Aus Liebe zum Tier

Der Sohn unseres Kolumnisten isst seit einiger Zeit kein Fleisch mehr, weil ihm die Tiere leidtun. Dies führt dazu, dass der Vater nun sämtliche Schnitzel und Hackbällchen seines Sohnes selber verspeist. Und nachts von ihnen träumt.
Unser Sohn isst kein Fleisch mehr. Er ist fünf und versteht, dass Lebewesen sterben können. Das beschäftigt ihn sehr. Man sollte Kindern die Wahrheit sagen. Doch wenn die Wahrheit lautet: Es gibt keinen Himmel und wenn wir sterben, verschwinden wir in der ewigen Finsternis, dann hat man als Vater ein Problem. Ich habe versucht, ihm die Wiedergeburt schmackhaft zu machen. Leider hat sich der Gedanke, dass er als Schwein wiedergeboren werden und genauso enden könnte wie das Schnitzel in seinem Teller, negativ auf seine Fleischeslust ausgewirkt.
Er liebt nun einmal Tiere. Allerdings denkt er dabei eher an seine Plüschkatzen oder an Peppa Pig aus dem Fernsehen. Er wurde während der Pandemie geboren und hat die künstliche Welt vor der wirklichen kennengelernt, weshalb er sie für die wahre hält. Im letzten Sommer besuchten wir einen Wildpark, wo wir in weiter Ferne Luchse auf einem Baumstamm schlafen sahen. Die Rothirsche drehten uns den Rücken zu. Der Wolf war gar nicht zugegen. Kein Wunder, zieht unser Sohn die Tiere auf Netflix vor, die ihm mit ihrem drolligen Gebaren und ihren menschlichen Charakterzügen den Appetit auf Fleisch gründlich verdorben haben.
Wie aber reagiert man als Erwachsener darauf? Wahrscheinlich würden ideale Eltern die Situation zum Anlass nehmen, als Familie in toto auf vegetarische Ernährung umzustellen. Leider sind wir keine idealen Eltern. Oder noch nicht. Im Moment besteht meine Strategie darin, das verweigerte Schnitzel meines Sohnes selber aufzuessen.
Meine Frau geht einen anderen Weg. «Iss das Schnitzel. Das ist Soja», hörte ich sie neulich zu ihm sagen. Erstens: Das Schnitzel war nicht aus Soja. Zweitens: Unser Sohn hat keine Ahnung, was Soja ist. Daran erkennt man, in was für einer verzweifelten Verfassung wir uns befinden.
Nachts zieht all das Vieh, das ich in dieser Woche verschlungen habe, an meinem inneren Auge vorbei.
Kommt dazu, dass meine Schwiegermutter, für die Fleisch Religion ist, uns wöchentlich kiloweise Hackbällchen, Rindsrouladen und Bratwürstchen zuschanzt. Proteinreiche Nahrung, die aus ihrem Enkel eines der kräftigsten Mannsbilder seiner Generation machen soll. Was sie nicht weiss: Die ganze segensreiche Ware wandert in die Mägen seiner Erzieher. Ich habe nie in meinem Leben so viel Fleisch gegessen. Ich habe mich nie so schlecht gefühlt. Körperlich. Und moralisch. Nachts zieht all das Vieh, das ich in dieser Woche verschlungen habe, an meinem inneren Auge vorbei. All die Lämmer, Hühner und Schweine. Ich winke ihnen zu. Verzeiht mir. Falls ihr könnt.
Es droht uns der moralische Super-GAU, auch bekannt als Greta Thunberg: Auf der einen Seite das sündige Lotterleben dieser unwürdigen Kreaturen namens Eltern. Auf der anderen die tugendhafte Reinheit ihres Kindes. Das darf nicht passieren. Wir haben doch kein Kind gemacht, um uns von ihm belehren zu lassen.
Unsere einzige Chance besteht darin, den Kerl zu kompromittieren. So akzeptierte er eine Weile lang noch Wienerli, da er sie keinem Tier zuordnen konnte. Schliesslich verleideten sie ihm aber und er verlangte stattdessen eine Gurke. Ich glaubte schon zu verzweifeln, als die Geschichte eine überraschende Wendung nahm. Wir sassen in einem Restaurant. Unser Sohn knabberte selbstgefällig an einem Rüebli, als er mit dem Gemüse auf einen Gast am Nebentisch zeigte: «Was isst der da?» – «Das ist ein Rindsentrecote», erklärte ich. Er nickte. «Ich will auch so eines.»
Seither bin ich erleichtert, denn ich weiss: Unser Sohn ist gar kein Vegetarier. Er ist einfach ein Snob.