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Wenn Kinder die besseren Erwachsenen sind

Lesedauer: 2 Minuten

Warum es ein gutes Zeichen ist, vom Teenager auf die eigenen Fehler aufmerksam gemacht zu werden, schreibt Kolumnistin Michèle Binswanger.

Text: Michèle Binswanger
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Eigentlich sollte es ja so sein wie letzten Samstag. Die Wohnung war frisch geputzt, ich kam eben vom Einkauf nach Hause und der Sohn hatte einen Kollegen zu Besuch. Als ich eintrat, erschnupperte ich mit mütterlichem Spürsinn sofort ferne Anteile von Zigarettenrauch. «Habt ihr geraucht?», fragte ich. Er gab es sofort zu – obschon: Offiziell raucht er nicht. Neulich schwang er am Familientisch sogar eine grosse Klappe, wie doof rauchen sei.

Meistens sind die Verhältnisse bei mir zu Hause umgekehrt. Wenn ich mich etwa abends auf den Balkon schleiche, um eine Feierabendzigarette zu rauchen, die Tür nicht sorgfältig genug geschlossen habe und der 16-jährige Sohn danach noch in mein Zimmer kommt.

Dann fragt er mit dem detektivischen Spürsinn eines alarmierten Teenagers: «Hast du geraucht?» Offiziell rauche ich zu Hause nicht. Und habe meine Kinder oft eindringlich davor gewarnt, jemals damit zu beginnen.

Das sind die Zwiespältigkeiten moderner Elternschaft. Man will seine Kinder vor Schlechtem bewahren, auch vor den eigenen schlechten Angewohnheiten. Und weiss gleichzeitig, dass ein solches Unternehmen scheitern wird. Sie merken ja doch immer alles. Und wollen in diesem Alter ganz genau wissen, wo die Mutter aufhört und die Person mit ihren Unzulänglichkeiten beginnt.

Es ist ein seltsamer Moment, vor seinem 16-jährigen Sohn eingestehen zu müssen, heimlich geraucht zu haben.

Es ist ein seltsamer Moment, vor seinem 16-jährigen Sohn eingestehen zu müssen, heimlich geraucht zu haben. Und dem Blick des Teenagers zu begegnen, wenn er einen mit anderen Augen sieht. Aber es ist nicht nur das. Einmal die Woche, am Samstag, wenn ich putze, drehe ich die Stereoanlage gern für ein paar Minuten auf, um die Alltagsschwere mit einer Portion sündig lauter Musik zu vertreiben.

Meist kann ich sicher sein, dass bald meine 19-jährige Tochter ins Zimmer schwebt und mit vorwurfsvollem Blick die Anlage leiser dreht. «Denk doch an die Nachbarn!», sagt sie dann. Immerhin hat es bei ihr nichts mit Adoleszenz zu tun. Schon als sie noch Primarschülerin war, musste sich jeder wegen Energieverschwendung rechtfertigen, wenn er den Lift in unserem Haus benutzte und nicht die Treppe nahm. War es früher nicht umgekehrt?

Waren es einst nicht die Teenager, die heimlich am Fenster rauchten oder den Eltern mit lauter Musik den Verstand raubten? Sind Kinder heute die besseren Erwachsenen? Haben wir als Eltern etwas falsch gemacht, dass uns der Nachwuchs die Regeln fürs Zusammenleben vorschreibt? Das ist das Problem, wenn man Kinder hat.

Erziehung ist eine Gleichung mit so vielen Variablen, dass sie schlicht nicht zu lösen ist.

Erstens sagt einem niemand, wie es geht, und selbst wenn es so wäre, wäre keineswegs garantiert, dass es gelingen würde. Erziehung ist eine Gleichung mit so vielen Variablen, dass sie schlicht nicht zu lösen und schon gar nicht zu verallgemeinern ist. Und ja, vielleicht bin ich nun wirklich eine dieser berufsjugendlichen Mütter, die sich aufführen, als ob sie selbst noch Teenager wären.

Und ich bin sicher, dass ich vieles hätte besser machen können. Aber es ist doch eher ein gutes Zeichen, dass meine Kinder offenbar zu verantwortungsvollen Erwachsenen heranwachsen. Selbst wenn sie nun mich erziehen.

Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

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