Asperger-Syndrom: die andere Art, die Welt zu sehen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Asperger-Syndrom: die andere Art, die Welt zu sehen

Lesedauer: 7 Minuten

Nonverbale Signale wie Mimik, Gestik oder Tonfall, mit denen wir uns intuitiv verständigen, können Kinder mit Asperger-Syndrom nicht sofort lesen. Dadurch fällt es ihnen schwer, sich im Alltag zurechtzufinden und Freundschaften zu schliessen.

Text: Anja Lang
Bilder: Glenn Dene

Wenn Lars in der Schule von seinem liebsten Hobby «Flaggen» erzählt, kennt er kein Halten mehr. Der Zwölfjährige redet dann ohne Unterlass über Farben, Formen, Muster und Besonderheiten von Flaggen – auch wenn die anderen Kinder bereits gähnen, die Augen verdrehen oder demonstrativ weggucken.

Lars hat das Asperger-Syndrom. Etwa 0,5 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer sind davon betroffen. Dabei handelt es sich um eine angeborene Entwicklungsstörung aus dem sogenannten Autismus-Spektrum. Neben dem Asperger-Syndrom gehören dazu noch der Frühkindliche Autismus sowie der Atypische Autismus. Die verschiedenen Autismus-Formen sind alle von einer veränderten Wahrnehmung und Verarbeitung von Aussenreizen im Gehirn gekennzeichnet, allerdings in stark unter-schiedlicher Ausprägung. Die Grenzen sind dabei fliessend.

Wie es zum Asperger-Syndrom kommt, ist bis heute nicht vollständig geklärt. «Fest steht nur, dass die Genetik eine gewisse Rolle spielt», erklärt Bettina Jenny, leitende Psychologin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «Kinder mit Asperger-Syndrom verfügen über eine gute bis überdurchschnittliche Intelligenz, und auch die sprachliche Entwicklung verläuft anfangs weitgehend unauffällig.»

Eltern und enge Bezugspersonen sehen zwar in der Regel schon früh gewisse Besonderheiten, weiss Kinderpsychologin Jenny: «Meist werden diese aber so akzeptiert und nicht weiter abgeklärt.» Erst ab einem Alter von etwa drei Jahren würden die Auffälligkeiten deutlicher, vor allem beim Spielen mit anderen Kindern. «Kinder mit Asperger-Syndrom haben Mühe, sich in andere hineinzuversetzen, und erkennen nicht, wie sich das Gegenüber gerade fühlt oder was es möchte», so Jenny. «Nonverbale Codes in Form von Mimik, Gestik und Körperhaltung nehmen sie oft nicht wahr oder interpretieren diese falsch.» Später falle auf, dass auch Ironie, zwischen den Zeilen geäusserte Absichten oder bildhafte Redensarten oft missverstanden oder wortwörtlich genommen würden. So könne es sein, dass ein Kind mit Asperger zum Kühlschrank laufe, wenn es dazu aufgefordert werde, «seinen Senf dazuzugeben».

Spezialinteressen und viel Struktur

Ohne ständige Rückmeldungen von aussen ist die Welt für Asperger-Betroffene schwer vorhersagbar und extrem unsicher. Asperger-Autisten lieben deshalb feste und verlässliche Abläufe und Strukturen, die ihnen vertraut sind und sich ständig wiederholen. Neues, Veränderungen, Spontaneität und Überraschungen lehnen sie ab, weil diese ihnen Angst machen. «Dies äussert sich bei jedem Kind anders», sagt Asperger-Expertin Jenny. «Manche wollen die immer gleichen Ausflüge machen oder die Ferien stets am selben Ort verbringen, andere täglich dieselben Speisen essen oder immerzu ähnliche Kleidung tragen.»

Die meisten Kinder mit Asperger wünschen sich Kontakte und Freundschaften. Sie wissen einfach oft nicht, wie sie das anstellen sollen.

Typisch für Kinder mit Asperger-Syndrom ist auch, dass sie häufig Spezialinteressen entwickeln, die oft nicht alterstypisch sind und deshalb etwas seltsam wirken. Dabei beachten sie viele Details und merken sich aussergewöhnlich viele Fakten. Bei Jungs stammen die Vorlieben meist aus den Bereichen Naturwissenschaft und Technik, Themen sind etwa der Abstand von Planeten zueinander, Schmelzpunkte von Metallen, Zugfahrpläne oder Vulkanismus. Asperger-Mädchen haben auch gängigere Themen wie Libellenarten oder Pferderassen. Darüber hinaus beschäftigen sich beide Geschlechter oft auch überaus intensiv mit Computerspielen wie Minecraft, bei denen Welten erschaffen werden.

Wenn die Sinne anders arbeiten

Ein weiteres Merkmal der veränderten Wahrnehmung beim Asperger-Syndrom ist die Über- beziehungsweise Unterempfindlichkeit der Sensorik. Normale Sinneseindrücke empfinden Menschen mit Asperger oft deutlich stärker oder aber merklich schwächer als andere Menschen. «Schon zarte Berührungen durch einen Luftzug auf der Haut, aber auch Haarewaschen oder Duschen können sie als extrem unangenehm bis schmerzhaft empfinden», sagt Jenny. «Geräusche sind ihnen schnell zu laut, und Gerüche von Deos oder Aftershaves können ihnen ein unangenehmes Stechen in der Nase verursachen. Kältereize und Schmerzen nehmen Asperger-Betroffene dagegen oft weniger ausgeprägt wahr.»

Umgekehrt wirkten bestimmte Sinneseindrücke, ausgelöst zum Beispiel durch das Streichen über kühle, glatte oder weiche, flauschige Flächen, beruhigend auf das Nervensystem. «Kinder mit Asperger-Syndrom wiederholen solche Handlungen häufig immer wieder, um sich zu regulieren», sagt Jenny. Auch ihr oft fehlender Blickkontakt falle auf. «Studien zeigen, dass direkter Blickkontakt bei Asperger-Betroffenen das Angstzentrum im Gehirn aktiviert», weiss Jenny. «Dies erklärt, warum Betroffene Augenkontakt mit anderen oft meiden.»

Kinder mit Asperger können bereits zarte Berührungen durch einen Luftzug auf der Haut als schmerzhaft empfinden.

«Viele Verhaltensweisen, die Asperger-Kinder zeigen, ergeben im Hinblick auf die Art und Weise, wie sie die Welt wahrnehmen, auch Sinn», sagt Expertin Jenny. «Auf andere wirken ihre Handlungen jedoch oft unpassend, egozentrisch oder einfach nur befremdlich.» Nicht selten eckten Kinder mit Asperger deshalb an oder würden gar Opfer von Ausgrenzung oder Mobbing. «Das muss aber nicht sein», betont Jenny. «Wenn die Umgebung stimmt, können Asperger-Autisten durchaus Freunde haben und in die Klassengemeinschaft integriert sein.» Die meisten Kinder mit Asperger wünschten sich Freundschaften und den Kontakt zu anderen. «Sie wissen einfach oft nicht, wie sie das anstellen sollen beziehungsweise wie sie den gewonnenen Kontakt halten können.»

Buben fallen eher auf, da sie aggressiv reagieren

Insbesondere Mädchen mit Asperger entwickeln deshalb mitunter eine toxische Strategie, um mit Altersgenossinnen mitzuhalten: Sie beobachten deren Mimik und Gestik ganz genau und kopieren sie anschliessend. «In der Primarschule funktioniert dies oft noch», sagt Jenny, «spätestens aber mit Beginn der Pubertät, wenn die Sozialkompetenzen bei den anderen deutlich ausgeprägter werden, haben sie damit weniger Erfolg.» In der Folge entstehe bei den betroffenen Mädchen ein immenser Leidensdruck, weil sie es trotz grösster Anstrengung nicht schafften, ihren sozialen Entwicklungsrückstand zu überspielen.

«Asperger ist nicht heilbar und muss auch nicht geheilt werden», sagt Bettina Jenny, Kinderpsychologin und Asperger-Expertin.

«Durch die andauernde Schauspielerei und Überanpassung verleug-nen sie sich selbst und spüren trotz-dem, dass sie nicht genügen», weiss auch Leah Gerstenkorn, selbst Asperger-Autistin, Heilpädagogin und Weiterbildungsexpertin zum Thema Asperger-Autismus. «Das führt häufig zu einer massiven Selbstabwertung mit Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Zwängen, Essstörungen sowie selbstverletzendem Verhalten und Selbstmordgedanken. Entsprechend gehört Borderline zu den am häufigsten gestellten Fehldiagnosen bei Asperger-Mädchen.» Die Mimikry – die Nachahmung – bewirkt auch, dass das Asperger-Syndrom bei Mädchen mehrheitlich nicht oder erst sehr spät erkannt wird. Während Buben mit Asperger bei Überforderung oft aggressiv reagieren und in der Klasse oder zu Hause stören, fallen betroffene Mädchen insgesamt weniger auf. «Auch sind typische Auffälligkeiten wie fehlender Blickkontakt und das zurückgezogene Verhalten bei Mädchen sozial eher akzeptiert und werden schlicht als Schüchternheit ausgelegt», weiss Gerstenkorn. Deshalb und weil sich Diagnosekriterien vor allem an den männlichen Symptomen orientierten, sei die Wissenschaft lange Zeit davon ausgegangen, dass das Asperger-Syndrom in erster Linie Buben betreffe. «Bis vor gut 20 Jahren wurde zwischen Jungen und Mädchen je nach Studienlage ein Geschlechterverhältnis von 6:1 oder gar 8:1 beschrieben», sagt Gerstenkorn. Heute wisse man, dass diese Zahlen überholt seien. «Ich persönlich gehe von einer tatsächlichen Verteilung von 4:1 oder sogar 2:1 aus», sagt die Heilpädagogin. «Dies legt auch die aktuelle Studienlage nahe», weiss Psychologin Jenny.

Mädchen zeigen oft andere Symptome

«Anzeichen, die bei Mädchen auf das Asperger-Syndrom hinweisen können, sind – neben den bereits genannten Symptomen – Schlafprobleme, eine ständige Überreiztheit, Wutanfälle zu Hause, während in der Schule alles funktioniert, sowie emotionaler Rückzug und emotionale Aus- und Zusammenbrüche», sagt Gerstenkorn. Häufig träten die Auffälligkeiten im Zusammenhang mit äusseren Veränderungen wie Umzug, Schulwechsel, Scheidung der Eltern oder der Geburt eines Geschwisterkindes auf. «So kann ein Schulwechsel von der Primarschule auf die Oberstufe bei einem zuvor gut integrierten Mädchen innerhalb von Wochen zur kompletten Schulverweigerung führen», sagt die Heilpädagogin. «Denn die neue Situation samt unbekannter Umgebung und gesteigerten Anforderungen kann ein Kind mit Asperger oft nicht mehr selbst kompensieren, was dann zur totalen Überforderung führt.» Wenn das Asperger-Syndrom bis dahin jedoch noch nicht aufgefallen sei, könnten Eltern, Lehrpersonen und Gleichaltrige die heftige Reaktion des Kindes oft überhaupt nicht nachvollziehen. «Beschwichtigungen und gutes Zureden führen dann nicht weiter», weiss Gerstenkorn. «An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich fachliche Hilfe zu holen.»

Damit betroffene Kinder die bestmögliche Unterstützung erhalten, aber auch, um Eltern, Lehrpersonen und Klassenmitgliedern die Verhaltensweisen des Kindes besser verständlich zu machen, ist es wichtig, dass das Asperger-Syndrom so früh wie möglich diagnostiziert wird. «In der Schweiz stehen dazu in jedem Kanton spezialisierte Zentren zur Verfügung», sagt Kinderpsychologin Jenny. «Mithilfe von klinischen Beobachtungen, ausführlichen Elterngesprächen und Angaben von Drittpersonen, beispielsweise aus der Schule, sowie speziellen Tests kann dort eine Diagnose gestellt werden.»

Symptome, die auf das Asperger-Syndrom bei Mädchen hinweisen können:

  • Fliehender Blickkontakt
  • Sehr zurückhaltendes Verhalten
  • Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion
  • Selektiver Mutismus (konsequentes Schweigen in bestimmten Situationen)
  • Aussenseiterrolle oder Führungsposition
  • Besonderheiten in der Sensorik
  • Exzessives Lesen und/oder Zeichnen
  • Schlafprobleme
  • Essschwierigkeiten
  • Überreizung
  • Wutanfälle
  • Selbstverletzendes Verhalten
  • Gibt sich grosse Mühe, alles richtig zu machen
  • Versteht Witz und Ironie meist nicht
  • Auffälligkeiten erfolgen besonders nach äusseren Veränderungen

Nicht alle Kinder brauchen eine Therapie

Formal ist Asperger zwar eine Krankheit. «Wir verstehen darunter aber vor allem eine andere Art, die Welt wahrzunehmen, die nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken mit sich bringt», betont Jenny. «Asperger ist nicht heilbar und muss auch nicht geheilt werden.» Es gebe aber durchaus Möglichkeiten, Kinder mit Asperger in ihrer Entwick-lung positiv zu unterstützen und ihnen zu helfen, sich in Gemein-schaften besser zu integrieren. «Hier können beispielsweise Einzeltherapien zur Anspannungsregulation, Gruppen für soziales Kompetenztraining sowie Heilpädagogik und Ergotherapie helfen», sagt Jenny. «Wichtig ist auch eine ausführliche Eltern- und Familienberatung.»

Asperger-Autisten haben auch jede Menge Stärken zu bieten: Sie neigen zu weniger Vorurteilen und gelten als ehrlich, hilfsbereit, loyal und zuverlässig. Darüber hinaus handeln sie meist ohne Hintergedanken und liefern oft ungewöhnliche Lösungsansätze für unterschiedliche Probleme.

Weil die Ausprägung des Asperger-Syndroms eine grosse Bandbreite habe, sei tatsächlich nicht in jedem Fall eine Behandlung not-wendig. «Es gibt durchaus Kinder, die insgesamt gut klarkommen, weil sie nur leichte Defizite und viele Ressourcen haben oder – manchmal sogar noch darüber hinaus – unter besonders günstigen Voraussetzungen aufwachsen», betont Jenny. «Dazu gehören beispielsweise eine reizarme Umgebung, ausreichend Pausen und Rückzugsmöglichkeiten, kleinere Klassen, eventuell eine Schulbegleitung sowie Respekt, Geduld und Rücksichtnahme den betroffenen Kindern gegenüber.»

Kostenlose Workshops für Schulklassen

Damit Asperger-Kinder von einem guten Umfeld profitieren können, müssen auch die Schule, Lehrpersonen sowie die Klasse über das Thema informiert werden. «Dazu bieten sich speziell für Schulen kostenlose Sensibilisierungs-Workshops in Zusammenarbeit mit der Selbsthilfeorganisation Procap an, in denen Betroffene wie ich in die Klassen gehen und dort über ihre Beein-trächtigung erzählen», sagt Gerstenkorn. «Auf Anfrage vermitteln Fachstellen auch Weiterbildungen für Lehrpersonen.» Von solchen Massnahmen profitieren beide Seiten, denn Asperger-Autisten haben nicht nur Schwächen, sondern auch jede Menge Stärken zu bieten: So neigen sie weniger zu Vorurteilen und gelten als ehrlich, hilfsbereit, loyal und zuverlässig. Darüber hinaus handeln sie meist ohne Hintergedanken und liefern oft ungewöhnliche Lösungsansätze für unterschiedliche Probleme.

Mehr zum Thema Asperger

Autismus deutsche Schweiz (ADS) ist die grösste Non-Profit-Organisation zum Thema Autismus in der Schweiz. Neben sehr vielen Hintergrundinformationen finden sich hier eine Übersicht zu aktuellen Veranstaltungen, hilfreiche Broschüren, ein Beratungstelefon, Weiterbildungsangebote sowie ein Verzeichnis sämtlicher Fachstellen in der Schweiz, geordnet nach Kantonen.
www.autismus.ch

Asperger-Hilfe Nordwestschweiz ist ein von betroffenen Eltern gegründeter Selbsthilfeverein. www.aspergerhilfe.ch

Autismus Forum Schweiz ist ein Forum zur Vernetzung und zum Austausch von Betroffenen und Angehörigen rund um das Thema Autismus. www.autismusforumschweiz.ch

Bundesverband Autismus Deutschland e.V. bietet ebenfalls viele Hintergrundinformationen,  Broschüren, Kontaktadressen, Links zu Veranstaltungen sowie einen Rechtsratgeber für Deutschland. www.autismus.de

Infobroschüre für die Schule: «Ein Kind mit Asperger-Syndrom in meiner Klasse …»
Darin beschreibt Beatrice Lucas, Autismusfach- und Lehrperson, wie die Integration eines Kindes oder Jugendlichen mit dem Asperger-Syndrom in die Regelschule funktionieren kann. Erhältlich unter: www.autismus-shop.ch

Fernsehbeitrag: Sensibilisierungs-Workshop mit Leah Gerstenkorn in einer Schule:
www.srf.ch/play/tv > «Schulbesuch von Menschen mit Handicap»

Buchtipp: «Überraschend anders – Mädchen & Frauen mit Asperger» von Dr. Christine Preissmann, TRIAS Verlag, 2013, ca. 25 Fr.

Anja Lang
Anja Lang ist langjährige Medizinjournalistin. Sie ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Alle Artikel von Anja Lang