Der erste Tag vom Rest deines Lebens
Das Leben wird nie mehr so schön, wie es am letzten Kindergartentag war, schreibt Mikael Krogerus. Aber auch nie so schlimm wie damals befürchtet.
Am Abend vor ihrem letzten Kindergartentag bekam unsere Tochter plötzlich Fieber. Mit letzter Kraft hatte sie sich noch ihre Lieblingskleider für ihren Abschlusstag herausgelegt: Ballett-Tütü, graue Strumpfhose, lila Schuhe, Engelsflügel – bevor sie auf dem Sofa zusammenkroch wie ein junger Hund. Sie hustete, weinte, fieberte.
Ich verstand sofort. Morgen beginnt der erste Tag vom Rest deines Lebens, dachte ich. Und du willst es mit aller Kraft verhindern. Ich legte meine Hand auf ihre heisse Stirn. Du hast recht, dachte ich, dein Leben wird nie mehr so schön wie im Kindergarten. Nie mehr wirst du den ganzen Tag einfach nur mit Freunden spielen. Nie mehr wirst du vor Glück quietschen, weil du an der Reihe bist mit «Geschirr abtragen». Nie mehr wirst du dich vormittags so verausgaben, dass du dich mittags schlafen legen musst, um dann nachmittags wie neugeboren aufzuwachen und weiterzumachen.
Du wirst nicht für das bewertet, was du machst, sondern wie gut du es machst im Vergleich mit anderen.
Alle anderen werden dich in diesem Punkt belügen, fuhr ich in Gedanken fort, aber ich denke, es ist nur fair, dir zu sagen, was du eh schon ahnst: Du wirst deine Freunde nie wiedersehen (wir zogen kurz darauf ins Ausland). Und es wird etwas Neues auf dich zukommen, was sich «Erwartungshaltung» nennt. Man wird in der Schule Dinge von dir erwarten und dich ausschliesslich danach bewerten, ob du sie erfüllst oder nicht. Ich weiss, es klingt verrückt, aber du wirst nicht für das bewertet, was du machst, sondern wie gut du es machst im Vergleich mit anderen. Ja, man wird dich mit anderen vergleichen. Und du wirst dich vergleichen, du wirst dieses Prinzip so sehr verinnerlichen, dass du anfangen wirst, dich selbst zu hassen.
Unsere Tochter hatte die Augen geschlossen, den Kopf auf ihr Schafskissen gebettet. Sie atmete gleichmässig. War sie eingeschlafen? Meine Gedanken gingen zurück zu meinem ersten Schultag. Wir wurden nach vorne gebeten. Jedes Kind erhielt einen Blumenstrauss. Anschliessend marschierten wir in den Klassenraum.
Ich war aufgeregt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Was man wohl macht in der Schule? Ich war bereit für alles, ausser Wasserfarbenmalen. Eine Tätigkeit, der wir – ich hatte den Rudolf-Steiner-Kindergarten besucht – einmal die Woche nachgegangen waren und gegen die ich eine tiefe, existenzielle Abneigung entwickelt hatte. Als wir ins Klassenzimmer gingen, stand auf jedem Tisch ein grosses Wasserglas. Ein Teil von mir wollte in diesem Moment sterben – am ersten Tag gleich Wasserfarbenmalen?! Unser Lehrer ergriff das Wort: «Alle Kinder stecken nun ihren Blumenstrauss ins Wasserglas.» Ich lernte an diesem Tag etwas sehr Wichtiges: Das Leben wird nie wieder so schön, wie es mal war. Aber auch nie so schlimm, wie du befürchtest.
Am nächsten Morgen war unsere Tochter wie durch ein Wunder wieder gesund. Sie zog ihre Lieblingskleider an, schnallte sich ihre Engelsflügel um und nahm meine Hand. Sie sang den ganzen Weg zum Kindergarten. Ihr letzter Tag wurde ihr schönster.
Dieser Artikel stammt aus dem «Kindergartenheft 2. Jahr/Frühling» mit dem Titel «Tschüss Chindsgi» und wendet sich an Eltern von Kindergartenkindern des zweiten Jahres. Bestellen Sie jetzt eine Einzelausgabe!