«Die Lehrperson führt durch den Prozess, die Berufsberatung ergänzt»
Laufbahn-Experte Daniel Reumiller über Aufgaben und Grenzen der Berufsberatung und was hilft, wenn Eltern ihr Kind bei der Berufswahl anders beurteilen als die Schule.
Herr Reumiller, viele Schulen und Lehrpersonen begleiten ihre Schülerinnen und Schüler eng und bieten so selber Berufsberatung an. Wie stehen Sie dazu?
Die Lehrperson führt die Jugendlichen durch den Berufswahlprozess. Das sieht auch der Lehrplan 21 so vor. Die Berufsberatung bringt die fachliche Expertise ein. Dies sowohl bei einzelnen Schülerinnen und Schülern als auch gegenüber der Schule und der einzelnen Lehrperson.
Viele Jugendliche kommen nur in der Schule in Kontakt mit der Berufsberatung. Wie steht es um die Qualität der Berufsberatung durch die Lehrpersonen?
Nur rund ein Drittel aller Jugendlichen kommt in eine individuelle Berufsberatung. Die Klassen und auch die Eltern nehmen aber an obligatorischen Informationsveranstaltungen der Berufsberatung teil. Das ist flächendeckend so. Was die Qualität der Beratung durch die Schule betrifft: Im Kanton Bern muss jede Schule ein Berufswahlkonzept erarbeiten und dieses mit den Fachleuten des zuständigen Berufsinformationszentrums besprechen. Klar kennen sich nicht alle Lehrpersonen gleich gut aus in der Berufsbildung. Wir sind mit ihnen in Kontakt, damit die Qualität der Unterstützung durch die Lehrpersonen sichergestellt ist.
Wo hört denn die Zuständigkeit der Schule in der Berufsberatung auf?
Das ist nicht klar definiert und hängt von der Erfahrung und vom Wissen der Lehrperson ab. Die Berufsberatung ist verantwortlich für Auskünfte zu einzelnen Berufen wie auch zum gesamten Spektrum der Berufswelt, zu Fragen der Auswahl, zu Möglichkeiten des Berufsbildungssystems. Vertiefte Abklärungen und Diagnostik sind klar Aufgaben der Berufsberatung.
Dann muss das jede Lehrperson einzeln mit dem zuständigen Berufsinformationszentrum klären?
Die Zusammenarbeit ist wichtig. Die Lehrperson kennt die Schülerin, den Schüler, seine Stärken und Schwächen ja sehr gut. Auch wenn eine Schülerin in die Berufsberatung kommt, soll das nicht abgekoppelt von der beruflichen Orientierung in der Schule laufen. Auch hier gilt: Die Lehrperson führt den Jugendlichen durch den Prozess. Die Berufsberatung ergänzt, wo zusätzliche Expertise nötig ist.
Die Wahl der passenden Ausbildung nach der Sekundarschule lässt sich in sieben aufeinanderfolgende Aufgaben einteilen:
- Schritt 1: Eigene Interessen und Stärken kennenlernen
Wie Alltagsgewohnheiten und Wunschträume Jugendlichen als Wegweiser zur Selbsteinschätzung dienen können. Dazu ein Fragebogen für Berufswählende. - Schritt 2: Berufe und Ausbildungen kennenlernen
Die wichtigsten Bildungsangebote im Überblick, Berufe der Zukunft, wo der Mangel an Lernenden und Fachkräften am grössten ist und welche Berufswege über eine Hochschule führen. - Schritt 3: Eigene Stärken mit den Anforderungen von Berufen und Ausbildungen vergleichen
Der Abgleich der eigenen Fähigkeiten mit den Anforderungen von Berufen, wie auch Menschen mit Behinderung den Einstieg in das gewünschte Arbeitsumfeld finden und welche Rolle Leistungstests spielen. - Schritt 4: Interessante Berufen in einer Schnupperlehre kennenlernen
Das Berufswahlpraktikum ist der Realitätscheck: Welche Formen von Schnupperlehren es gibt und was Jugendliche über das Schnuppern wissen müssen. - Schritt 5: Mögliche Berufe und Ausbildungen überprüfen und eine Entscheidung fällen
Inwiefern der Berufseinstieg ein wesentlicher Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung ist, warum der Lehrbetrieb so gut passen muss wie der Beruf – und wie junge Berufsleute um Titel wetteifern. - Schritt 6: Eine Lehrstelle suchen oder sich bei einer Schule anmelden
Worauf es bei der Lehrstellensuche ankommt, wie man einen guten Eindruck im Vorstellungsgespräch macht und zehn Tipps für eine überzeugende Bewerbungsmappe. - Schritt 7: Sich auf die Lehre oder Schule vorbereiten oder Brückenangebote abklären
Wenn der weitere Weg nach der obligatorischen Schule feststeht, gilt es sich zu informieren und darauf vorzubereiten – ansonsten gibt es eine Reihe sinnvoller Brückenangebote.
Wie gehen Sie mit Eltern um, die finden, die Lehrperson schätze ihr Kind falsch ein?
Diese Situation gibt es immer wieder: Die Lehrperson sagt zum Beispiel, eine KV-Lehrstelle sei mit diesen Schulleistungen unrealistisch, die Eltern sehen das anders. Hier können wir als Berufsberatende eine neutralere, objektivere Sicht einbringen. Unsere Potenzialabklärungen sind unabhängig davon, was zwischen einer Lehrperson und einer Schülerin im Schulalltag vorgefallen ist.
Was lässt sich optimieren in der Zusammenarbeit zwischen Schule und Berufsberatung?
Grundsätzlich ist der Austausch schon jetzt sehr gut. Im Kanton Bern beispielsweise bespricht die zuständige Berufsberaterin mit dem Lehrer für jede Schülerin und jeden Schüler, was es für eine gute Anschlusslösung braucht. Nach meiner Kenntnis trifft das auch auf zahlreiche weitere Kantone zu. Aber natürlich ist nicht jede einzelne Schule gleich weit und nicht jede Lehrperson ist bezüglich Berufswelt und Berufsbildungssystem auf dem neusten Stand.