Gene entscheiden über den Schulerfolg – aber anders, als wir denken - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Gene entscheiden über den Schulerfolg – aber anders, als wir denken

Lesedauer: 4 Minuten

Durch die Erziehung und das Verhalten der Eltern nehmen die Gene auch dann Einfluss auf die Entwicklung, wenn die Kinder sie nicht geerbt haben. 

Vor zwei Jahren bin ich Mutter geworden. Bereits während mei­ner Schwangerschaft und seit der Geburt meiner Tochter haben mich Famili­enmitglieder, Kinderärzte und Zei­tungsartikel mit Ratschlägen über­häuft, wie ich die Entwicklung meiner Tochter optimal fördern kann.

Wenn ich viel mit ihr spreche, wenn ich ihr regelmässig vorlese, wenn ich mit ihr Museen und Büchereien besuche – so lautet der Rat –, erhöhe ich ihre Chancen, erfolgreich durchs Leben zu gehen. Hinter diesen Empfehlungen steckt der verbreitete Glaube, dass Eltern durch ihr Verhalten die Entwicklung ihrer Kinder beeinflussen.

Eltern vererben ihren Kindern einen Teil ihrer Gene. Diese haben einen Einfluss darauf, wie Kinder sich entwickeln.

Neben meiner Rolle als Mutter bin ich Forscherin. In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit dem Einfluss von Erziehung und genetischer Anlage auf die Entwicklung von Kindern. Deshalb weiss ich, dass Erziehung nicht der einzige Weg ist, auf dem Eltern die Entwicklung ihrer Kinder beeinflussen. Ein weiterer Faktor sind Erbanlagen. Eltern vererben ihren Kindern einen Teil ihrer Gene, und diese haben einen Einfluss darauf, wie Kinder sich ent­wickeln – vom Schulerfolg bis zum Risiko für Verhaltensstörungen.

Die Bedeutung der Gene wurde erstmals durch Adoptiv­- und Zwillingsstudien bekannt, in denen zum Beispiel gezeigt wurde, dass getrennt adoptierte eineiige Zwillinge trotz ihrer unterschiedlichen familiären Umfelder beachtliche Gemeinsam­keiten in ihrem Verhalten aufwie­sen. Seit einigen Jahren ist es ausser­ dem möglich, Varianten im Erbgut direkt zu messen und ihre Rolle für menschliches Verhalten zu unter­ suchen.

Wie spielen Gene und Umfeld zusammen?

Wenn öffentlich debattiert wird, ob nun Erziehung oder Gene stärker wirken, stellt man die beiden Fakto­ren oft als Konkurrenten dar: Erzie­hung versus Gene. Die Realität sieht ganz anders aus. Es ist wahrschein­lich, dass das familiäre Umfeld und die genetischen Anlagen die Ent­wicklung eines Kindes in engem Zusammenspiel beeinflussen.

Die vorherrschende Sichtweise auf die Rolle der Gene für die Ent­wicklung ist einseitig: Oft wird vemutet, dass Gene ihren Einfluss ausüben, indem sie nur die Biologie und das Verhalten desjenigen Menschen beeinflussen, der die Gene geerbt hat. Ein Beispiel dafür wäre, dass die Gene meiner Tochter die Entwicklung ihres Gehirns beein­flussen und dies Konsequenzen für ihr Verhalten hätte.

Anlage und Umwelt sind eng miteinander verwoben

Neueste Studien zeigen uns aber, dass Gene auch einen indirekten Einfluss ausüben, indem sie das Verhalten der Men­schen beeinflussen, die ein Kind umgeben. Meine eigenen Gene beispielsweise beeinflussen mein Ver­halten gegenüber meiner Tochter auf eine Art und Weise, die ihre Ent­wicklung prägt. Sprich, Gene und Erziehung üben ihren Einfluss in einem komplexen Zusammenspiel gemeinsam aus.

Um mehr über dieses Zusam­menspiel von Genen und Verhalten der Eltern zu erfahren, habe ich kürzlich mit meinen Kollegen eine Gruppe von 860 britischen Müttern und Kindern untersucht. Unser Team besuchte diese Familien regel­mässig, beginnend im fünften Lebensjahr der Kinder bis hinein ins frühe Erwachsenenalter. Wäh­rend der Kindheit wurden umfas­sende Daten über das Verhalten der Mütter gegenüber ihren Kindern gesammelt, etwa darüber, ob die Mütter ihre Kinder geistig förder­ten, zum Beispiel durch das Vorle­sen von Büchern, und ob sie sich ihren Kindern gegenüber sensibel und liebevoll verhielten, beispielsweise durch in den Arm nehmen. Als die Kinder das 18. Lebensjahr erreicht hatten, sammelten wir Informationen über ihren bisheri­gen Schulerfolg.

Mütter, die genetisch eine höhere Veranlagung für Bildungserfolg trugen, förderten auch ihre Kinder in 
einem grösseren Ausmass.  

Zusätzlich zu diesen Daten mas­sen wir Genvarianten im Erbgut der Mütter und Kinder. Wir konzentrierten uns auf eine Kombination von mehreren Millionen Varianten, die in vorherigen Studien mit dem Bildungserfolg von Menschen in Verbindung gebracht worden waren: Die Studienteilnehmer mit einer grösseren Anzahl dieser Genvarian­ten erzielten einen höheren Schuler­folg – zwar war ihr Vorsprung gering, aber klar messbar.

Die Ergebnisse unserer Analysen zeigen eine enge Verzahnung von Erziehung und Genen, die gemein­sam den Schulerfolg von Kindern beeinflussen. Die Mütter, die gene­tisch eine höhere Veranlagung für Bildungserfolg trugen, zeigten auch in ihrem Verhalten geringe, aber messbare Tendenzen, den Schul­erfolg ihrer Kinder zu begünstigen. Dies zeigte sich besonders darin, dass sie ihre Kinder in grösserem Ausmass geistig förderten. Dies hatte Folgen für den späteren Schul­erfolg: Die Kinder dieser Mütter besuchten die Schule länger und hatten etwas bessere Noten. Bemerkenswert daran war, dass der Ein­fluss der mütterlichen Gene auf den Schulerfolg der Kinder unabhängig davon erfolgte, ob Kinder diese Gene von ihren Müttern auch geerbt hatten.

Anders ausgedrückt: Kinder von Müttern, deren Gene den Bildungs­erfolg begünstigten, hatten einen Vorteil, der über das Erben dieser Gene hinausging, weil sie zusätzlich in einem förderintensiveren Fami­lienumfeld aufwuchsen.

Welche Erkenntnisse bringt diese Studie?

Zusammengefasst können wir zei­gen, dass Gene das Verhalten von Kindern nicht nur durch die bekannten Prozesse der Vererbung beein­flussen, sondern auch indirekt über das Umfeld, zum Beispiel das Ver­halten der Eltern. Es ist aber bekannt, dass das Umfeld der Kinder auch durch ergänzende fördernde Mass­nahmen positiv beeinflusst werden kann, beispielsweise durch qualitativ hochwertige externe Kinderbetreu­ung, Schulhilfen und Elternkurse.

Ein Fazit unserer Studie ist daher, dass es wichtig ist, solche Angebote allen Familien leicht zugänglich zu machen, um Chancengleichheit für jedes Kind sicherzustellen, unab­hängig vom genetischen Hinter­grund.

Eine weitere Schlussfolgerung unserer Studie ist, dass Anlage und Umwelt sehr viel enger miteinander verwoben sind, als oft angenommen wird. Um die Entwicklung von Kin­dern besser zu verstehen, ist es daher wichtig, beide Faktoren gemeinsam zu untersuchen.

Zur Person:

Jasmin Wertz ist Entwicklungspsychologin und erforscht, wie Erziehung und genetische Anlage die Entwicklung von Kindern beeinflussen. Sie arbeitet in der Abteilung für Psychologie und Neurowissenschaften an der Duke University in Durham, North Carolina (USA).
Jasmin Wertz ist Entwicklungspsychologin und erforscht, wie Erziehung und genetische Anlage die Entwicklung von Kindern beeinflussen. Sie arbeitet in der Abteilung für Psychologie und Neurowissenschaften an der Duke University in Durham, North Carolina (USA).


BOLD Blog

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