Was lernen Kinder beim Gamen?
Während meiner Kindheit in den 1990er-Jahren durfte ich weder mit einer Videospielkonsole noch am Computer spielen, weil meine Eltern diese für schädlich hielten. Stattdessen vertrieben wir uns in der Familie die Zeit mit Karten- und Brettspielen. Als ich später begann, mit einer Spielkonsole Yogaübungen zu machen und Tennis zu spielen, dachte ich: «Das kann doch nicht schädlich sein, verbindet es doch Spass mit körperlicher Aktivität!»
Seit ich Entwicklungspsychologin bin, habe ich mich häufig gefragt, ob Spiele – insbesondere die oft verteufelten Videospiele – einen messbaren Nutzen oder Schaden haben. Daher untersuchte ich den Zusammenhang zwischen dem Spielen und der kognitiven Entwicklung von Kindern. Die Medien – und damit auch die Forschung – konzentrieren sich eher auf die potenziellen Schäden als auf die möglichen Vorteile. Wir schulden es aber den Kindern, Genaueres über beide Aspekte herauszufinden.
Unterschiedliche Lernfelder
Spielen fördert die kindliche Entwicklung. Während des Spiels erhalten Kinder die Gelegenheit, Entdeckungen zu machen. Sie erleben direkt, wie sie Fertigkeiten aufbauen, die sie in der Welt brauchen. Obwohl beim Spielen der Spass an erster Stelle steht, ist es auch eine natürliche Art, zu lernen.
Wenn sich Kinder beim Spielen abwechseln und warten müssen, bis sie wieder an der Reihe sind, verbessern sie ihre Impulskontrolle und lernen, ihre Reaktionen zu steuern. So entwickeln sie die Fähigkeit, den Wunsch nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung zu regulieren. Bei Rollenspielen wiederum lernen sie, Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten – eine wichtige Grundlage für Empathie und soziales Verständnis.
Massvolles Videospielen stellt kein Risiko für die Entwicklung von Kindern dar. Es scheint sogar gewisse Vorteile zu haben.
Spielen erlaubt es Kindern ausserdem, sich in Kommunikation und Verhaltensregulierung zu üben. Sie lernen, dass es inakzeptabel ist, in einem Wutanfall Spielfiguren oder die Konsole herumzuwerfen. Der Umgang mit Frustration, wenn sie ein Spiel verloren haben, hilft ihnen dabei, kognitive Fähigkeiten aufzubauen – zum Beispiel, sich Regeln zu merken, Strategien zu entwickeln oder konzentriert bei der Sache zu bleiben. Ausserdem lernen sie sozioemotionale Fähigkeiten, darunter Selbstkontrolle und Empathie. Unterschiedliche Spielverhalten sind für unterschiedliche Fähigkeiten nützlich.
Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierten sich Forscher auf Brett- und Kartenspiele, um die häusliche Lernumgebung eines Kindes zu beurteilen. Die Angaben der Eltern über die Spiele zu Hause gaben Aufschluss darüber, wie Kinder Zahlen lernten. Je mehr Spiele es gemäss den Eltern zu Hause gab, desto besser war das frühkindliche Zahlenverständnis.
Vom Brettspiel zum Exergame
Eine neuere Entwicklung auf dem Spielemarkt sind sogenannte Exergames. Der Begriff ist eine Wortschöpfung aus «Exercise» (Bewegung) und «Gaming» (Spielen). Exergames sind Computerspiele, für die es eine konzentrierte Aufmerksamkeit, schnelle Entscheidungen, Wettkampf, koordinierte Bewegungen und Agilität braucht. Sie erfordern eine breite Palette von kognitiven und sensorischen Fähigkeiten, während sich der Körper in Bewegung befindet.
Ob Videospiele für Kinder vorteilhaft oder schädlich sind, lässt sich angesichts der unterschiedlichen Formate nicht abschliessend beurteilen. Schätzungsweise 75 Prozent aller Kinder spielen heute Exergames oder andere Videospiele. Daher ist es wenig sinnvoll, grundsätzlich von deren Nutzung abzuraten. Vielmehr gilt es anzuerkennen, dass diese Spiele inzwischen einen festen Platz im Alltag von Kindern einnehmen – und entsprechend pädagogisch begleitet werden sollten.
Kinder profitieren davon, wenn sie eine breite Auswahl unterschiedlicher Spiele nutzen können.
Mein Forschungsteam und ich wollten den Einfluss verschiedener Arten von Spielen auf die kognitive Entwicklung von Kindergartenkindern erforschen. Wir fragten die Eltern von 97 Kindern, wie häufig diese zu Hause verschiedene Arten von Spielen machten. Darüber hinaus testeten wir die sechsjährigen Kinder im Kindergarten und dann erneut 18 Monate später.
Mithilfe verschiedener Aufgaben erfassten wir zentrale exekutive Funktionen: die Impulskontrolle, die Fähigkeit zur flexiblen Aufmerksamkeitsverlagerung sowie das Arbeitsgedächtnis, also das kurzfristige Merken von Informationen. Die Kinder in unserer Studie spielten für jeweils etwa 30 Minuten.
Überraschende Studienergebnisse
Wie erwartet ergab die Studie, dass die Impulskontrolle der Kinder umso besser war, je häufiger sie klassische Brett- und Kartenspiele spielten. Überraschend hingegen war ein anderes Ergebnis: Kinder, die besonders oft digitale Puzzles wie Memory oder Tetris spielten, schnitten schlechter bei der Fähigkeit ab, ihre Aufmerksamkeit flexibel zu verlagern.
Das heisst, sie hatten mehr Mühe, zwischen verschiedenen Tätigkeiten umzuschalten. Im Gegensatz dazu waren Kinder, die mit sechs Jahren mehr Exergames spielten, 18 Monate später besser bei der Verlagerung ihres Aufmerksamkeitsfokus.
Wie lässt sich dieser offensichtliche Vorteil gegenüber digitalen Puzzles erklären? Während digitale Puzzles eine eher gleichbleibende Konzentration erfordern, verbinden Exergames körperliche Bewegung mit kognitiver Anstrengung. Sie fordern die Kinder geistig und körperlich. Digitale Puzzles könnten im Vergleich dazu weniger anspruchsvoll sein, was die flexible Steuerung der Aufmerksamkeit betrifft.
Für andere Videospieltypen – insbesondere solche, bei denen Kinder sich in dreidimensionalen Welten bewegen oder Objekte balancieren müssen – fanden wir hingegen keine Zusammenhänge mit der Impulskontrolle, der Aufmerksamkeitsverlagerung oder dem Arbeitsgedächtnis.
Kein Risiko für die Entwicklung
Eltern sind bestimmt froh, zu erfahren, dass massvolles Videospielen offenbar kein Risiko für die Entwicklung von Kindern darstellt. Es scheint sogar gewisse Vorteile zu haben. Diese Vorteile könnten noch grösser sein, wenn Kinder eine breite Auswahl von Spielen nutzen, die unterschiedliche Fähigkeiten erfordern. Beispielsweise kann das Lösen eines Puzzles das räumliche Vorstellungsvermögen verbessern, ein Brettspiel bedingt Nachdenken vor dem Handeln, während ein Exergame neue Bewegungsabläufe erfordert.
Angesichts der Medienberichte zu diesem Thema verstehe ich, dass mir meine Eltern damals in den 1990er-Jahren Videospiele nicht erlauben wollten. Doch heute wissen wir, dass Spiele sogar für Kinder im Kindergartenalter von Vorteil sein können. Sie machen Spass und die Kinder können dabei neue Fähigkeiten erlernen.
BOLD
Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.