Immer schneller, immer mehr? Bremsen Sie. Für Ihre Familie.
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren
Kommunikation, Mobilität, Konsum – alles wird immer schneller. Dies führt dazu, dass wir uns von unserer Beschäftigung und unseren Mitmenschen entfremden – eine Entwicklung, die unsere Kinder genauso betrifft wie uns selbst. Die gute Nachricht ist: Wir sind ihr nicht hilflos ausgeliefert.
Die meisten Innovationen der
letzten drei Jahrhunderte
haben dazu geführt, dass wir
etwas schneller tun konnten.
Wenn aber ein Phänomen eine ganze Gesellschaft erfasst, lohnt es sich, nicht nur die einzelnen Menschen im Blick zu haben. Besonders interessant finde ich in diesem Zusammenhang die Gedankengänge des Soziologen Hartmut Rosa.
In einer Welt, in der – zumindest für uns in der Schweiz – alles so leicht verfügbar ist, wo Maschinen und Computer einen Grossteil unserer Arbeit erledigen und wir täglich so viele Erfindungen nutzen, die uns Zeit sparen, sollten wir es sehr gemütlich haben.
Die Logik der Steigerung
Die Gefahr der Beschleunigung für die Familie
Teilweise befeuern wir diese Dynamik aber auch selbst. Hartmut Rosa spricht davon, dass wir darauf ausgelegt sind, immer mehr von der Welt in Erfahrung zu bringen. Wenn wir rascher kommunizieren können, schreiben wir anstelle von drei Briefen 150 Nachrichten pro Tag. Wenn wir bequemer und schneller reisen können, tun wir es häufiger. Ein Tourist aus Korea erklärte mir letztens im Zug stolz, dass er und seine Partnerin eine Europareise machten und in zwölf Tagen die Hauptstädte von zehn verschiedenen Ländern besucht hätten. Im Zug haben wir uns deshalb getroffen, weil sie in der Schweiz neben Zürich noch Bern besuchen wollten, wobei man «Bern ja schnell gesehen hat».
Vorgänge wie Interesse
entwicklen oder etwas
emotional erfassen lassen,
sich nicht beschleunigen.
Alle beschriebenen Entwicklungen haben sehr viel Positives: Sie schenken uns mehr Freiheiten und Möglichkeiten als jeder Generation zuvor. Rosa weist aber auch auf eine grosse Gefahr der Beschleunigung hin: Sie führt dazu, dass uns die Welt und andere Menschen fremd werden.
Studierende, die nur noch darauf aus sind, zu den nötigen ECTS-Punkten zu kommen und dafür möglichst effizient die prüfungsrelevanten Inhalte in den Kopf zu pressen, können keine Beziehung zu ihrem Fach aufbauen. Lehrpersonen, die in Bürokratie versinken und den dichter werdenden Lehrplan durchziehen müssen, fehlt die Zeit, um sich auf ihre Schülerinnen und Schüler einzulassen. Mitarbeitende, die das Gefühl haben, dass sie nie genügen und es nur darum geht, jedes Jahr bessere Zahlen zu liefern und grössere Aufgabenberge abzuarbeiten, werden zynisch und verlieren das Interesse an ihrer Arbeit und ihren Kollegen.
Resonanz braucht Zeit
Es schmerzt, wenn wir die Möglichkeit und die Fähigkeit zu diesen Erfahrungen verlieren. Mir selbst geht es mit dem Lesen so. Während des Studiums habe ich mehrere Hundert Bücher gelesen. Ich bin darin versunken und konnte mich stundenlang auf die Inhalte fokussieren. Das gelingt mir heute nur noch selten. Nach ein paar Minuten überlege ich, ob das Lesen dieses Buches Sinn ergibt, ob es für das nächste Seminar nützlich ist und ob ich nicht lieber noch einen Teil meines E-Mail-Bergs abarbeiten soll, bevor der Sohn aus dem Kindergarten kommt.
Wir können etwas tun
- Wo geniesse ich das Tempo der heutigen Welt und wo würde ich es gerne ruhiger angehen?
- Wenn die Zeit sowieso nie für alles reicht: Was ist für mich, uns als Familie oder als Schule, als Firma das Wesentliche? Und wie können wir uns wieder vermehrt darauf fokussieren? Worauf wollen wir verzichten?
- Wo fühle ich mich «in Resonanz» mit der Welt und wie kann ich diese Zeiträume ausdehnen? Was braucht es dazu?
- In welchen Bereichen meines Lebens fühle ich eine zunehmende Entfremdung? Und wie kann ich darauf reagieren?