Vegetarisch oder vegan essen: Brauchen Kinder Fleisch?

Bild: Kyla Ewert
Debatten rund um eine fleischlose Ernährung werden oft kontrovers und emotional geführt. Erst recht, wenn es um Kinder geht. Worauf Familien bei vegetarischer oder veganer Ernährung besonders achten müssen.
Das ist jetzt vier Jahre her. Das Kind hat seine fleischlose Phase einige Wochen nach den Ferien auf dem Bauernhof abgebrochen und isst seither wieder ein- bis zweimal wöchentlich Fleisch und Fisch, so wie der Rest unserer Familie. Meine Lieben gehören damit zu den sogenannten Flexitariern, also jenen Menschen, die nur ein- bis zweimal pro Woche Fleisch und andere tierische Produkte essen. Und wir sind in guter Gesellschaft: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demoscope im Auftrag von Swissveg, der Interessenorganisation vegetarisch und vegan lebender Menschen in der Schweiz, ernähren sich rund 17 rozent der Schweizer Bevölkerung fleischarm. 11 rozent der Schweizer ernähren sich laut dieser Umfrage vegetarisch und 3 rozent sogar vegan. Insgesamt ernährt sich also knapp ein Drittel der Schweizer Bevölkerung fleischarm oder fleischlos.
Eine vegetarische Ernährung mit besonderem Augenmerk auf die «kritischen» Nährstoffe kann in jedem Alter gesund sein – selbst im Säuglingsalter.
Leben Vegetarier gesünder? Die Kinderärzte Henrik Köhler und Andreas Bieri vom Kantonsspital Aarau haben in einem Übersichtsartikel verschiedene Studien zum Thema «vegetarische/vegane Ernährung» zusammengefasst. Sie stellen darin fest: Vegetarische Ernährung hat gesundheitliche Vorteile. Erwachsene Vegetarier hätten allgemein einen niedrigeren Body-Mass-Index (BMI), und auch andere Risikofaktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Bewegungsmangel würden bei Vegetariern weniger häufig beobachtet, erklärt Andreas Bieri.
Vegetarier gedeihen gleich gut
Kinder haben eher Nährstoffdefizite
Kinder haben aufgrund ihres Wachstums- und Gedeihprozesses prinzipiell ein höheres Risiko für Nährstoffdefizite als Erwachsene – auch bei vegetarischer Ernährung. «Für eine ausreichende Nährstoffversorgung von Müttern, Säuglingen und Kindern sowie Jugendlichen sind teilweise Nährstoffzusätze notwendig», sagt Andreas Bieri. Eine vegetarische Ernährung mit spezifischem Augenmerk auf die «kritischen» Nährstoffe könne in jedem Alter aber eine grundsätzlich adäquate, gesunde Ernährungsform darstellen, selbst im Säuglings- und Kindesalter sowie auch in der Adoleszenz, erklärt Andreas Bieri.
Sie ist auch langfristig als unproblematisch zu beurteilen, sofern trotz fleischloser Ernährung eine breite Palette an Lebensmitteln angeboten und konsumiert wird. Denn der Bedarf an den zusätzlichen Nährstoffen kann durch pflanzliche Produkte sowie Milch und Eier meist gut gedeckt werden. «Damit Kinder sich physisch und psychisch voll entwickeln können, sollten sie genug Vitamin B12 über die Nahrung aufnehmen», so Bieri. Die Ernährung sollte insgesamt ausgewogen und abwechslungsreich sein. Wichtig ist, dass auch Eier und/oder Milchprodukte auf dem Speiseplan stehen, mit Vitamin-B12-Präparaten zur Ergänzung. Es lohne sich, so Bieri – der selbst eine Tochter hat, die sich aus eigenen Stücken für die vegetarische Ernährung entschied –, die Ernährung detailliert zu erfragen. Insbesondere in Phasen des starken Wachstums (Kleinkindesalter, zwischen vier und sechs Jahren sowie in der Pubertät) könne eine zusätzliche Eisenzufuhr notwendig sein.
Online-Dossier
Woher das Vitamin B12 kommt
Warum Vitamin B12 so wichtig ist
Ärzte und Fachgesellschaften raten grundsätzlich davon ab, Babys und Kinder vegan zu ernähren.
Wie sich ein Mangel äussert
Ernährung ist kompliziert
Ausser Vitamin B12 sind auch Aminosäuren sowie langkettige Omega-3-Fettsäuren und weitere Vitamine wie Riboflavin und Vitamin D, aber auch Calcium, Eisen, Jod, Zink und Selen in der veganen Ernährung oft kritisch. «Vegane Kinder müssen ernährt werden wie Kinder mit einer Eiweissstoffwechselerkrankung», betont Mathilde Kersting, die frühere Leiterin des deutschen Forschungsinstituts für Kinderernährung (FKE). Weil die richtige Ernährung so kompliziert ist, empfiehlt sie, sich von einer Ernährungsfachkraft beraten und die Versorgung mit kritischen Nährstoffen regelmässig prüfen zu lassen.
Diese klinischen Kontrollen sollen in erster Linie auch die Prüfung des Gedeihens, des Wachstums sowie der Pubertätsentwicklung beinhalten. Bieri rät dabei zu Fingerspitzengefühl. «Die entsprechende Beratung der Familien oder Jugendlichen soll die individuellen Gründe für die fleischlose Ernährung berücksichtigen und respektieren.» Er empfiehlt bei veganer Kost unbedingt eine qualifizierte Ernährungsberatung.
Das Wichtigste in Kürze
- Eine gut geplante vegetarische Ernährung kann mit dem entsprechenden Fachwissen und der notwendigen Sorgfalt in jedem Alter eine adäquate Ernährung ohne Mangelversorgung darstellen.
- Eine vegane Ernährung bei Kindern oder Jugendlichen soll nur unter ärztlicher Betreuung oder Kontrolle durch die Ernährungsberatung erfolgen und regelmässige klinische und laborchemische Kontrollen beinhalten. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung etwa lehnt eine vegane Ernährung von Kindern grundsätzlich ab.
- Eine vegane Ernährung ist im Kindes- und Jugendalter ohne zusätzliche Nahrungsergänzung nicht bedarfsdeckend. Mindestens Vitamin B12 muss in Form von Tabletten eingenommen werden.
- Eltern und Ärzte sollten immer auch an die Möglichkeit einer Essstörung denken, wenn insbesondere weibliche Jugendliche zunehmend die Nahrungsmittelauswahl und damit auch die Kalorienzufuhr einschränken.
- Bei länger dauernder oder schwerer Erkrankung ist generell von einer veganen Ernährung im Kindes- oder Jugendalter abzusehen.

Folgen Sie uns auf Pinterest:

Lesen Sie mehr zum Thema Ernährung:
- Frau Scharfenberg, warum fahren Kinder so auf Süsses ab?
Eltern kennen diesen Kampf: Kinder wollen am liebsten nur Süsses und nackte Nudeln essen. Die Ärztin und Ayurveda-Praktizierende Janna Scharfenberg hat eine logische, ayurvedische Erklärung dafür. Und sie verrät, warum Routinen Kinder so guttun. - Was unser Essen über uns aussagt
Du bist, was du isst: Das sei keine Binsenweisheit, sondern eine Tatsache, sagt der Wissenschaftler Daniel Kofahl. Er betrachtet durch die Soziologenbrille, was auf unserem Teller landet.
- Frau Dunitz-Scheer, müssen unsere Kinder mehr Gemüse essen?
Wie vermeidet man Kämpfe am Esstisch? Sollen Ihre Kinder beim Einkaufen mitbestimmen dürfen? Die Kinderärztin und Ernährungsexpertin Marguerite Dunitz-Scheer über schwierige Esser, Kinder, die plötzlich abnehmen möchten, und gesundes Essverhalten.