Sollte der Unterrichtsbeginn für Jugendliche verschoben werden?
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Sollte der Unterricht für Jugendliche später beginnen?

Lesedauer: 4 Minuten

Der Schlaf-Wach-Rhythmus von Jugendlichen ist anders. Für die meisten fängt der Schulunterricht viel zu früh an. Mit zum Teil schwerwiegenden Folgen, wie mehrere Studien aufzeigen.

Text: Amanda Ruggeri
Bild: Adobe Stock

Bei Jugendlichen tickt die innere Uhr, auch zirkadianer Rhythmus genannt, generell anders als bei älteren oder jüngeren Menschen. Ihr Körper signalisiert Jugendlichen, dass sie länger aufbleiben und auch später aufstehen sollen. Das bedeutet, dass es für sie mühsam ist, wenn sie früh am Morgen schulische Leistungen erbringen müssen.

Verschiedene Pilotprojekte haben nachgewiesen, dass ein späterer Unterrichtsbeginn in der Sekundarschule den Schülerinnen dabei helfen kann, mehr zu schlafen, sich weniger deprimiert zu fühlen, weniger zu fehlen und bessere Noten zu erzielen. Eine Schule änderte zum Beispiel den bereits relativ späten Unterrichtsbeginn um 8 Uhr 50 auf 10 Uhr. In der Folge erzielten 12 Prozent mehr Schüler einen «guten schulischen Fortschritt» und die durchschnittliche Anzahl Krankheitstage nahm von 15 auf 11 ab.

Allerdings unterscheiden sich bei Jugendlichen die Chronotypen – die natürliche Präferenz bezüglich Schlaf- und Wachrhythmus – genauso wie bei Erwachsenen. Die «Eulen» schlafen lieber länger, während die «Lerchen» gerne früh zu Bett gehen. Teenager, die bei einem frühen Unterrichtsbeginn am ehesten schlechte schulische Leistungen erbringen, haben tendenziell eine Veranlagung zur Eule. Lerchen hingegen tendieren dann zu Bestleistungen. Demnach wäre ein späterer Unterrichtsbeginn hilfreich für die Eulen, jedoch nutzlos oder sogar nachteilig für Lerchen.

Welchen Einfluss hat die Zeit des Unterrichtsbeginns?

Es gibt allerdings ein Problem mit der Beweisführung: Die meisten Studien, die den Effekt von Chronotypen und Unterrichtsbeginn unterscheiden sollten, wurden nicht nach dem Zufallsprinzip durchgeführt.  

«Kinder – oder zumindest die Eltern – wählen normalerweise eine Schule mit einem Timing, das sie selbst bevorzugen», sagt Guadalupe Rodriguez Ferrante vom neurowissenschaftlichen Labor an der Universidad Torcuato di Tella in Buenos Aires, Argentinien. Sie hat jüngst als Co-Autorin an einer Studie über Chronotypen von Jugendlichen und Unterrichtszeiten mitgewirkt. «Wenn du eine Eule bist, wählst du vielleicht eine Nachmittagsschule. Das führt zu einer Verzerrung der Studienresultate.» In diesem Fall könnte der Chronotyp eine geringere Auswirkung auf Noten und Absenzen aufweisen als bei einem Schulmodell, in dem die Schülerinnen zufällig einem Unterrichtsbeginn zugeteilt werden.

Unter anderem macht es dies schwierig, auseinanderzuhalten, ob Eulen eine schlechtere Leistung erbringen, weil ihr Chronotyp nicht zur Unterrichtszeit passt, oder ob bestimmte Eigenschaften dieses Chronotyps für die schlechteren Leistungen verantwortlich sind.

Dieser Frage geht Rodriguez Ferrante an einer Sekundarschule in Buenos Aires nach, die drei verschiedene Zeiten für den Unterrichtsbeginn anbietet. Die 259 Schüler, die an der Studie teilnahmen, wurden zufällig auf folgende Zeiten für den Unterrichtsbeginn verteilt: 7 Uhr 45, 12 Uhr 40 oder 17 Uhr 20. Ihre Chronotypen wurden mit einem Fragebogen ermittelt und die Resultate aus dem ersten und dem fünften Schuljahr wurden analysiert. 

Im Schnitt zeigten Schülerinnen, deren Unterricht später begann, eine bessere schulische Leistung.

Verschiebung des Rhythmus in der Pubertät

Es sei ganz besonders interessant, Chronotypen und Unterrichtsbeginn in Buenos Aires zu studieren, führt Rodriguez Ferrante aus, weil «die Menschen in Argentinien tendenziell zu einem sehr, sehr späten Chronotypen gehören. Wir essen um 22 Uhr zu Abend. Doch die Sekundarschule fängt normalerweise um 7 Uhr 30 oder 7 Uhr 45 an». 

Viele der Studienresultate ihres Teams stützen die Ergebnisse anderer Studien. Im Schnitt zeigten Schülerinnen, deren Unterricht später begann, eine bessere schulische Leistung. Dies änderte sich allerdings mit zunehmendem Alter der Schüler. Unterschiede zeigten sich auch bei den Schulfächern. So erzielten beispielsweise Schülerinnen im ersten Schuljahr (13 bis 14 Jahre), welche die Nachmittagslektionen besuchten, im Schnitt bessere Mathematiknoten als die Schüler, welche die Morgen- oder Abendlektionen besuchten. Im fünften und letzten Schuljahr (17 bis 18 Jahre) allerdings, erzielten die Schülerinnen in den Abendlektionen bessere Mathematiknoten als ihre Kameraden in den früher stattfindenden Klassen. Das könnte auf eine mögliche Verschiebung des zirkadischen Rhythmus während der Pubertät hinweisen, schreiben Rodriguez Ferrante und ihre Co-Autorinnen.  

Interessanterweise zeigte sich dieses Muster nicht im Sprachunterricht. Die Noten waren dort besser als in Mathematik, wobei die Unterschiede zwischen den Gruppen mit unterschiedlichen Unterrichtszeiten geringer waren. Um herauszufinden, ob es überhaupt einen Effekt gibt, müsste aber eine Studie mit einer grösseren Zahl von Teilnehmenden durchgeführt werden. 

Wie erwartet waren die Leistungen der Eulen in den Lektionen am Morgen schlechter als die der Lerchen. Schüler schafften den Übertritt in die nächste Stufe Ende Schuljahr eher, wenn ihr Chronotyp und der Unterrichtsbeginn zusammenpassten.  

Warum Eulen schlechter abschneiden als Lerchen  

Bei den älteren Schülerinnen waren die Leistungen in Mathematik bei den Eulen schlechter als bei den Lerchen in der gleichen Klasse, und zwar ungeachtet des Unterrichtsbeginns. Das weist darauf hin, dass nicht nur die Diskrepanz zwischen Chronotyp und Unterrichtsbeginn für den negativen Effekt auf die Leistung verantwortlich ist (obwohl laut Rodriguez Ferrante die Differenz in den Morgenlektionen am grössten war). Vielmehr könnte noch etwas anderes dahinterstecken.  

Die schlechteren Leistungen der Eulen könnten daher kommen, dass sie einfach weniger schlafen. An Schultagen schliefen die Schüler im fünften Jahr, die am Morgen Unterricht hatten, im Schnitt weniger als sechs Stunden pro Nacht. Aber etwa 16 Prozent der Schülerinnen schliefen nur viereinhalb Stunden oder noch weniger. Zwar haben die Forschenden noch nicht bestätigt, ob die zweite Gruppe eher zu den Eulen gehörte, doch laut Rodriguez Ferrante schlafen Menschen mit einem späteren Chronotyp häufig insgesamt wenig.

Für die grosse Mehrheit der Jugendlichen fängt die Schule schlicht zu früh an.

Auch wenn die Studie nach dem Zufallsprinzip durchgeführt wurde, könnten die Resultate davon beeinflusst sein, sagt Rodriguez Ferrante. Die verbreitete Ansicht, wonach jemand, der spät schlafen geht und spät aufwacht, faul sei, könnte dazu führen, dass Lehrpersonen den Schülerinnen der Morgenklasse unbewusst bessere Noten gäben als den Schülern der Abendklasse. Oder Schülerinnen spiegeln selbst diese Vorurteile – Eulen könnten glauben, dass es sinnlos sei, sich anzustrengen, weil sie  faul seien. 

«Es ist wirklich schwierig, dies auseinanderzuhalten», sagt Rodriguez Ferrante. «Wir müssen den Zusammenhang zwischen Chronotyp, Unterrichtsbeginn und schulischer Leistung weiter untersuchen. Ich will unbedingt herausfinden, welche Mechanismen die Leistung eines Chronotypen beeinflussen. Ist es die Selbstwahrnehmung der Schüler? Wie hängt das zusammen?»  

Dennoch sind die Ergebnisse laut Rodriguez Ferrante klar: Für die grosse Mehrheit der Jugendlichen fängt die Schule schlicht zu früh an. «Veränderungen sind nicht einfach. Man muss die Politikerinnen erreichen», sagt sie. «Und das bedeutet, so viele Forschungsdaten wie möglich zusammenzutragen, damit wir das Leben von Jugendlichen wirklich positiv beeinflussen können.» 

Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf der Plattform BOLD.

BOLD

Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.

Mehr lesen: www.bold.expert

Amanda Ruggeri

Amanda Ruggeri
ist eine preisgekrönte Wissenschaftsjournalistin und Reporterin. Nach acht Jahren beim internationalen Digitalteam der BBC arbeitet sie nun als freie Journalistin in der Schweiz. Ihre Arbeit wird von der British Society of Magazine Editors, Webbys, Drum Awards, Society of American Travel Writers, European Meteorological Society und Travel Media Awards gewürdigt. Sie hat in Yale und Cambridge studiert.

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