Die Entwicklungsneurologin Ines Mürner-Lavanchy forscht über Buben und Mädchen, die zu heftigen Wutausbrüchen neigen und ständig gereizt sind. Für solche Kinder gibt es das neue Störungsbild Disruptive Mood Dysregulation Disorder – eine Diagnose, die aber nur in schweren Fällen gestellt werde. Die Berner Psychologin über tobende Kinder, stark geforderte Eltern und darüber, warum es ganz normal ist, wenn sich auch ein Achtjähriger noch vor Wut auf den Boden wirft.
Der 17. September 2020: Blühende Wiesen, Baumkronen, die sich im Wind neigen, Kinder, die auf dem Sportplatz einem Ball hinterherjagen. Die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern, (UPD), liegen wunderschön am Waldrand von Bolligen BE. Hier empfängt uns Ines Mürner-Lavanchy zum Interview. «In unseren Sitzungszimmern herrscht Maskenpflicht», sagt die Entwicklungsneurowissenschaftlerin und zieht den Papierschutz über Mund und Nase. Damit sind die UPD ihrer Zeit voraus, doch die Journalistin, mit dem Zug angereist, ist ausgestattet. Das Gespräch kann beginnen.
Der Diagnose Disruptive Mood Dysregulation Disorder, kurz DMDD, liegt eine Störung der Emotionsregulation zugrunde. Sie beschreibt Kinder mit dauerhaft trauriger und gereizter Stimmung und dadurch bedingten Wut- und Impulsdurchbrüchen.
Diese Kinder sind leicht reizbar, sehr impulsiv, was sich in regelmässigen Wutausbrüchen entlädt. Darüber hinaus sind sie oft traurig und unglücklich.
Höchstwahrscheinlich nicht. Die Kriterien für die Diagnose DMDD sind sehr hoch angesetzt. So müssen die Wutausbrüche ein Jahr und länger und mindestens dreimal pro Woche stattfinden. Zwischen diesen Anfällen ist die Stimmung beim Kind dauerhaft gereizt oder wütend, die meiste Zeit des Tages, nahezu jeden Tag.
Am häufigsten wird die Diagnose bei den Sechs- bis Neunjährigen gestellt. Dort geht man davon aus, dass drei von 100 Kindern betroffen sind. Dabei beziehen wir uns auf Erhebungen aus den USA. Bei den Neun- bis Zwölfjährigen sind es, je nach Studie, ein bis drei Prozent. Aufgrund anderer diagnostischer Konzepte in Europa dürften hierzulande jedoch weniger Kinder diese Diagnose gestellt bekommen als in den USA. Bei unter Sechsjährigen wird nicht empfohlen, die Diagnose zu stellen.
Im Vorschulalter kann man davon ausgehen, dass Wutausbrüche, sogar mehrmals am Tag, völlig altersentsprechend und normal sind. Und man wollte vermeiden, altersgerechtes Verhalten zu pathologisieren.
Das ist richtig. Die Impulsivität nimmt entwicklungspsychologisch vom Kindes- zum Jugendalter hin ab und die kognitive Kontrolle über Affekte und Impulse nimmt zu. Man geht davon aus, dass sich zuerst die Fähigkeit zur Inhibition, des Sich-zurückhalten-Könnens, und dann mit der Zeit die kognitive Anpassungsfähigkeit ausbildet. Schon im Kleinkindalter merkt ein Kind: Mama sagt ständig Nein, jetzt tue ich dieses oder jenes nicht, obwohl ich grosse Lust dazu habe. Im Kindergarten sind dann bestimmte Regeln zu befolgen, die Forderungen der Gesellschaft nehmen zu. Und ein Kind schafft es mehr und mehr, die Situation, die nicht dem entspricht, was es sich vorgestellt hat, auszuhalten beziehungsweise seine Wünsche und Bedürfnisse anzupassen. Diese Fähigkeit bildet sich im Alter von etwa fünf oder sechs Jahren aus.
Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter soll die Hausaufgaben machen. Sie versprechen ihr ein Eis, wenn sie die Aufgaben zügig und sorgfältig erledigt. Ihre Tochter freut sich darauf. Dann merken Sie aber, dass Sie gar kein Eis mehr im Haus haben, und bieten ihr stattdessen einen Keks an. Die Tochter willigt ein. Ein Keks ist zwar nicht das, was sie sich erhofft hat, aber auch okay. Diese Reaktion erfordert eine mentale Flexibilität, die viele Drei- oder Vierjährige noch nicht haben.
ei vielen psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter wie ADHS oder oppositionellem Trotzverhalten, bei dem Kinder sehr empfindlich sind und schnell verärgert reagieren, spielen Probleme in der Affektregulation eine Rolle, so auch bei DMDD. Alle Kinder müssen lernen, mit Frustrationsmomenten umzugehen, nicht wütend zu werden, wenn sie etwas nicht bekommen oder ihrem Wunsch nicht sofort entsprochen wird. Kinder, die zu DMDD neigen, können dies aber nicht beziehungsweise nur sehr bedingt, auch im späteren Kindesalter nicht.
Es gibt noch nicht viele Studien dazu, aber es wurden in der Psychopathologie immer wieder ähnliche Problematiken gefunden. Meist sind es verschiedene Situationen in der Familie, die Stress auslösen: familiäre Belastungen, zwischenmenschliche Schwierigkeiten, Traumata, beispielsweise ausgelöst durch den Tod eines Familienmitgliedes, die Trennung der Eltern. Solche stressauslösenden Situationen können sich auf die Entwicklung eines Kindes auswirken. Man hat beispielsweise in einer Studie ermitteln können, dass eine postnatale Depression der Mutter mit einer höheren Wahrscheinlichkeit verbunden war, an DMDD zu erkranken.