Surfen Eltern und Kinder auf verschiedenen Wellenlängen? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Surfen Eltern und Kinder auf verschiedenen Wellenlängen?

Lesedauer: 4 Minuten

Das extrovertierte Kind liebt starke Sinnesreize, die introvertierte Mutter gedämpftes Licht und leise Musik: Konflikte um die Mediennutzung hängen oft mit unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen zusammen. Forscher haben Spannendes herausgefunden.

Text: Gillian Hayes
Bild: Pexels

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Doch nicht jeder lebt diese Eigenschaft auf dieselbe Weise aus. Manche von uns fühlen sich in gewissen sozialen Situationen unwohl. Auf die Information, ich sei introvertiert, reagieren meine Gesprächspartner in der Regel überrascht. Meistens scherze ich dann «Ich bin halt gut erzogen» oder «Naja, Südstaatlerin bin ich auch», um das Thema zu beenden. So kann ich mir ausführliche Erklärungen ersparen; etwa, dass introvertiert nicht asozial bedeutet. Gesprächsstoff für ein andermal.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ich eine meiner heute besten Freundinnen kennenlernte und mir beim Gedanken an das Treffen der kalte Schweiss ausbrach. Damals war ich elf Jahre alt und musste an eine neue Schule wechseln. Das Mädchen war mir als «Buddy» zugewiesen worden, um mir den Einstieg zu erleichtern, und wir hatten uns den ganzen Sommer lang Briefe geschrieben (ja, ich bin alt genug, mit elf Jahren keine E-Mail-Adresse gehabt zu haben!). Ich mochte sie und war überzeugt, dass wir uns anfreunden würden.

Und doch sass ich am ersten Schultag im Auto meines Vaters und hatte Panik beim Gedanken ans Einsteigen in den Schulbus, an vierzig neue Kinder – dieses Mädchen und meine anderen Klassenkameraden. Damals fiel es mir leichter, Briefe zu schreiben, als mich mit anderen zu unterhalten – und ich konnte es auch mehr geniessen. Doch schliesslich nahm ich all meinen Mut zusammen, stieg aus dem Auto und kann heute, drei Jahrzehnte später, berichten, dass mein «Buddy» und ich immer noch bestens befreundet sind, auch wenn wir sehr weit voneinander entfernt leben.

Was bitte schön hat all das nun mit Forschung zu Kindesentwicklung und Technologie zu tun, fragen Sie sich?

Das Netz als sichere Umgebung

Haben Sie noch etwas Geduld. Wir überspringen ungefähr zwanzig Jahre und sehen uns eine sehr interessante Studie an, in der es um die Online-Kommunikation von Teenagern und um deren gefühlte Nähe zu ihren Freunden geht. Patty Valkenburg und Jochen Peter haben rund 800 Kinder und Jugendliche untersucht und herausgefunden, dass Freunde, die online kommunizieren, die Nähe zueinander als stärker einstufen. Aus heutiger Sicht überrascht das wenig, doch vor zehn Jahren staunte man darüber.

Dabei fiel auf – und hier kommt wieder meine eigene Geschichte ins Spiel –, dass Studienteilnehmer, die sich unter Menschen eher unwohl fühlen, das Internet als wertvoller für «intime Selbstoffenbarungen» einstuften als weniger unsichere Kinder. Was bedeutet das? Für Kinder, wie ich eines war, bei denen gewisse soziale Situationen Unbehagen, Verwirrung und manchmal richtiggehendes Grauen auslösen, dient das Internet als sichere Umgebung. Vor Kurzem veröffentlichten meine Freundin Stephanie Reich und ihre Studentin Joanna Yau eine Studie, die zeigte, dass Online-Freundschaften für Teenager ebenso real und wichtig sind wie Offline-Freunde.

Es geht nicht um Bildschirmzeit!

Und damit sind wir in der Gegenwart angekommen. Ich habe das Glück, mit ein paar tollen Menschen verwandt zu sein: Meine Schwester begann ihr Berufsleben als Anwältin und ist heute Vortragsrednerin, Trainerin und Coach – international bekannt und extrem extrovertiert. Ihre Tochter ist eines der talentiertesten Mädchen, die ich kenne (ja, ich bewerte das subjektiv, und ja, sie ist es trotzdem). Sie hat vor Kurzem die führende Rolle im Schulmusical ergattert, verfügt über eine phänomenale Bühnenpräsenz – und ist sehr introvertiert.

Erst letzten Sommer habe ich verstanden, dass es bei den Streitereien um «Bildschirmzeit» zwischen Mutter und Tochter eigentlich um etwas ganz anderes ging: Meine extrovertierte Schwester wollte sich unterhalten, meine introvertierte Nichte sehnte sich nach Ruhe. Und der Bildschirm war zu einem Symbol für diese Spannung geworden.

Introvertierte Menschen sehen ihre Online-Identität als ‹wahres Ich› an.

Wenn Eltern sich sorgen, ihr Teenager verhalte sich nicht sozial genug, dann geht es dabei auch um eine Definition von «sozial», die Eltern sich wünschen oder erwarten. Ich weiss noch, wie ich einmal zu meiner Nichte gesagt habe: «Deiner Mutter bedeutet der Umgang mit Menschen genauso viel wie dir deine Bücher.» Sie blickte mich ungläubig an, ob der Tatsache, dass so etwas möglich sein sollte. Auch mir fällt es schwer, das zu verstehen, doch ich habe es mittlerweile akzeptiert.

Ich will Ihnen noch eine andere Forschungsarbeit vorstellen: 2004 veröffentlichten Psychologen eine kleine Studie mit 40 Teilnehmern, die zeigte, dass introvertierte Menschen ihre Online-Identität als «wahres Ich» ansahen, während sich Extrovertierte stärker mit ihrer Identität in der physischen Welt identifizierten. Diese Forschungsergebnisse lassen darauf schliessen, dass es sinnvoll wäre, wenn Eltern beim Aufstellen von Regeln zur Nutzung von Internet und sozialen Medien die Persönlichkeit ihrer Kinder stärker berücksichtigen würden.

Häufig haben Konflikte zwischen Eltern und Jugendlichen nicht mit der Mediennutzung per se zu tun, sondern damit, dass Eltern und Kinder unterschiedliche sensorische Umfelder bevorzugen. Mein Sohn und ich sind dafür ein gutes Beispiel: Er liebt starke Sinnesreize. Während er im Wohnzimmer fernsieht, möchte er sich gleichzeitig über das Geschehen unterhalten, mit einem lauten, blinkenden Spielzeug spielen und sich mit seinem Bruder beschäftigen. Dieser Sohn sieht sich nun mit einer Mutter konfrontiert, die gedämpftes Licht, leise Musik und ein gutes Buch mag.

Eltern wissen am besten, was für ihre Familie funktioniert. Doch manchmal brauchen wir ein bisschen Unterstützung, um bestimmte Entscheidungen zu treffen. Seit ich einen Vortrag der Medienpsychologin Kristen Harrison gehört habe, denke ich – als Mutter und Wissenschaftlerin – häufig über ihre Erkenntnisse zu sensorischen Umfeldern nach. Darin beschrieb sie, dass Eltern und Kinder Konflikte um Mediennutzung haben, weil sich ihre Sinneswahrnehmungen stark unterscheiden. Ich habe mich auch intensiv mit unterschiedlichen Persönlichkeitstypen auseinandergesetzt.

 Ich bin froh über alles, das mir hilft, meine Kinder ein bisschen besser zu verstehen.

Einige Fragen bleiben bestehen, und in Stein gemeisselte Antworten gibt es leider nicht. Doch ich bin froh über alles, das mir hilft, meine Kinder ein bisschen besser zu verstehen und sie weniger oft anzuschnauzen. Entweder das oder ich schicke meine sehr extrovertierten, nach Sinnesreizen lechzenden Söhne eine Zeit lang zu ihrer Tante. Das würde wahrscheinlich auch funktionieren.

Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf BOLD – Blog on Learning and Development.

BOLD

Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.

Mehr lesen: www.bold.expert

Gillian Hayes
ist Professorin für Informatik an der School of Information and Computer Sciences, der School of Education und der School of Medicine der University of California in Irvine (USA). Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Unterstützungs- und Bildungstechnologien und medizinischer Informatik.

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