Wenn Kinder schon im Kindergarten schreiben und rechnen können - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Wenn Kinder schon im Kindergarten schreiben und rechnen können

Lesedauer: 4 Minuten

War früher die erste Klasse der Ort, wo Kinder lesen, schreiben und rechnen lernten, kann heute jedes dritte Kind schon vorher kleine Briefchen kritzeln, Zahlen erkennen und Buchstaben lesen. Sollen Eltern das fördern? Und sind solche Kinder später die besseren Schüler?

Text: Florina Schwander und Claudia Landolt

Dieser Artikel wurde am 4. Oktober 2022 aktualisiert.

Dienstagnachmittag in einem Schweizer Kindergarten. Die sechsjährige Zoé bestürmt die Kindergartenlehrperson, ihr noch mehr Aufgaben für ihren Wochenplan zu geben – sie hat schon alles erledigt. «Ich will arbeiten!», fordert das Mädchen voller Begeisterung. Zoés Mutter sagt: «Wir haben das zu Hause überhaupt nicht gefördert, aber Zoé eifert ihrer grossen Schwester nach und möchte sogar Hausaufgaben machen – ‹gross sein› nennt sie das.»

Dieselbe Bandbreite zeigt sich auch bei Buben: Die einen vertiefen sich ins Spiel mit Legos, andere wiederum möchten Bild um Bild ausdrucken und Zahlenrätsel lösen. Der fünfjährige Lio zum Beispiel liest seit Neustem alles, was er sieht – selbst die Aufschrift der Müesli­packung wird Buchstabe für Buchstabe entziffert.

Irgendwann merkt das Kind, dass sich etwas Spannendes hinter den schwarzen Zeichen versteckt.

Andrea Bertschi

Kinderarzt und Buchautor Remo Largo («Kinderjahre») hält fest: «Jedes Kind, wenn es in der Entwicklung so weit ist, will lesen lernen.» Das Interesse an Lesen, Sprechen, ja an Kommunikation wird Kindern in die Wiege gelegt. Schon Babys kommunizieren mit Lauten, und Zweijährige sind in der Lage, einer Geschichte zu folgen.

Kinder sind fasziniert von Büchern, lieben vorgelesene Geschichten, imitieren das Lesen und halten anderen Kindern das Buch so hin, wie sie es vom Vorlesen kennen – gerne auch verkehrt herum. «Irgendwann merkt das Kind, dass sich etwas Spannendes hinter den schwarzen Zeichen versteckt, und es will diese Buchstaben kennenlernen», sagt Andrea Bertschi, Leseforscherin und emeritierte Professorin für Literatur­didaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Sie sieht im Vorlesen und Erzählen von Geschichten den Ursprung für das «Lesenlernen­wollen». 

Ein Schuljahr im Vorsprung

«Wir haben seit einigen Jahren immer mehr Kinder, die immer mehr können», sagt Andrea Lanfranchi, Forschungsleiter an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. In einigen Kantonen beherrsche heute jedes dritte Kind bereits am ersten Schultag den Stoff, den es erst am Ende der 1. Klasse können sollte, erklärte er in einem Interview.

Jedes Kind will lesen lernen, wenn es in der Entwicklung so weit ist.

Remo Largo

Neu ist das nicht: «Kinder, die vor Schuleintritt bereits lesen, schreiben oder rechnen wollten und konnten, hat es schon immer gegeben», schreibt Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm in ihrem Aufsatz über «Lernentwicklungen von Frühlesern und Frührechnern».

Die Frage ist jedoch: Haben Kinder, die schon früh lesen und/oder rechnen können, ein grösseres Potenzial als Altersgenossen, die bei Schuleintritt über keine Vorkenntnisse verfügen?

Woher kommt das frühe Interesse?

In einer von Margrit Stamm geleiteten Studie zu Frührechnerinnen und Frühlesern konnten von 2667 Kindern sechs Wochen nach Schul­beginn 29 Prozent bereits alle Buchstaben und 21 Prozent alle Wörter vollständig und ohne Fehler lesen.

Ein hoher Teil der Kinder verfügte über Teilkompetenzen – was bedeutet, dass nur sieben Prozent der Kinder noch keinerlei Vorkenntnisse der Lesekultur erworben hatten. Noch ausgeprägter waren die vorschulischen Kenntnisse im Rechnen. Der Leistungsvorsprung dieser Kinder betrug mindestens ein Schuljahr. 

Was hat diese Kinder zu Früh­leserinnen oder Frührechnern gemacht? Ist es der familiäre Hintergrund, die soziale und ökonomische Schicht oder das Eigeninteresse der Kinder? Stamm kommt zu einem für Eltern vielleicht überraschenden Ergebnis: Die elterliche Anleitung zum Lesen- und Rechnenlernen spielte in ihrer Untersuchung eine vergleichsweise unbedeutende Rolle.

Nur ein kleiner Teil der befragten Kinder wurde zu Hause besonders gefördert. 83 Prozent der Kinder haben ihre Lese- oder Rechnungskompetenzen selbstmotiviert erworben, davon haben 27 Prozent ihre Geschwister oder Nachbarskinder imitiert.

Auch ist die Gruppe der Vorschulkinder mit Lese- oder Rechenkompetenz nicht etwa hochbegabt (siehe Box). Margrit Stamm sagt: «Unsere Studie hat deutlich gemacht, dass vorschulisches Lesen- und Rechnen lernen keine überdurchschnittlichen Fähigkeiten erfordert.»

Hingegen kann davon ausgegangen werden, dass solche Fähigkeiten vorhanden sind, wenn Kinder selbst motiviert früh rechnen und lesen lernen wollen. 

Ob diese Schülerinnen und Schüler auch in der gesamten Schul­karriere weiter vorne liegen werden, ist gemäss Stamm jedoch unklar. «Es gibt keine einheitliche Antwort zur Langzeitwirkung des frühen Lesen- und Rechnenlernens.»

Hingegen kann gesagt werden: Wer sich vor Schuleintritt eigenmotiviert Kenntnisse in Lesen und/oder Rechnen angeeignet hat, die sich bei Schuleintritt als deutliche Kompetenzvorsprünge manifestieren, gehört auch am Ende der obligatorischen Schulzeit noch zu den besonders schulerfolgreichen Schülerinnen und Schülern.

Doch: «Nachhaltigen schulischen Erfolg garantiert der frühe Kompetenz­erwerb nur, wenn bei gegebener Intelligenz auch die entsprechende Leistungsmotivation vorhanden ist», fasst Margrit Stamm zusammen.

Unbegründete Angst vor Langweile 

Kann ein Kind bei Schulanfang in der ersten Klasse schon rechnen und/oder lesen, bedeutet das nicht automatisch Frust oder Langweile im Klassenzimmer. «Das ist die grosse Herausforderung heute für unsere Lehrpersonen: dass sie auf die unterschiedlichen Entwicklungsstände der Kinder eingehen», so Professorin Andrea Bertschi. Klassenübergreifende Basisstufen und andere Unterrichtsformen in Schulen ermöglichen, dass Kinder gezielt gefördert werden. 

Sind Frühleserinnen oder Frührechner hochbegabt?

Bei Kindern, die früh lesen oder rechnen können, spricht man grundsätzlich von einer schnellen Entwicklung. Es ist aber nicht zwingend ein Hinweis auf Hochbegabung. Bringt sich ein Kind beides in Eigenregie bei, besteht laut Margrit Stamm jedoch ein Hinweis auf überdurchschnittliche Intelligenz. 

In der Schweiz sind rund zwei Prozent der Kinder hochbegabt. Eine Abklärung ist sinnvoll, wenn das Kind in seinem Umfeld nicht mehr genügend Anregung findet und/oder Probleme im Kindergarten oder in der Schule auftreten.

Gut zu wissen: Intellektuelle Hochbegabung ist nur eine von vielen Arten von Begabung – es gibt viele Kinder, die kreativ, körperlich oder in einem anderen Bereich überdurchschnittlich begabt sind. 

Weitere Informationen: www.hochbegabt.ch

Was also tun, wenn das eigene Kindergartenkind verlangt, es möchte lesen oder rechnen lernen? Die Experten sind sich einig: Hat ein Kind Interesse an Buchstaben und/oder Zahlen, soll dieser Neugierde nachgegangen werden. Zeigt ein Kind Eigeninitiative am Lernen, ist ein künstliches Verzögern oft kontraproduktiv.

Der Hinweis, das müsse es doch noch nicht können, dafür sei dann die Schule da, endet nicht selten in Enttäuschung und einer möglichen Unterforderung des Kindes. Für Eltern heisst das: Wenn ein Kind möchte, dass man ihm hilft, seinen Namen zu schreiben: helfen. Es möchte wissen, was eigentlich zwei plus drei ergibt? Finger hochhalten und abzählen. 

Zeigt ein Kind Interesse an Buchstaben oder Zahlen, soll dieser Neugierde nachgegangen werden.

Nicht alle Kinder haben dieses Interesse an Zahlen oder Buchstaben schon im Kindergarten. Auch das ist kein Grund zur Besorgnis: «Das Gras wächst schliesslich nicht schneller, wenn man daran zieht», schreibt Remo Largo.

Lios ältere Schwester übrigens wollte bis zur ersten Klasse partout nichts wissen von Zahlen oder Buchstaben. Ihre Zeichnungen signierte sie mit einem krakeligen L für Leni. Heute ist die Drittklässlerin eine begeisterte Leseratte – versteckt unter der Bettdecke bis tief in die Nacht hinein verschlingt sie Buch um Buch.

Florina Schwander
mag Kinder, Geschichten, Pflanzen, Kaffee, Flipflops und Code. Sie ist Mutter einer Tochter und von Zwillingsjungs im Primarschulalter.

Alle Artikel von Florina Schwander

Claudia Landolt
ist Mutter von vier Söhnen und diplomierte Yogalehrerin.

Alle Artikel von Claudia Landolt

Lesen Sie mehr zum Thema Kindergarten:

Väter: 6 Eigenschaften, die Männer zu einem guten Vater machen
Entwicklung
6 Eigenschaften, die Männer zu einem guten Vater machen
Viele Eltern teilen sich heutzutage die Familienarbeit – zum Wohl des Kindes, denn Väter erziehen anders als Mütter.
Schulstart: Die neue Rolle der Eltern
Elternbildung
Schulstart: Die neue Rolle der Eltern
Beim Übertritt an die Primarschule brauchen Eltern in der Erziehung viel Feinfühligkeit und Beziehungsstärke. Was ist damit gemeint?
ESL Sprachcamps Frankreich England HG
Advertorial
Sprachcamps mit ESL – der beste Weg eine Sprache zu lernen
Jugendliche und Kinder haben die Chance, eine unvergessliche Erfahrung in den ESL Sommer-Sprachcamps im Ausland zu machen.
24-04-gefühle-umgang-kindergarten-kiga-elternmagazin-stefanie-rietzler-fabian-grolimund-hk.png hg
Entwicklung
So lernt Ihr Kind, seine Gefühle zu regulieren
Erstes Kindergartenjahr: Wie Eltern ihr Kind dabei unterstützen können, Emotionen wie Wut, Freude oder Angst zu regulieren.
Lernen
Wie unsere Kinder politisch fit werden
Damit unsere Kinder ihre politische Verantwortung dereinst wahrnehmen können, müssen sie darin geschult werden – schon im Kindergarten.
Kindergarten
Unsere Lieblingstexte 2023 aus den Kindergarten-Heften
Viermal im Jahr erscheint die Sonderausgabe zum Kindergarten. Die Redaktion hat für Sie die schönsten Texte und Zitate 2023 ausgewählt.
Mikael Krogerus Kolumnist
Elternblog
Warum Sie Ihrem Kind vorlesen sollten
Mikael Krogerus über seine Freude am Vorlesen, was es ihm und seinen Kindern bringt und warum Eltern sich dabei gleich selbst austricksen.
Gesellschaft
Was tun, wenn das Kind lispelt?
Lispeln kommt bei Kindern im Kindergartenalter häufig vor und zählt zu den weniger schweren Sprechstörungen. Eine Abklärung ist aber wichtig.
Mut entwickeln und Ängste überwinden
Erziehung
Wie wird mein Kind mutig?
Eltern wünschen sich mutige Kinder. Mut zeigt sich auf verschiedene Weise. Was hilft einem Kind, mutig zu werden? Und wie können Eltern es unterstützen?
Schule wir kommen
Kindergarten
Schule – wir kommen!
Mütter und Väter spielen beim Übertritt in die erste Klasse eine wichtige ­Rolle. So können Sie Ihr Kind ­achtsam dabei begleiten.
«Es gibt nicht reife oder ­unreife, sondern einfach ­unterschiedliche Kinder»
Entwicklung
«Es gibt nicht reife oder ­unreife Kinder – nur ­unterschiedliche»
Die Entwicklungspsychologin Claudia M. Roebers sagt, was Kinder wirklich brauchen, um ihr Potenzial zu entfalten – und was nicht.
Elternbildung
Hilfe, mein Kind und seine Freundin sind so frech!
Ein Vater erlebt eine mühsame Situation und grenzt sich scharf ab. Nun plagt ihn sein schlechtes Gewissen. Das sagt unser Expertenteam.
Aktionen
Nachbestellungen: Kindergartenmagazine Frühling 2024
Kindergartenmagazine: Hier können Sie für beide Jahrgänge, die im neuen Schuljahr benötigte Anzahl Exemplare erfassen.
Elternbildung
Wenn Kinder dauernd streiten
In manchen Familien gibt es sehr häufig Konflikte zwischen den Kindern. Wie sollen Eltern dabei eingreifen?
Elternbildung
Was tun, wenn die Geburi-Einladung Ängste auslöst?
Eine Mutter befürchtet, ihr Sohn könnte sich bei einer Geburtstagsparty in einer Indoor-Spielhalle verletzen. Sie überlegt sich, die Einladung abzulehnen. Das sagt unser Expertenteam.
Kindergarten
So lernt Ihr Kind den Umgang mit seinen Emotionen
Wie Kinder emotionale Fähigkeiten entwickeln und was Eltern tun können, um sie dabei zu unterstützen.
Medien
Gamen ist nicht so schlimm, wie Sie denken
Computerspiele sind in vielen Familien verpönt oder gar verboten. Dabei können Kinder beim Gamen einiges lernen.
Kindergarten
Kinderbilder im Netz – darauf sollten Eltern achten
Der erste Chindsgi-Tag! Das möchte man als Eltern teilen. Schnell ist der Schnappschuss veröffentlicht. Sollte man das wirklich tun?
Wut im Bauch: So lernen Kinder ihre Emotionen zu regulieren
Entwicklung
So unterstützen Sie Ihr Kind im Umgang mit Gefühlen
Gefühlsregulation bei Kindern: Dieser Prozess ist an die Hirnentwicklung gekoppelt – und kann von den Eltern unterstützt werden.
Schwieriger Start im Kindergarten: Nachdenkliches Kind
Gesellschaft
Schwieriger Start im Kindergarten?
Jedem sechsten Kind fällt der Kindergarteneintritt schwer. Wenn Kinder Mühe mit Veränderungen haben, sprechen Wissenschaftler von einer ­Verhaltenshemmung.
Familienleben
Zwillinge getrennt auf verschiedenen Schulstufen
Wie es für eine Familie ist, wenn ein Zwillingspaar aus einem Kindergärtner und einem Schüler besteht. Ein Vater berichtet.
Kindergarten
Neue Sonderhefte für Eltern von Kindergarten-Kindern
Ist Ihr Kind erfolgreich im Kindergarten gestartet? Und: Wie können Eltern ihr Kind auf den Eintritt in die 1. Klasse vorbereiten? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die beiden Kindergarten-Sonderhefte.
Medien
Vom Spielzeug zum Arbeitsgerät
Im Kindergartenalter dienen das Tablet oder Handy der Eltern den Kleinen nur zum Spass. Ab der Primarschule ändert sich das.
Kiga2-Swisscom-Eltern-Regeln-Medien-Kinder
Medien
Medienregeln gelten für alle
Regeln sollen nicht nur die Kinder disziplinieren, sondern für alle gelten – auch für die Eltern. Gerade beim Thema Umgang mit den Medien.
Kindergarten
«Kinder möchten mit Kindern zusammen sein, nicht mit Erwachsenen»
Frau Roebers erklärt, dass Frühförderung oft falsch verstanden wird, was an Schulen schiefläuft und warum Erziehende einen schweren Job haben.