«Die Verantwortung liegt bei den Eltern, nicht bei der Schule»
Berufswahl-Expertin Ruth Sprecher über die optimale Rollenverteilung zwischen Eltern, Schule und Berufsberatung bei der Lehrstellensuche.
Frau Sprecher, was ist die Aufgabe der Schule bei der Berufswahl?
Lehrpersonen begleiten die Jugendlichen in ihrem Reifeprozess hin zu einer Anschlusslösung nach der Oberstufe. Die Schule vermittelt im Unterricht die erforderlichen Kompetenzen, um in die Berufsbildung oder eine weiterführende Schule eintreten zu können.
Ist die Schule oder eine einzelne Lehrperson dafür verantwortlich, dass Schülerinnen und Schüler eine Lehrstelle finden oder in eine Mittelschule aufgenommen werden?
Die Verantwortung liegt klar bei den Eltern. Entscheidend ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehrpersonen und der Berufsberatung. Mangelnde Kenntnis des schweizerischen Bildungssystems und falsche Vorstellungen über berufliche Chancen sind oft das grösste Problem, insbesondere bei Eltern mit Migrationshintergrund.
Oft werden Lehrpersonen daran gemessen, wie viele Schülerinnen und Schüler sie in einer guten Ausbildung unterbringen. Was halten Sie davon?
Ich erlebe immer wieder, dass Lehrpersonen in gewissen Gemeinden an diesem Parameter gemessen werden. Offiziell trägt die Schule keine Verantwortung dafür, und ich finde es falsch, eine Lehrperson für den Berufswahlerfolg ihrer Schülerinnen verantwortlich zu machen.
Häufig stellen wir fest, dass jemand innerlich noch nicht bereit für die Berufswahl ist.
Wenn es mit der Berufswahl nicht auf Anhieb klappt, hat das in den wenigsten Fällen mit einer mangelnden fachlichen Begleitung durch die Lehrperson zu tun. Häufig stellen wir fest, dass jemand innerlich noch nicht bereit für die Berufswahl ist, sich nicht entscheiden kann. Oder die Eltern haben zu hohe Erwartungen.
Die Wahl der passenden Ausbildung nach der Sekundarschule lässt sich in sieben aufeinanderfolgende Aufgaben einteilen:
- Schritt 1: Eigene Interessen und Stärken kennenlernen
Wie Alltagsgewohnheiten und Wunschträume Jugendlichen als Wegweiser zur Selbsteinschätzung dienen können. Dazu ein Fragebogen für Berufswählende. - Schritt 2: Berufe und Ausbildungen kennenlernen
Die wichtigsten Bildungsangebote im Überblick, Berufe der Zukunft, wo der Mangel an Lernenden und Fachkräften am grössten ist und welche Berufswege über eine Hochschule führen. - Schritt 3: Eigene Stärken mit den Anforderungen von Berufen und Ausbildungen vergleichen
Der Abgleich der eigenen Fähigkeiten mit den Anforderungen von Berufen, wie auch Menschen mit Behinderung den Einstieg in das gewünschte Arbeitsumfeld finden und welche Rolle Leistungstests spielen. - Schritt 4: Interessante Berufen in einer Schnupperlehre kennenlernen
Das Berufswahlpraktikum ist der Realitätscheck: Welche Formen von Schnupperlehren es gibt und was Jugendliche über das Schnuppern wissen müssen. - Schritt 5: Mögliche Berufe und Ausbildungen überprüfen und eine Entscheidung fällen
Inwiefern der Berufseinstieg ein wesentlicher Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung ist, warum der Lehrbetrieb so gut passen muss wie der Beruf – und wie junge Berufsleute um Titel wetteifern. - Schritt 6: Eine Lehrstelle suchen oder sich bei einer Schule anmelden
Worauf es bei der Lehrstellensuche ankommt, wie man einen guten Eindruck im Vorstellungsgespräch macht und zehn Tipps für eine überzeugende Bewerbungsmappe. - Schritt 7: Sich auf die Lehre oder Schule vorbereiten oder Brückenangebote abklären
Wenn der weitere Weg nach der obligatorischen Schule feststeht, gilt es sich zu informieren und darauf vorzubereiten – ansonsten gibt es eine Reihe sinnvoller Brückenangebote.
Wie beschreiben Sie die optimale Rollenverteilung zwischen Eltern, Schule und Berufsberatung?
Die Eltern informieren, fördern und ermuntern ihr Kind. Die Berufsberatung ist in der Schule präsent, tauscht sich mit der Lehrperson aus. Die individuelle Berufsberatung ist gefordert, wenn es vertiefte Abklärungen braucht oder Fachwissen, welche Anforderungen eine bestimmte Ausbildung mit sich bringt. Die Lehrpersonen begleiten und motivieren Jugendliche, wenn es angezeigt ist, individuelle Berufsberatung in Anspruch zu nehmen. Ein gutes Zusammenspiel dieser drei Player ist von grosser Bedeutung.
Welches Engagement der Eltern ist aus Sicht der Schule sinnvoll?
Die Berufswahl ist ein gemeinsamer Entscheid der Eltern und ihres Kindes. Die Eltern sollen unterstützen, aber nicht Druck aufsetzen. Mit Unterstützung ist nicht gemeint, dass sie ihren Kindern Aufgaben wie die Suche nach einer Schnupperlehre abnehmen. Wichtig ist, dass die Eltern, die Lehrpersonen und die Berufsberatung den gleichen Informationsstand haben, ansonsten können sie gegeneinander ausgespielt werden. Darum müssen Eltern, Lehrpersonen und Berufsberatung in engem Kontakt zueinander sein und offen und transparent miteinander kommunizieren.