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Die Kraft der Akzeptanz

Lesedauer: 5 Minuten

Indem wir unangenehme Gefühle zulassen, können wir lernen, zu akzeptieren, dass sich manche Dinge anders verhalten, als wir gerne hätten. Das gilt auch im Umgang mit unserem Kind.

Text: Fabian Grolimund
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Eine Heilpädagogin, die als Lerncoach einen Jugendlichen begleitet, erzählt mir: «Ich komme einfach nicht weiter. Egal, wie viel wir üben, er kann sich die Wortbilder nicht merken!» Die Zeit werde knapp: In fünf Monaten schliesse er die Lehre ab – danach würde er kaum noch Gelegenheit haben, an seiner katastrophalen Rechtschreibung zu arbeiten. Sie hofft, dass ich irgendeine Idee aus dem Hut zaubere, damit sich dieser Junge und die Orthografie doch noch anfreunden können.

Wenn wir die Realität so annehmen, wie sie ist, und aufhören, dagegen anzukämpfen, wird oft der Weg frei für eine Lösung auf einer anderen Ebene.

«Jetzt mal angenommen, du würdest davon ausgehen, dass du an seiner Rechtschreibung sowieso nichts ändern kannst – woran würdet ihr dann arbeiten?» Diese Frage irritiert sie einen Moment lang. Sie habe auch schon daran gedacht – aber das sei ja, als würde sie ihn aufgeben, resignieren. Doch kaum hat sie den Satz ausgesprochen, merkt sie, dass er nicht stimmt – und sprudelt vor neuen Ideen.

Sie würde das Coaching nutzen, um ihm zu zeigen, wie er mit der Schwäche umgehen kann: zum Beispiel Mails mithilfe der Spracheingabe verfassen oder die KI im Alltag richtig nutzen. Und sie hätten Zeit, sich mit seinen Stärken und Wünschen für die Zukunft auseinandersetzen zu können.

Akzeptanz setzt Energie frei

Immer mal wieder entspricht etwas im Leben unserer Kinder und Jugendlichen nicht unseren Vorstellungen. Vielleicht sind sie uns zu empfindsam, still, wild, trotzig, verträumt, schüchtern, laut oder unkonzentriert. Oder sie interessieren sich unserer Meinung nach zu wenig für Sport, die Schule oder andere Kinder. Als Eltern machen wir uns Sorgen, sehen Probleme auf das Kind zukommen und steuern dagegen. 

Manchmal erwächst daraus etwas Gutes. Manchmal verhärten sich aber nur die Fronten. Die Eltern kämpfen immer mehr, das Kind setzt sich zur Wehr, fühlt sich falsch oder gar nicht verstanden. Und manchmal kostet dieser ständige Kampf mit der Zeit mehr Kraft als das eigentliche Problem.

Es ist erstaunlich, wie rasch Gefühle wie Neid vergehen, wenn wir ihnen ein bisschen Raum geben.

In diesen Situationen bietet die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) einen anderen Blick: Was wäre, wenn nicht die Situation selbst das Problem ist – sondern unser Widerstand gegen das, was ist? Wenn wir die Realität so annehmen, wie sie ist, und aufhören, dagegen anzukämpfen, wird oft der Weg frei für eine Lösung auf einer anderen, manchmal auch tieferen Ebene.

Probieren Sie es aus. Denken Sie an etwas, das Sie als Mutter oder Vater immer wieder stört, und fragen Sie sich: «Was würde ich tun, wenn ich wüsste, dass sich mein Kind in diesem Punkt nie ändern wird? Was bräuchte es dann von mir, damit es gut durchs Leben kommt?»

Akzeptanz versöhnt uns mit uns selbst und der Welt

Kürzlich sah ich eine Sendung über Inklusion. Eine Jugendliche mit Down-Syndrom lernte mit anderen Kindern in der Klasse und wurde vom Reporter gefragt, ob es sie nicht störe, dass die anderen im Stoff weiter seien als sie. Sie sah selbstbewusst in die Kamera und erzählte, dass sie natürlich wisse, dass die anderen viel schneller seien, dass sie aber dazugehöre und in ihrem Tempo lernen dürfe. 

Menschen, die ein hohes Selbstwertgefühl haben, ziehen dieses oft nicht daraus, dass sie besonders viele Stärken und kaum Schwächen haben oder sich selbst als etwas Besonderes betrachten. Vielmehr haben sie sich mit sich selbst ausgesöhnt und können sich so annehmen, wie sie sind.

Nur solange wir glauben, in allen Bereichen mit anderen mithalten oder bestimmten Normen entsprechen zu müssen, erzeugen Vergleiche Neid und Stress. Dieses Aussöhnen gelingt aber nur, wenn wir unangenehme Gefühle zulassen und sie annehmen.

Probieren Sie es aus: Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich einfach zugestehen, dass etwas nicht ganz so ist, wie Sie es sich wünschen, und dass Sie das Recht haben, deswegen ein wenig traurig, neidisch oder verärgert zu sein? Sie könnten sich sagen: «Ja, Familie XY hat ein schöneres Haus, kann sich einen teureren Urlaub leisten, sie haben einfach mehr Geld als wir.» Widerstehen Sie nun dem Drang, mit einem «Aber wir …» zu kontern und gegen Ihre Gefühle anzukämpfen. Lassen Sie diese stattdessen für einen Moment zu: «Ja, das macht mich manchmal ganz schön neidisch.»

Es ist erstaunlich, wie rasch Gefühle vergehen, wenn wir ihnen ein bisschen Raum geben. Akzeptanz in dieser Form bedeutet, sich selbst, seinen Gefühlen und Schwächen mit Ehrlichkeit zu begegnen. Sie ist eine Form von Aufrichtigkeit, die es uns erlaubt, zu uns zu stehen, auch Schwieriges zu bejahen und uns mit der Realität auseinanderzusetzen.

Auch Sorgen können wir mit Akzeptanz begegnen

Elternsein bedeutet fast zwangsläufig, sich Gedanken zu machen: Entwickelt sich mein Kind «richtig»? Verpasse ich gerade etwas Wichtiges? Wird es später klarkommen? Diese Sorgen zeigen, wie sehr wir unser Kind lieben. Wir können mit ihnen ganz ähnlich umgehen wie im vorigen Abschnitt beschrieben.

Wenn Sie merken, dass Sie Ärger, Stress oder Sorgen überrollen: Halten Sie einen Moment inne. Handeln Sie nicht, sagen Sie stattdessen: «Okay, du machst dir gerade Sorgen und fühlst dich ziemlich unter Druck.»

Akzeptanz bedeutet: Innehalten. Genau hinschauen und erst einmal den Faden finden, der sich lösen lässt.

Versuchen Sie nicht, das Gefühl wegzuschieben, sondern bleiben Sie einen Moment dabei. Machen Sie sich bewusst, worum Sie sich sorgen. Beispielsweise: «Wenn er nicht endlich lernt, sich etwas mehr Mühe zu geben, sehe ich schwarz für sein Berufsleben» oder «Wenn sie diese vorlaute Art behält, wird sie später immer anecken».

Wenn Sie möchten, können Sie jetzt kurz auf Ihren Körper achten. Wie fühlt sich diese Sorge an? Ist es ein Engegefühl? Druck auf dem Brustkorb? Eine Verspannung in den Schultern oder ein Knoten im Bauch? Es geht nicht darum, sich sofort zu entspannen. Versuchen Sie einfach neugierig zu sein, was passiert, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit kurz darauf richten und Ihre Empfindungen bewusst wahrnehmen.

Tipps für Kopf-Typen

Falls Sie eher der Kopf-Typ sind: Gehen Sie nun ein wenig auf Distanz zu sich und Ihrer Sorge. Schauen Sie sich diese wie ein Mensch der Wissenschaft an: «Ist das tatsächlich so? Werden Jugendliche, die wenig für die Schule tun, automatisch zu Erwachsenen, die es im Job zu nichts bringen?» oder «Ist es wirklich so verkehrt, als Mädchen vorlaut zu sein, oder wurde mir das einfach von meinen Eltern abgewöhnt, weil es nicht in ihr Bild gepasst hat?».

Und wie möchten Sie mit dieser Sorge umgehen? Aus dem Bauch heraus reagieren und wütend werden? Ihrem Kind mehr zuhören und seine Sichtweise kennenlernen? Mehr Vertrauen entwickeln, dass Ihr Kind seinen Weg gehen wird? Sich fragen, was das Gute an dieser Eigenschaft ist und wie Sie Ihr Kind begleiten können, damit diese zum Tragen kommt?

Manche Probleme im Leben unserer Kinder sind wie ein verhedderter Wollknäuel. Sie lassen sich nicht durch hektisches Ziehen und Zerren lösen. Je mehr wir daran reissen, desto fester werden die Knoten.
Akzeptanz bedeutet: Innehalten. Genau hinschauen. Vielleicht ein paar Knoten so lassen, wie sie sind – und erst einmal den Faden finden, der sich lösen lässt.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

Alle Artikel von Fabian Grolimund

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