«Die menschliche Arbeit wird es immer brauchen» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Die menschliche Arbeit wird es immer brauchen»

Lesedauer: 4 Minuten

Ökonom Stefan Leist über die Folgen von künstlicher Intelligenz (KI) für den Arbeitsmarkt, den Mangel an Fachkräften und was er jungen Lehrstellensuchenden rät.

Interview: Stefan Michel
Bild: Gabi Vogt / 13 Photo

Herr Leist, Sie sind Vater von drei  Kindern im Alter zwischen 6 und 12 Jahren. Welche Ausbildung ­empfehlen Sie ihnen?

Mein Rat an sie und alle jungen Menschen ist, sich bewusst mit der Berufswahl auseinanderzusetzen und sich diese Fragen zu stellen: Was mache ich gerne? Wo liegen meine Stärken? In welchen Berufen lassen sich meine Leidenschaften und Fähigkeiten am besten vereinen?

Glücklicherweise sind die Bildungs­systeme und Berufe heute sehr durchlässig. Man kann sich weiterentwickeln und später beruflich auch neue Wege einschlagen.

Sollten sich Jugendliche besonders an Berufen der Zukunft orientieren?

Sie sollten vor allem offen und neugierig an die Berufswahl herangehen. Die KV-Lehre sah vor 20 oder 30 Jahren auch anders aus als heute. Eine gewisse Anpassungsbereitschaft ist wichtig.

Stefan Leist, 42, ist Ressortleiter Arbeitsmarktanalyse und Sozialpolitik des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Er ist Vater von drei Kindern (12, 10 und 6) und wohnt mit seiner Familie in der Nähe von Bern.

Wie gross ist Ihre Sorge, dass durch die Digitalisierung viele ­Berufe überflüssig werden?

Eine der ersten Studien zu den Folgen der Digitalisierung hat vor rund zehn Jahren vorausgesagt, dass fast die Hälfte der Jobs automatisiert werden könnte. Dieses Schreckensszenario ist bisher nicht eingetreten. Eine andere Untersuchung in den USA hat sich mit den Auswirkungen von Online-Übersetzungstools auf professionelle Übersetzerdienste beschäftigt. Die Resultate überraschen. Es zeigte sich, dass heute viel mehr Texte übersetzt werden, weil es so einfach ist. Auch Übersetzungsbüros arbeiten mit digitalen Tools und können mehr Aufträge ausführen. Es braucht aufgrund der Digitalisierung also nicht weniger Übersetzerinnen und Übersetzer.

Lernen Berufseinsteigerinnen und -einsteiger heute das, was morgen auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist?

Um zu beurteilen, ob junge Menschen das lernen, was sie in ihren zukünftigen Berufen brauchen, muss man einen längeren Zeitraum betrachten. Dabei stellen wir fest, dass sich der Schweizer Arbeitsmarkt verändert. Immer mehr Menschen bilden sich weiter, haben höhere Abschlüsse. Die Arbeitgeber verlangen aber auch immer höhere Qualifikationen. Das starke Wachstum der Erwerbstätigkeit in hochqualifizierten Berufen weist darauf hin, dass es den Beschäftigten – gesamtheitlich betrachtet – gut gelingt, die steigenden Qualifikationsanforderungen zu erfüllen.

Sich mit neuen Technologien zu beschäftigen macht Sinn, selbst wenn man im Job nicht unmittelbar betroffen ist.

Gibt es in den Branchen mit der grössten Nachfrage genug ­Ausbildungsplätze?

Wir sehen, dass die Schweizer Unternehmen auf den Bedarf reagieren. 43 Prozent der Unternehmen, die mehr Lehrstellen als im Vorjahr anbieten, tun dies, weil sie sich um den Berufsnachwuchs sorgen. Das zeigt das vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) erhobene Nahtstellenbarometer 2023.

Wie gut passt das Lehrstellen­angebot zu den Qualifikationen, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind?

Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die ihre Lehre abgeschlossen haben, findet eine Stelle. Das deutet darauf hin, dass sie die Qualifikationen besitzen, die die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber suchen.

Sollte sich jeder junge Mensch, unabhängig von seinen beruflichen Interessen, Kenntnisse im Umgang mit KI-Anwendungen aneignen, um arbeitsmarktfähig zu werden?

Persönlich finde ich, dass es sich immer lohnt, sich mit neuen Technologien auseinanderzusetzen, selbst wenn man in seinem Job damit nicht unmittelbar in Berührung kommt.

Lässt sich der Fachkräftemangel über die Berufsbildung ­auffangen? Anders gefragt: Können Jugendliche gezielt für ­diejenigen ­Branchen motiviert ­werden, in denen der grösste ­Mangel herrscht?

Wichtig ist, dass alle Jugendlichen nach der obligatorischen Schule eine Ausbildung abschliessen. Die Unternehmen und ihre Berufszweige stehen miteinander im Wettbewerb, um Lehrlinge und Arbeitskräfte anzuziehen und zu halten. Damit ihnen dies gelingt, müssen sie gute Arbeitsbedingungen bieten.

Die künstliche Intelligenz ­übernimmt immer mehr Aufgaben. Gleichzeitig besteht ein grosser Mangel an Fachkräften. Wie passt das zusammen?

Generell ist es so, dass technischer Fortschritt die Produktivität erhöht. Das schafft Wohlstand und dieser erhöht die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen. Auch KI-Hilfsmittel erhöhen die Produktivität. In Bezug auf den aktuellen Bedarf an Arbeitskräften spielt dies aber eine untergeordnete Rolle.

Ich gehe davon aus, dass durch künstliche Intelligenz neue Berufe entstehen.Es braucht Leute, die KI-Lösungen programmieren.

Warum fehlen denn Fachleute auf dem Arbeitsmarkt?

Aktuell fehlt es nicht nur an Fachkräften, sondern generell an Arbeitskräften. Der Grund dafür ist die schnelle Erholung der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie über alle Branchen und viele Länder hinweg. Davon zu unterscheiden ist der sich strukturell verändernde Arbeitskräftebedarf. Branchen wie das Gesundheits­wesen und die Informatik haben auch längerfristig einen hohen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, der insbesondere durch die demografische Entwicklung beziehungsweise den technologischen Wandel angekurbelt wird.

Wird das so bleiben, bis heute 14-Jährige ihre erste Stelle ­antreten?

Der aktuell hohe Bedarf an Arbeitskräften ist der guten Wirtschaftslage geschuldet und wird bei einer wirtschaftlichen Abkühlung wieder sinken. Die strukturelle Nachfrage nach Fachkräften im IT- oder Gesundheitsbereich wird aber langfristig hoch bleiben.

KI-Lösungen verlangen nach neuen Fachkräften, richtig?

Ich gehe tatsächlich davon aus, dass neue Berufe und berufliche Tätigkeiten entstehen werden. Es braucht Leute, die KI-Lösungen programmieren. Es braucht aber auch jene, die diese verstehen und gut damit umgehen können, ohne sie selbst zu programmieren.

Dieser Text stammt aus unserem Berufswahl Spezial. Hier können Sie das Heft bestellen für 4.50 Fr. plus Porto.

Unsere Gesellschaft wird älter. Was bedeutet das für die Nachfrage und das Angebot an Fachkräften?

Die neuen Arbeitskräfte sind schon geboren und wir wissen, wie viele das sind. Wir wissen aufgrund der Altersstruktur, dass in den nächsten zehn Jahren mehr Menschen in Rente gehen als Junge in den Arbeitsmarkt eintreten. Das ist eine grosse Herausforderung.

Ein Teil der Stellen könnte weiterhin über die Zuwanderung besetzt werden. Die Technologie kann auch einen Teil der Nachfrage decken. Und schliesslich können die Unternehmen versuchen, mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen, wie das mit der steigenden Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen in den letzten Jahrzehnten der Fall war. Zudem wird es wichtig, auch ältere Personen möglichst lange im Arbeitsmarkt zu halten und die Rahmenbedingungen dazu attraktiv zu gestalten.

Ist der Fachkräftemangel durch das Aufkommen der künstlichen Intelligenz bald Geschichte?

Digitalisierung und Automati­sierung haben bisher vor allem repetitive und teilweise gefähr­liche Aufgaben übernommen. KI-Hilfsmittel können nun zu­nehmend analytische Tätigkeiten ausführen, Menschen können dadurch schneller mehr Aufgaben erledigen. Mittelfristig kann das helfen, den Bedarf an Arbeitskräften in gewissen Bereichen zu decken. Man beobachtet beispielsweise bereits heute, dass Industrie­roboter dort besonders verbreitet sind, wo die demografische Alterung weiter fortgeschritten ist.

Wird es aufgrund des technischen Fortschritts für uns Menschen irgendwann zu wenig Arbeit geben?

Der technologische Fortschritt bringt neue Werkzeuge, die die Fähigkeiten des Menschen ergänzen. Die Befürchtung, dass uns die Arbeit ausgeht, hat sich in der Geschichte noch nie bestätigt, weder nach der Erfindung der Webmaschine noch des Computers. Berufe verändern sich, einzelne Tätigkeiten verschwinden, aber die menschliche Arbeit wird es immer brauchen.

Stefan Michel
ist freier Journalist und Texter und lebt mit seiner Partnerin und zwei Kindern in Zürich.

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