkte, damit von ADHS betroffene Kinder und Jugendliche in der Schule besser zurechtkommen.

  1. Die Umgebung ans Kind anpassen, soweit dies möglich ist – sprich, nicht zu viele Hausaufgaben aufgeben, mit Gehörschutz arbeiten, einen Platz für das Kind in der Nähe der Lehrperson schaffen und vieles mehr.
  2. Strategien entwickeln, die Betroffenen helfen, sich selbst besser zu steuern. «Hier darf man das Kind allerdings nicht überfordern», warnt Grolimund. «Also nicht fünf Punkte gleichzeitig üben, sondern sich auf einen Aspekt beschränken.» Etwa: Wie schaffe ich es, mir jeden Tag die Hausaufgaben zu notieren?
  3. Akzeptieren, dass das Kind über bestimmte Stärken und Schwächen verfügt und aus ihm kein anderer Mensch gemacht werden soll.

«Es ist ein ganz schlimmes Gefühl, wenn Kinder merken: ‹Die Erwachsenen hätten mich lieber anders›», so Grolimund. Deshalb sei es extrem wichtig, dass Eltern ihrem Nachwuchs vermitteln: «Du bist in Ordnung!», und darauf vertrauen, dass das Kind seinen Weg geht.

In der Schule wiederum sollte Kindern bewusst sein: «Ich bin hier willkommen.» Sobald bei ihnen das gegenteilige Gefühl dominiere, verstärkten sich die Probleme oft massiv – die Betroffenen würden sich dann häufig abwerten, Desinteresse an schulischen Themen vorgeben, in den Widerstand gehen oder Prüfungs- und Schulängste entwickeln.

Ich bin oft überrascht, wie wenig Kinder und Jugendliche über ihre Diagnose, und was in ihrem Hirn passiert, wissen.

Alice Caduff Scheuner, Heilpädagogin

Kinder mit ADHS sind extreme Beziehungsmenschen

Generell, so zeigt auch die Forschung, sind Menschen mit ADHS extreme Beziehungsmenschen. Auf die Schule übertragen bedeutet das: «Fühlen sich ADHS-Kinder von der Lehrperson wertgeschätzt, strengen sie sich enorm an», sagt Kinderarzt Kindli. «Haben sie hingegen das Gefühl, dass die Lehrperson sie nicht mag, schalten sie ab.»

«Sie reagieren sehr viel empfindsamer auf Lob und Kritik und wie wir mit ihnen kommunizieren», gibt auch Stefanie Rietzler zu bedenken. Deshalb seien zielgerichtete Rückmeldungen wichtig – etwa, wenn die Lehrperson feststellt, dass ein Kind eine Situation gut gemeistert hat («Das war ein kniffliges Arbeitsblatt, aber du bist drangeblieben!»).

Mehr Bestärkung sei sinnvoll, findet auch Fabian Grolimund, aber noch wichtiger wäre weniger Kritik: «Viele Kinder mit ADHS stehen unter Dauerbeschuss. Würde man eine Liste erstellen, was sie jeden Tag zu hören bekommen, würde einem schlecht.»

Verantwortung übergeben

Alice Caduff Scheuner ist Heilpädagogin und ADHS-Coach und arbeitet in der integrativen Förderung an einer Oberstufe in Thun BE. Sie unterrichtet im Teamteaching, in Kleingruppen und coacht von ADHS betroffene Jugendliche eins zu eins. Gemeinsam mit Betroffenen schaut sie: Wurden Arbeitsaufträge verstanden? Was braucht es, damit sich die Jugendlichen besser organisieren können? Und sie beantwortet immer wieder die Frage: «Warum verhalte ich mich eigentlich so?»

«Ich bin oft überrascht, wie wenig Kinder und Jugendliche über ihre Diagnose wissen», sagt die Heilpädagogin. «Ein wichtiger Teil meiner Arbeit besteht deshalb darin, aufzuzeigen, was in ihrem Hirn passiert. Ausserdem beschäftigen wir uns mit ihrem Selbstbild.»

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Veränderte Alltagsstrukturen und Lernstrategien helfen Johan, mit seiner ADHS besser umgehen zu können. Lesen Sie hier, wie Johan und seine Mutter den Alltag mit ADHS erleben.

Zusammen mit Schülerinnen und Schülern sucht sie nach individuellen Lösungen – wie sich etwa erreichen lässt, dass das Tablet jeden Morgen geladen in der Schultasche liegt. Dabei liefert Alice Caduff Scheuner keine fertigen Rezepte, sondern erarbeitet gemeinsam mit den Jugendlichen Strategien. «Es geht darum, die Verantwortung an die Betroffenen zu übergeben», so die Heilpädagogin. «Sie spüren zu lassen: Meine Selbstwirksamkeit ist gross!» Das stärke ihr Selbstwertgefühl und durchbreche den Teufelskreis von nicht richtigem Verhalten. «Denn Kinder und Jugendliche wollen vor allem eines: nicht auffallen, sondern so sein wie alle anderen.»

Wächst sich ADHS aus?

Früher dachte man, ADHS in der Kindheit wachse sich im Erwachsenenalter aus. Heute weiss man: Bei einem Drittel der Betroffenen verschwindet es tatsächlich komplett, bei einem Drittel schwächt es sich ab und bei einem weiteren Drittel bleibt ADHS ungebremst bestehen. Allerdings verändern sich manchmal die einzelnen Komponenten. So schwächt sich die hyperaktive Komponente oft ab, während die unaufmerksame häufig bestehen bleibt, wie Studien zeigen.

Recht auf Nachteilsausgleich bei ADHS

Insgesamt sind Lehrkräfte immer besser auf Kinder und Jugendliche mit ADHS eingestellt, ist die Erfahrung der Heilpädagogin. Auch Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund stellen dies fest. Wie Kinder mit ADHS in der Schule gefördert werden, wann sie welche Unterstützung erhalten, ist dabei von Kanton zu Kanton unterschiedlich.

Damit Betroffene von ADHS trotz ihrer Symptome und deren Auswirkungen in der Bildung nicht benachteiligt werden, haben sie zum Beispiel ein Recht auf Nachteilsausgleich. Voraussetzung dafür ist eine medizinische Diagnose und ein ärztliches Attest.

Interessanterweise sind die Schwächen von Menschen mit ADHS oft auch ihre Stärken.

Fabian Grolimund, Psychologe

Der Nachteilsausgleich soll dafür sorgen, dass Betroffene gleiche Voraussetzungen haben wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. So verhilft diese Massnahme beispielsweise zu verlängerten Prüfungszeiten, einer ruhigeren Lernumgebung oder zu Pausen während der Prüfung. «Am Ende aber bleibt das Gesamtpaket Schule schwierig», sagt Fabian Grolimund. «Weil die Anforderungen von Schule und die Symptome von ADHS einfach so schlecht zusammenpassen.»

Wann Medikamente sinnvoll sind

Wird der Leidensdruck zu hoch, entscheiden sich viele Betroffene für ein Medikament. Meist kommt dabei Methylphenidat (MPH) zum Einsatz – sowohl bei hyperaktiven als auch bei verträumten Kindern. Neben Ritalin gibt es in der Schweiz insgesamt zehn Medikamente mit diesem Wirkstoff. Sind die Nebenwirkungen zu stark – in Form von Appetitverlust, Schlafschwierigkeiten oder depressiven Verstimmungen –, kann auf einen anderen Wirkstoff gewechselt werden.

«Für betroffene Kinder und Jugendliche können diese Medikamente oft hilfreich sein», sagt Heilpädagogin Caduff Scheuner. «Viele sind wie ausgewechselt, können sich plötzlich konzentrieren und erleben dies als grosse Erleichterung.» Die Medikation allein sei allerdings keine Lösung, es brauche immer noch zusätzliche Hilfen wie Coaching oder therapeutische Unterstützung.

Die Medikamente nehmen Betroffene meist während der gesamten Schulzeit. «Passt jedoch das Umfeld zwischen Kind und Lehrperson oder gibt es Entwicklungsfortschritte, lässt sich die Dosierung anpassen», so Kinderarzt Kindli. «Insgesamt ist das Hauptziel des Medikaments, dem Kind ein gutes Selbstbewusstsein zu geben und ihm Erfolgserlebnisse zu bescheren.»

Bub spielt mit Hund
Seit Cornel Ritalin nimmt, ist er viel zugänglicher geworden. Auch in der Schule läuft es seither besser.

Tatsächlich beeinflussen die Medikamente den Spiegel bestimmter Neurotransmitter im Gehirn, insbesondere Dopamin und Noradrenalin. Diese Neurotransmitter spielen eine wichtige Rolle bei Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Regulation von Verhaltensweisen. Die Medikamente wirken also anregend und fördern Konzentration und Leistungsfähigkeit.

Beim Verschreiben von ADHS-Medikamenten sei es jedoch wichtig, dass sich Eltern an ADHS-Fachpersonen wenden und diese Medikamente nur verschrieben werden, wenn tatsächlich eine Diagnose vorliegt, betonte Susanne Walitza in einem Interview mit diesem Magazin. Sie ist Professorin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Zürich und behandelt viele Kinder mit ADHS. Und auch Oskar Jenni sieht den Einsatz von Medikamenten vor allem bei schwerwiegenden Störungen und hohem Leidensdruck angezeigt. Bei leichten Verläufen gehe es darum, das Umfeld an das Kind anzupassen, so der Entwicklungspädiater.

Talente fördern

Sämtliche Expertinnen und Experten betonen, wie wichtig es sei, weg von der reinen Defizitorientierung zu kommen und die Stärken der Kinder mehr in den Blick zu nehmen – egal ob bei leichtem oder schwerem Verlauf. René Kindli zum Beispiel schreibt als Therapieempfehlung immer «Förderung der Stärken» in seinen Diagnosebericht. Gerade weil die Schule oft sehr defizitorientiert sei. Deshalb müsse man bei Kindern mit ADHS umso mehr die Talente ausserhalb der Schule fördern.

«Kinder mit ADHS sind oft sehr sportlich», so der Kinderarzt, sie sollten ruhig mehrere Sportarten ausüben. Eltern aber fänden häufig: «Unser Sohn hat keine Zeit fürs Training, er muss für die Schule lernen.» «Falsch!», sagt Kindli. «Je strenger es in der Schule ist, desto mehr andere Erfolgserlebnisse braucht es!»

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Sich viel bewegen zu können, ist für ADHS-betroffene Jugendliche wie Alina von grosser Bedeutung.

«Interessanterweise sind die Schwächen von Menschen mit ADHS oft auch ihre Stärken», beobachtet Fabian Grolimund. Der Hyperfokus – sich mit Themen, die einen interessieren, stundenlang beschäftigen zu können. Die körperliche Aktivität – die sich oft in eine Sportart umlenken lässt. Der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn – der einen über den Tellerrand hinausdenken oder gegen den Strom schwimmen lässt. «Das alles sind extreme Bereicherungen», so Grolimund. Für Menschen mit ADHS sei es deshalb zentral, sich selbst gut zu kennen. Zu wissen: In welchen Bereichen hole ich mir Hilfe, wo delegiere ich besser? Aber auch: Worin bin ich richtig gut?

In der Forschung allerdings sind Stärken von Menschen mit ADHS bislang kaum berücksichtigt. Grolimund und Rietzler haben deshalb einen Stärkefragebogen für Eltern von Kindern mit ADHS entwickelt. «Häufig melden uns Eltern erfreut zurück, dass ihnen viele Stärken ihres Kindes gar nicht bewusst gewesen seien», erzählt Stefanie Rietzler, «und dass die Perspektive sich auf einmal völlig verschiebt.»

Hilfreiches im Netz

  • Die ADHS-Organisation Elpos Schweiz stellt viele Materialen und Informationen zur Verfügung: www.elpos.ch
  • Die Akademie für Lerncoaching von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund in Zürich bietet viele Lerntipps, Seminare zum Thema ADHS, Videotipps zum Wörterlernen, ein Stärken-Tagebuch zum Downloaden und vieles mehr: www.lernen-mit-adhs.ch
  • Leichter Hausaufgaben planen mit der App «Hase plant Hausaufgaben», erhältlich nur für das iPad im App Store von Apple.
  • Online-ADHS-Coaching für Jugendliche und Eltern sowie die Organisations-App «Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit ADHS»: www.gossik.ch
  • «Die hipste Störung, die man haben kann»: Das ADHS-Zentrum München erklärt Kindern und Jugendlichen ADHS: www.adhs-muenchen.net

So ist die Tochter vielleicht nicht gut in Mathe, aber dafür ein grosses Verkaufstalent auf dem Flohmarkt oder handwerklich geschickt. Der Sohn hat womöglich Schwierigkeiten im Diktat, aber eine ausgeprägte soziale Ader, geht sehr liebevoll mit jüngeren Kindern um oder ist sehr kreativ.

«Zu merken, dass es viel mehr gibt als die in der Schule so stark im Zentrum stehenden logisch-mathematischen oder sprachlichen Bereiche, ist viel wert», sagt Rietzler. Deshalb sollten individuelle Stärken im Alltag viel mehr Raum bekommen. Schliesslich sind sie essenzielle Quellen für das kindliche Selbstvertrauen – gerade, wenn es in der Schule wenig Erfolgserlebnisse gibt. Und sie bilden oft die Grundlage für späteren beruflichen Erfolg.

Kristina Reiss
ist freischaffende Journalistin und Mutter einer Tochter, 12, und eines Sohnes, 9. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

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