Leben im Hier und Jetzt

Bilder: Roshan Adhihetty / 13 Photo, Herbert Zimmermann/13 Photo
Sich selbst bewusster wahrnehmen, die Sinne schärfen, innehalten und durchatmen im hektischen Alltag – das ist das Ziel von Achtsamkeit. Achtsamkeit ist zu einem Trend geworden – und hat auch in Klassenzimmern Einzug gehalten. Doch was bringen Achtsamkeitsübungen unseren Kindern, worauf sollten Schulleiter und Lehrpersonen achten? Und wie gelingt Achtsamkeit in der Erziehung?
Dann geht es weiter: die Handflächen auf die Knie legen, den Mund schliessen und ganz zum Schluss auch die Augen. Das, was die 1./2. Primarklasse im Luzerner Schulhaus Mariahilf da gerade macht, nennt sich «Stille Minute» und lehnt sich an die sogenannte Achtsamkeitspraxis an.
Achtsamkeit hilft Kindern und Erwachsenen, zur Ruhe zu kommen und sich selber zu ordnen, wenn sie gestresst sind. Probieren Sie es aus!
Tatsächlich belegen zahlreiche Studien inzwischen die Wirksamkeit von Achtsamkeit. Voraussetzung: Sie wird von erfahrenen Trainern gelernt und regelmässig geübt. Ganz allgemein profitiert die psychische Gesundheit aller, die Achtsamkeit praktizieren, auch der Nutzen für Angstpatienten und Menschen mit chronischen Schmerzen ist belegt. Depressive können vor Rückfällen bewahrt werden, generell erleben die Übenden eine verbesserte Lebensqualität und lassen sich weniger schnell stressen.

Von Ärzten empfohlen
Einige Experten mutmassen, dass die Hirnforschung die Triebfeder ist. Neurowissenschaftler interessieren sich nämlich zunehmend dafür, was genau die Achtsamkeitspraxis – auch Achtsamkeitsmeditation genannt – mit unseren Köpfen anstellt. Dass die bewusste Wahrnehmung Strukturen und Leistungen des Gehirns beeinflussen kann, ist das Thema von immer mehr Tagungen und Fachkongressen. Google Trends verzeichnet seit etwa zehn Jahren eine stetig steigende Beliebtheit der Suchbegriffe Achtsamkeit und Meditation, und wer heute nach «Mindfulness» googelt, erhält mehr als 24 Millionen Treffer. Gleichzeitig wächst die Zahl der Ärzte, die ihren Patienten einen Achtsamkeitskurs empfehlen.
Die stille Minute
Sportler raten ihren Teamkollegen zu einem Kurs, weil sie merken, dass die regelmässige Achtsamkeitspraxis ihnen dabei hilft, sich zu fokussieren und ihre Höchstleistung auf den Punkt genau abrufen zu können. Managerinnen und Anwälte, Lehrer und Verkäuferinnen, Ärztinnen und Büroarbeiter schaffen es mit Hilfe von Achtsamkeit, gelassener mit stressigen Tagen und ihren Mitmenschen umzugehen.

Mariahilf-Schule in Luzern üben sich in Achtsamkeit.
Online-Dossier Achtsamkeit und Entschleunigung
Wer sich mittels Achtsamkeit in die Tiefen seines Selbst begibt, kann dort auch auf weniger angenehme Erinnerungen stossen.
Es ist kurz vor zwei Uhr, der Projektunterricht an der Sekundarstufe beginnt. Die Jugendlichen kommen aus der Mittagspause, ein aufgeregtes Schnattern erfüllt den Raum, es wird gerufen, gekichert, gelacht. Vera Renggli begrüsst die Klasse, und Sekunden später ist es so leise, dass man eine Stecknadel auf den Boden fallen hören könnte: 24 Schüler sitzen auf ihren Stühlen, Füsse aufgestellt, Rücken gerade, die Hände auf den Oberschenkeln und die Augen geschlossen. Sie reisen – angeleitet von Vera Rengglis ruhiger Stimme – durch ihren Körper, von den Zehen Stück für Stück nach oben bis zum Haarschopf. Sie spüren in jeden einzelnen Körperteil hinein, fühlen die Temperatur, nehmen Verspannungen wahr. Nach drei Minuten ist der Bodyscan vorbei.
Sich ein paar Minuten auf sich selbst konzentrieren

Die Forschung kann bislang noch keine gesicherten Aussagen machen. Das liegt auch daran, dass die Qualität zahlreicher Studien zum Thema «nicht optimal» ist, wie es Gunther Meinlschmidt formuliert. Er ist jedoch zuversichtlich, dass derzeit laufende Studien und Untersuchungen in wenigen Jahren klarere Rückschlüsse erlauben. «Wenn eine gewisse Anzahl qualitativ hochwertiger Studien vorliegt, kann man auch darüber nachdenken, Achtsamkeitspraxis als Therapie zu etablieren oder sie sogar in den Lehrplan aufzunehmen», sagt Meinlschmidt.
Achtsamkeit wirkt bei Kindern umso besser, je mehr sich auch die Eltern daran beteiligen.
Eine weitere Studie aus dem vergangenen Jahr hat gezeigt, dass Jugendliche, die unter den Symptomen einer chronischen körperlichen Erkrankung leiden, ebenfalls von Achtsamkeit profitieren können. Auch interessant: Eine ebenfalls 2017 erschienene Metastudie mit dem Titel «Teaching mindfulness to teachers» hat mehrere Untersuchungen dazu ausgewertet, wie sich achtsamkeitstrainierte Lehrer auf das Wohlbefinden der Schüler auswirken. Sie kommt zum Ergebnis, dass derartig geschulte Lehrpersonen nicht nur positiven Einfluss auf die einzelnen Kinder haben, sondern sich auch die Atmosphäre in der Klasse insgesamt verbessert.
Achtsam essen heisst, sich zu
fragen: Wie riecht die Tomate?
Wie fühlt sich das Essen auf der
Zunge an? Wonach schmeckt es?
Dass Kinder sich besser anpassten und den Lehrpersonen womöglich Stress erspart werde, sei nicht die richtige Motivation, sich mit Achtsamkeit zu beschäftigen: «Wer so an die Sache rangeht, der macht aus der Achtsamkeitspraxis eine Ware, der hat die ganze Sache nicht verstanden.» Vera Kaltwasser war lange Lehrerin an einem Gymnasium in Frankfurt am Main und ist heute in der Lehrerfortbildung tätig. Sie hat die sogenannte Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR, Mindfulness- Based Stress Reduction) unter anderem bei Jon Kabat-Zinn, dem Erfinder dieses Programms, gelernt – eigentlich für sich selbst.
Konzept für die Schule
«Wenn man Kinder bittet, sich ganz konkret eine Zitrone vorzustellen, dann nehmen sie erstaunt wahr, dass ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft. Eine Vorstellung bewirkt also eine körperliche Reaktion. So können die Kinder nachvollziehen, dass sie sich mit Befürchtungen und Sorgen – obwohl es nur Gedanken sind – in Stress versetzen.
Achtsame Kinder haben weniger negative Gefühle, vor allem gegenüber sich selbst.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich Achtsamkeit positiv auswirkt – besonders auffällig war die verbesserte Aufmerksamkeitsleistung. Die Wissenschaftler betonen, dass die Ergebnisse nur als erste Anhaltspunkte dienen können, die weiter abgesichert werden müssen. Eine weitere multizentrische Studie in Frankfurt ist geplant. Inzwischen gibt es auch Lehrerfortbildungen zu AISCHU.
In der Familie einfacher umzusetzen als in der Schule
Achtsame Menschen fühlen
sich wohler in ihrer Haut.
Sie haben eine verbesserte
Lebensqualität und lassen sich
weniger schnell stressen.
Oder auch die einfache Frage: Wie fühlst du dich? Das Kind muss dann ein wenig in sich hineinhorchen, um Gefühle erkennen und artikulieren zu können. Meinlschmidt rät Eltern, öfter mal mit ihren Kindern Detektiv zu spielen. Egal ob bei kleinen Unternehmungen oder beim Kochen daheim, vielleicht eingebettet in eine Geschichte. «So lernen Kinder in kleinen, immer mal wieder eingestreuten Momenten, was es heisst, wachsam und achtsam zu sein.»
Achtsamkeit ist kein Allheilmittel
«Man muss aufpassen, dass Achtsamkeitsübungen nicht von Leuten angewandt werden, die selber wenig Erfahrung haben», sagt Grossman. Denn wer sich mittels Achtsamkeit in die Tiefen seines Selbst begibt und Gedanken und Empfindungen erkundet, kann dort auch auf weniger angenehme Erinnerungen stossen. «Das kann durchaus eine heikle Erfahrung für einzelne Kinder sein, es gibt ja leider viele, die traumatische Erfahrungen mit Formen der sexuellen oder emotionalen Belästigung gemacht haben», sagt Grossman.

Doch dass schon die «Stille Minute» aus dem Unterricht zu ein bisschen mehr Achtsamkeit im Alltag animieren kann, haben die Primarschüler von Flurina Hodel gelernt. Sarah mag den ruhigen Unterrichtsbeginn, weil sie sich so besser konzentrieren kann, «und es hilft mir beim Schreiben».
Wurzeln der Achtsamkeit
Grundlagen der Achtsamkeit. Diese sind:
- Die Achtsamkeit auf den Körper. Wie fühlt sich der Boden an, aufdem ich laufe oder sitze? An welchen Stellen am Körper verspüre ich vielleicht gerade Schmerzen? Bin ich verspannt?
- Die Achtsamkeit auf die Emotionen. Was fühle ich gerade? Ist das ein positives Gefühl? Sind es negative Gedanken? Kann ich das neutral sehen?
- Die Achtsamkeit auf den Geist. Wie wach bin ich gerade im Kopf? Lenkt mich etwas ab? Bin ich verwirrt? Bin ich konzentriert?
- Die Achtsamkeit auf die Geistesobjekte. Welche Dinge und Objekte kann ich in diesem Moment wahrnehmen? Sehen? Hören? Riechen?
Vipassana ist ein Übungsweg der Einsicht und in der westlichen Welt hauptsächlich unter der
Bezeichnung Achtsamkeitspraxis bekannt geworden. Die überlieferten Übungen sind alltagstauglich und können von jedem geübt werden.
Verschiedene Formen der Achtsamkeit finden sich allerdings auch in anderen Kulturen und Religionen. Achtsamkeitsexperten betonen daher, dass es sich bei der Achtsamkeitspraxis
nicht um eine Religion handelt
Buchtipps:
- Myla und Jon Kabat-Zinn: Mit Kindern wachsen – Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie. Arbor Verlag, Freiburg im Breisgau 2015. 416 Seiten, ca. 37 Franken.
- Thich Nhat Hanh: Achtsamkeit mit Kindern. Nymphenburger Verlag, München 2012. 224 Seiten, ca. 34 Franken.
- Vera Kaltwasser: Praxisbuch Achtsamkeit in der Schule. Selbstregulation und Beziehungsfähigkeit als Basis von Bildung. Beltz Verlag, Weinheim 2016. 251 Seiten, ca. 37 Franken.
- Lienhard Valentin und Petra Kunze: Die Kunst, gelassen zu erziehen. Achtsamkeit im Leben mit Kindern. Arbor Verlag, Freiburg im Breisgau 2015. 168 Seiten, ca. 35 Franken.
- Daniel Siegel und Tina Bryson: Achtsame Kommunikation mit Kindern. Zwölf revolutionäre Strategien aus der Hirnforschung für die gesunde Entwicklung Ihres Kindes. Arbor Verlag, Freiburg im Breisgau 2013. 264 Seiten, ca. 35 Franken.
- Daniel Siegel und Tina Bryson: Disziplin ohne Drama. Achtsame Kommunikation mit Kindern. Arbor Verlag, Freiburg im Breisgau 2015. 336 Seiten, ca. 34 Franken.
- Daniel Rechtschaffen: Die achtsame Schule. Achtsamkeit als Weg zu mehr Wohlbefinden für Lehrer und Schüler. Arbor Verlag, Freiburg im Breisgau 2016. 328 Seiten, ca. 29 Franken.
Zur Autorin:
Weiterlesen:
- Vier Übungen für achtsame Kinder und ihre Eltern.
- «Jeder kann Achtsamkeit lernen», sagt der US-amerikanische Paar- und Familientherapeut Daniel Rechtschaffen.