Mein Kind hat Angst               - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Mein Kind hat Angst              

Lesedauer: 5 Minuten

Die Angst vor der Schule, vor Monstern, dem Fremden — Ängste sind bei Kindern etwas ganz Normales. Aber woher kommt dieses Gefühl und wie kann es überwunden werden?

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Das Wichtigste zum Thema

Ängste bei Kindern sind völlig normal. Ob ein dunkles Zimmer oder das Monster unter dem Bett: Verantwortlich fürs Fürchten ist unter anderem die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Das Kind benötigt die Nähe der Eltern oder anderen Bezugspersonen und die Gewissheit, dass es selbst den richtigen Umgang mit der Situation erlernen wird.

Teilweise leidet ein Kind aber auch an einer Angst, die von den Eltern übertragen wird. Kinder sind äusserst sensibel, wenn es um die Gefühle von Familienmitgliedern geht. 

Wie Sie Ihrem Kind in einer Angstsituation konkret helfen und eine vertrauensvolle Basis schaffen können und warum Sie die Aussagen Ihres Kindes unbedingt ernst nehmen sollten, erfahren Sie im Text. Lesen Sie ausserdem, welche Elterntypen es gibt. Welcher Typ sind Sie?

Die meisten Kinder lei­den zeitweise mehr oder weniger unter Angst. Oft hat diese Angst wenig oder gar nichts mit dem psychischen Zustand der Eltern zu tun. Aber manchmal spielt sehr wohl das bewusste oder auch unbewusste innere und äussere Verhalten der Eltern eine grosse Rol­le. Insbesondere im Vorschulalter haben die Kinder häufig eine 24­Stunden­«Hotline» zu den Ge­fühlen und Stimmungen ihrer Eltern. Es ist selbstverständlich, dass Kinder Angst bekommen, wenn ihre Eltern viele destruktive Konflikte haben, laut miteinander schreien und wenn verbale oder physische Gewalt Alltag ist. 
Gleichzeitig kann Angst bei Kin­dern aber auch Ausdruck für eine versteckte Angst der Eltern sein, zum Beispiel die Leistungsangst des Vaters, die er zu verstecken gelernt hat, oder der Perfektionismus der Mutter, der ja auch eine Art Leis­tungsangst ist. Es kann auch eine Mutter sein, die in der Beziehung zu ihren Kindern eine permanent ängstliche Einstellung entwickelt hat. Oder es geht um die Unsicher­heit der Eltern in der Elternrolle und ihre Angst, etwas falsch zu machen. Diese Unsicherheit entsteht eben etwa dann, wenn das Kind häufig unter Angst leidet – und somit ein Teufelskreis eingeleitet ist. 
Generell ist es aber so, dass die Angst der Kinder mit ihrem noch nicht vorhandenen Wissen und der fehlenden Erfahrung zusammen­ hängt. Die ganz kleinen Kinder haben vor fremden Menschen, Ge­sichtern und Situationen Angst. Spä­ter entsteht Angst vor Trennung, Dunkelheit, vor dem Einschlafen und neuen Situationen mit fremden Menschen und Ähnlichem. Diese Ängste hängen mit der Entwicklung des Gehirns zusammen.

Die Infrastruktur des Gehirns

Das Gehirn kann vereinfacht ausge­drückt mit einer Infrastruktur ver­glichen werden – ein komplexes Netzwerk von Verbindungen, die mit einer Geschwindigkeit und Komple­xität entwickelt werden, die wir uns gar nicht vorstellen können. Einige dieser Verbindungen entstehen von alleine, während andere eine Konse­quenz von Handlungen, Verhaltens­ mustern, Gewohnheiten und Erfah­rungen sind. 
Wenn viele Kinder zum Beispiel davor Angst haben, was passieren könnte, wenn sie die Augen zuma­chen, um zu schlafen, kann das damit verglichen werden, wie ein unerfahrener Langläufer reagieren würde, der bisher nur gespurte Loi­pen gelaufen ist und dann plötzlich in einen dunklen Wald ohne Spur geschickt wird. Oft helfen in dieser Situation die physische Nähe der Eltern und ein bisschen Licht beim Bett. So kann sich das Kind langsam an die Situation gewöhnen und sei­ne eigene sichere Spur finden.

Die Ängste der Kinder hängen mit der Entwicklung des Gehirns zusammen.

In dieser Phase sind die Bereit­schaft der Eltern, präsent zu sein, und die Qualität der Beziehung zum Kind ganz entscheidend dafür, wie sich die Muster des Kindes entwi­ckeln. Ein ruhiger Erwachsener, der darauf vertraut, dass das Kind schon selbst den richtigen Weg finden wird, ist die optimale Begleitung. Ein nervöser, gestresster, frustrierter oder mental abwesender Erwachse­ner ist hingegen kein guter Begleiter. Die fehlende innere Ruhe und das Misstrauen der Eltern in Bezug auf den Lernprozess behindern die Ent­wicklung eines Kindes.

Was Eltern tun können

Genau dieser Aspekt, der den Zu­stand der Erwachsenen beleuchtet, wurde früher nicht in Betracht gezo­ gen. Eltern haben über Generatio­nen den Rat bekommen, sichere, überschaubare und fixe Rahmen für ihre Kinder zu schaffen, damit diese «gesunde Gewohnheiten» entwi­ckeln. Dies ist ohne Zweifel eine wichtige Voraussetzung, um bei­spielsweise schlafen zu lernen.
 Die Kombination aus dem natür­lichen Bedürfnis des Organismus, zu schlafen, und dem Vertrauen in die Führung der Eltern hilft dem Kind, sich auf die dunkle und unbe­kannte Loipe zu begeben. Wenn das Kind sich auf diesem Weg verloren, desorientiert und ängstlich fühlt und Mama oder Papa ruft, ist es wichtig, ein balanciertes und ver­trauensvolles Echo zurückzube­kommen. Vergessen Sie nicht: Kin­ der müssen aus eigenem Bedürfnis schlafen – nicht der Eltern wegen!

Entscheidend für die Bewältigung der Ängste durch das Kind ist die Befindlichkeit der Erwachsenen in seiner Umgebung.

Viele Eltern brauchen in Wahr­heit das gleiche Training; nämlich die Entwicklung eines gesunden Verhaltensmusters in der Rolle als «Einschlaf­Coach». Auch Erwach­sene haben oft einen allzu rationalen Zugang: Betrachten Sie die Zeit, die Sie mit Ihrem Kind verbringen, als ein Privileg. Eine halbe oder eine ganze Stunde, in der Sie Ihrem Kind ganz nahe sind und auch spüren, wie wichtig Sie füreinander sind. Ent­spannen Sie sich in dieser Situation bewusst, auch wenn es nach einem langen Tag schwerfällt. 
Auch im Kleinkindalter gelten die gleichen Grundregeln im Umgang mit der Angst. Nehmen Sie diese ernst, aber nicht persönlich. Wenn ein Dreijähriger über Monster unterm Bett redet, ist es keine gute Idee, ihre Existenz zu leugnen. Es ist besser, das Kind dazu aufzufordern, die Monster zu zeichnen, oder mit ihm darüber zu reden. Zeichnen ist eine Ausdrucksform, in der sich Menschen manchmal besser mittei­len können als durch Worte. Die Antwort auf die Frage, was wir als Eltern tun können, um unse­ren Kindern zu helfen, wenn sie Angst bekommen, ist: Empathie und Anerkennung entgegenbringen. Bei Eltern gibt es drei typische verschie­dene Stilarten:

  • Die überbeschützenden und über­besorgten Eltern, die in Wirklich­keit sich selbst zu beruhigen ver­suchen oder nicht vertragen, dass ihre Kinder ganz normale Gefüh­le haben. 
  • Die verständnisvollen Eltern, wel­che die Erlebnisse des Kindes von ihren eigenen Erlebnissen unter­ scheiden können. 
  • Die pragmatisch­intellektualisie­renden Eltern, die nicht viel Nähe bieten. 

Beispiel: Ein Zweijähriger wacht wegen eines Gewitters mitten in der Nacht auf, weint und ruft nach Mama und Papa. Der erste Elterntyp nimmt das Kind zu sich, ist aber selbst so aufgewühlt, dass es lange dauert, bis sich das Kind beruhigt. Der zweite Elterntyp nimmt das Kind zu sich, streichelt es und sagt: «Ja, ich weiss. Man kann grosse Angst bekommen, wenn es draussen so donnert und blitzt, aber hier bei uns passiert nichts.» Der dritte Elterntyp hält das Kind vor sich hin und erklärt die Physik des Gewitters in der unrealistischen Erwartung, dass das rationelle Ich des Kindes diese Information aufnehmen kann. 
Wenn ein Kind Angst erlebt, werden wir mit unserem Drang konfrontiert, das Kind bestmöglich zu beschützen – in äusserster Kon­sequenz wollen wir die Angst und ihre Ursache vom Kind fernhalten. 
Das ist ein schöner Gedanke, aber leider nicht möglich. Die frü­hen Episoden in der Kindheit sind eine gute Übung für Eltern, sich aus der Symbiose mit ihrem Kind zu lösen und zu lernen, dass die vor­nehmste Rolle von Eltern die ist, sich mit all ihrer Lebenserfahrung und ihrem Überblick zur Verfügung zu stellen. Damit wird dem Kind ermöglicht, seine eigene Art und Weise zu entwickeln, wie es sein Le­ben meistern kann.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Alle Artikel von Jesper Juul

Lesen Sie mehr zum Thema Angst:

Ängste: Das Monster unter dem Bett
Gesellschaft
Ängste: Das Monster unter dem Bett
Während der Kindergartenzeit durchleben Kinder viele Ängste. Eltern können ihren Kindern zeigen, wie sie mit ihren Ängsten umgehen können.
Loslassen: Dossier Interview mit Joëlle Gut
Erziehung
«Überbehütete Kinder sind in ihrer Autonomie blockiert»
Psychotherapeutin Joëlle Gut über Eltern, die sich schwertun mit Loslassen und ihren Kindern mehr Verantwortung zu übertragen.
Elternblog
Misox – oder die Geschichte von der entfesselten Drachenkönigin
Redaktorin Maria Ryser verarbeitet das Unwetter im Misox und nimmt uns mit auf eine innere Reise, die sie auch als Mutter wachsen liess.
Video
Mein Kind hat immer Angst
Silvia Zanotta ist Expertin für Angststörungen. Im Kosmos-Kind-Vortrag erklärt sie, wie Eltern betroffenen Kindern helfen können.
Joel spricht mit seiner Mutter im Wald über seine Angst in die Schule zu gehen.
Psychologie
Schulangst: «Der kann schon, der will nur nicht!»
Joel, 18, hat Legasthenie. Die Angst, von seinen Mitschülern ausgelacht zu werden, war gross. Wie er es geschafft hat, die Schule abzuschliessen.
Stress bei Kindern schnell und einfach mit Klopfen auflösen
Gesundheit
Stress bei Kindern schnell und einfach mit Klopfen auflösen
Prüfungsangst oder Bauchschmerzen wegen einem Konflikt? Mit der EFT-Klopftechnik können Kinder sich bei Stress schnell wieder beruhigen.
Schulangst: «Ich habe nur noch geweint»
Psychologie
«Als Colin in die Psychiatrie sollte, habe ich geweint»
Colin wollte wochenlang nicht mehr zur Schule. Er und seine Mutter erzählen, wie sie diese Zeit erlebt haben und was ihnen geholfen hat.
Schulangst: Kind bleibt zu Hause und schaut aus dem Fenster
Psychologie
Schulangst: «Mir war schon morgens zu Hause ganz schlecht»
Was tun, wenn das Kind vor lauter Angst nicht mehr in die Schule will? Ein Mädchen und sein Vater erzählen, wie es dazu kam.
Schulangst
Psychologie
Wenn die Schule zur Qual wird
Bei Schulabsentismus ist immer häufiger Angst im Spiel. Wie sollten Lehrpersonen reagieren? Und wie können Eltern ihr Kind stärken?
Gute Geheimnisse, schlechte Geheimnisse: Mädchen flüstert der Mutter ein Geheimnis ins Ohr.
Erziehung
Gute Geheimnisse, schlechte Geheimnisse
Was macht ein gutes und was ein schlechtes Geheimnis aus? Wie Eltern ihr Kind dabei unterstützen können, die beiden zu unterscheiden.
Malen zeichnen Umgang mit Kinderbildern
Elternbildung
Was malst du da?
Sich beim Malen frei auszudrücken fördert die Kreativität, wirkt entspannend und kann sogar helfen, belastende Erfahrungen zu verarbeiten. 
Angststörungen und Phobien bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu.
Gesundheit
Angststörungen: Was können Eltern tun?
Noch nie litten so viele Kinder und Jugendliche an Angststörungen und Phobien wie heute. Was ist los? Expertin Silvia Zanotti ordnet ein.
Mut braucht vor allem Selbstvertrauen
Erziehung
«Mut braucht vor allem Selbstvertrauen»
Mut hat viele Facetten. Ingenieurin Anne Richter erzählt, wer von ihren Jungs eher zu physischem und wer zu sozialem Mut neigt.
Wie Kinder mutig werden: 5 Beispiele aus dem Alltag
Erziehung
Wie Kinder mutig werden: 5 Beispiele aus dem Alltag
Was sollen Eltern tun, um den Mut ihrer Kinder zu fördern? Und wo sind die Grenzen? 5 Beispiele aus dem Alltag.
Mut: Klare Absprachen fördern das Sicherheitsgefühl
Erziehung
«Klare Absprachen fördern das Sicherheitsgefühl»
Larissa und Jan Weile haben zwei klassische Schockmomente erlebt und eine Strategie entwickelt, ihren Kindern mehr Freiraum zu gewähren.
Mut entwickeln und Ängste überwinden
Erziehung
Wie wird mein Kind mutig?
Eltern wünschen sich mutige Kinder. Mut zeigt sich auf verschiedene Weise. Was hilft einem Kind, mutig zu werden? Und wie können Eltern es unterstützen?
Fritz+Fränzi
Mutige Kinder: Unser Thema im Juni
Wie Kinder an der Überwindung ihrer Ängste wachsen – und was Eltern dazu beitragen können.
Mikael Krogerus Kolumnist
Elternblog
Über den Grusel-Reiz beim Übernachten
Schlafen in einem fremden Haus bedeutet grosse Angst und unwiderstehliche Faszination, schreibt unser Kolumnist Mikael Krogerus und erinnert sich an seine ersten Übernachtungen.
Familienleben
Wie können Eltern besser mit Stress im Alltag umgehen?
Viele Eltern fühlen sich im Alltag mit seinen unendlichen To-do-Listen permanent gestresst und gehetzt. Woran liegt das? Und vor allem: Wie kommen wir da wieder raus?
Die meisten Kinder werden aus Überforderung geschlagen
Elternbildung
«Die meisten Kinder werden aus Überforderung geschlagen» 
Zwei Sozialarbeiterinnen plädieren für mehr Aufklärung und Hilfsangebote für Eltern, die häufig aus Überforderung gewalttätig werden.
Erziehung
Wie viel Elternangst ist normal?
Die Evolution hat uns mit Sorge um unsere Kinder ausgestattet. Wie findet man einen guten Umgang mit den Elternängsten?
Entwicklung
7 Tipps für ängstliche Eltern und Kinder
Welcher Risikotyp ist Ihr Kind? Und was tun, wenn Sie selbst zu Sorge und Angst neigen? Mit diesen Tipps stärken Sie sich selbst und Ihr Kind.
Angst vor Mathe und die Folgen
Lernen
Angst vor Mathe und die Folgen
Neuere Forschungen zeigen, dass die meisten Kinder mit starker Angst vor Mathematik keine schlechte Leistung in diesem Fach bringen.
Elternbildung
Wut, Angst und Trauer haben keinen Ausschaltknopf
Oft sind Eltern gute Problemlöser. Teilweise sind sie aber auch hilflos, die Gefühle ihrer Kinder auszuhalten.