Achtsamkeit mit Kindern – wie funktioniert das?
Durch Innehalten, Achtsamkeit und Meditation lernen wir, uns nicht vom Aussen abzulenken und das Gedankenkarussell abzuschalten. Auch Kinder profitieren davon.
Die erste Aufgabe klingt lösbar: sich einfach mal hinstellen. Ohne sich irgendwo anzulehnen. Die Hände aus den Hosentaschen, die Arme an den Seiten baumeln lassen. Beide Füsse stehen auf dem Boden, das Gewicht ist gleichmässig verteilt. «Für viele Kinder ist das extrem schwierig », sagt Vera Kaltwasser. «Einfach zu stehen, das kann der Anfang für eine Verfeinerung der Selbstwahrnehmung sein, spielerisch können die Kinder mal in die rechte Fusssohle spüren, dann in die linke und so Kontakt mit dem Körper aufnehmen.»
Vera Kaltwasser ist Lehrerin an einer Frankfurter Schule und Autorin mehrerer Bücher zum Thema Achtsamkeit. Sie hat die sogenannte Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR, Mindfulness- Based Stress Reduction) bei Jon Kabat-Zinn, dem Erfinder dieses Programms, gelernt – eigentlich für sich selbst.
Wer unter Stress steht, sieht oft die einfachsten Lösungen nicht.
Das hat ihr so gutgetan, dass sie irgendwann auf die Idee kam, einen Teil dieser Methode bei ihren Schülern auszuprobieren. Das bewusste Stehen gehört zu den Stillephasen, die Kaltwasser immer wieder in den Unterricht einflicht – schon bei den Jüngsten.
«Aischu» heisst das von ihr entwickelte Konzept, das Kinder und Jugendliche kontinuierlich in kleinen Schritten dafür begeistern soll, ihre Innenwelt zu erkunden und sich selbst besser spüren zu lernen.
«Ich bitte die Kinder zum Beispiel, sich eine Zitrone vorzustellen. Dann nehmen sie erstaunt wahr, dass ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft. Eine Vorstellung bewirkt also eine körperliche Reaktion», erklärt Kaltwasser.
«So verstehen die Kinder, dass sie sich mit Befürchtungen und Sorgen, obwohl es nur Gedanken sind, in Stress versetzen. Der nächste Schritt ist dann, dass Kinder und Jugendliche lernen, selbsttätig ihre Stressreaktion zu entschärfen, indem sie zum Beispiel bewusst auf den Atem achten.»
Meditieren ist ein Prozess
Auch wenn es von aussen nicht so aussieht: Achtsamsein, Meditieren ist ein hochaktiver Prozess. Der Geist wird geschult. So ist der Fokus zum Beispiel der Atem. Immer, wenn die Gedanken abschweifen, wird die Wahrnehmung wieder zum Atem zurückgeholt.
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass aufmerksamer wird, wer regelmässig seine Achtsamkeit schult. Indirekt wirkt sich das auch auf die Leistungen der Schüler aus. Denn wer unter Stress steht, sieht oft die einfachsten Lösungen nicht, auch Höchstleistungen erbringt niemand in angespanntem Zustand.
Auf die besten Ideen kommt man, wenn man entspannt ist. Das haben zahlreiche Studien gezeigt, und genau diese Erfahrung macht Vera Kaltwasser mit ihren Schülern.
«Wichtig ist, dass wir Achtsamkeit nicht als Werkzeug zur Selbstoptimierung entwerten, sondern das ethische Potenzial erkennen, das sich entfaltet, wenn wir lernen, bewusst mit uns und dem anderen umzugehen», betont die Frankfurter Lehrerin.
Meditieren – regelmässige Übung ist wichtig
Der Schlüssel zur erfolgreichen Achtsamkeit ist die Kontinuität. Viel wichtiger als eine lange Übungsdauer ist es, regelmässig zu üben, und wenn es nur wenige Minuten sind. «Deshalb ist es grossartig, wenn Kinder nicht nur in der Schule meditieren, sondern auch die Eltern sich damit ein bisschen auskennen und gemeinsam mit ihren Kindern auf mehr Achtsamkeit im Alltag achten», sagt Vera Kaltwasser.
Sie rät davon ab, das Meditieren zu einem festen Programmpunkt im oft sowieso schon zu vollen Tagesplan eines Kindes zu machen.
Stattdessen sollten Eltern aufmerksam registrieren, wann sich ein guter Zeitpunkt ergibt, um in konkreten Situationen mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Wenn zum Beispiel ein Kind frustriert nach Hause kommt und sagt, der Lehrer könne es nicht leiden.
Kinder sammeln beim In-sich-selbst-Hineinhorchen neue Erfahrungen.
Dann bietet es sich an, dem Ärger oder der Enttäuschung zwar Raum zu geben, aber auch Einflussmöglichkeiten zu zeigen, wie der Stress, den so eine Zurückweisung auslöst, entschärft werden kann.
Das heisst nicht, dass man das Problem kleinredet, aber man kann so schon früh Bewältigungsstrategien erlernen. In Zeiten der ständigen Reizüberflutung durch Medien und digitale Geräte ist Achtsamkeit ein Weg, der Kindern und Jugendlichen helfen kann, ihre Selbstwahrnehmung zu verfeinern.
Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit. Dabei werden innere und äussere Erfahrungen registriert und zugelassen, ohne diese zu bewerten. Ein guter Start ist es, sich einfach mal hinzusetzen und eine halbe Minute lang nichts zu tun, als seinen Atem zu beobachten. Manchen hilf es, eine Hand auf den Bauch zu legen und den Atem so besser zu spüren. Nach und nach können Sie diese kleine Meditation etwas verlängern.
Auch in den Alltag lässt sich Achtsamkeit integrieren. Schärfen Sie Ihre und die Sinne Ihres Kindes: Wie fühlt es sich an, auf dem Weg zur Schule über die Betonplatten zu laufen? Was hört man abends auf dem Balkon, wenn es draussen schon still ist? Wie fühlen sich Gegenstände an, die man täglich in die Hand nimmt – die Zahnbürste, die Seite eines Buches? Wie riecht es zu Hause? Und was schmeckt man eigentlich beim Eis zuerst? Das Süsse? Die Kälte? Oder die Frucht? Trainieren Sie das regelmässig, nimmt die Achtsamkeit bald ganz selbstverständlich einen wichtigen Platz im Leben ein.
«Mir hat mal ein kleiner Junge nach den ersten Übungen gesagt: ‹Ich bin jetzt ein Freund mit mir.› Das trifft es ziemlich gut, finde ich», sagt Vera Kaltwasser.
«Über den Atem machen sich die Kinder mit sich selbst vertraut, sie lernen, freundlich und liebevoll mit sich selbst umzugehen. Sie lernen auch, frühzeitig zu merken, wann sie sich mit Gedanken mal wieder die Hölle heiss machen. Und sie lernen, auch mit den anderen freundlich und wertschätzend umzugehen.»
Während Kinder im Aussen oft an Grenzen stossen, anecken, reguliert werden, können sie beim Insich-selbst-Hineinhorchen ganz neue Erfahrungen machen. Sie merken, dass sie sich die Welt oft selber machen, dass es etwas ändert, wenn man die Dinge so oder anders sieht.
Achtsamer Medienkonsum
Achtsam sein kann auch im Umgang mit Medien helfen. Kaltwasser rät Eltern, nicht einfach ein Verbot – «Du darfst nicht mehr an das Tablet» – auszusprechen, sondern sich achtsam mit dem Nichtstun auseinanderzusetzen und dem Nachwuchs vorzuschlagen: Spüre mal nach, was das mit dir macht, wenn du jetzt nicht auf dem Smartphone oder am Computer spielst, sondern einfach so dasitzt.
Das ist im Grunde genommen die gute alte Langeweile – und die führt bekanntlich zu kreativen Höhenflügen. Wie schwierig es für Kinder ist, eine Vorstellung von Zeit und dem Nichtstun zu haben, zeigt sich oft ganz am Anfang der Achtsamkeitspraxis.
Vera Kaltwasser fragt dabei gern, ob sie es schaffen, 30 Sekunden lang die Augen zu schliessen. Na logo, lachen die Jungen und Mädchen, das ist doch einfach! Und staunen nach fünf Sekunden, wie lange das doch dauert. «Nach etwa sechs Wochen», sagt Vera Kaltwasser, «können meist alle Kinder stillstehen oder die Augen eine halbe Minute lang schliessen.»
Bei denjenigen, die dann immer noch stören, weil sie nicht innehalten können, sollten Lehrer und Eltern genauer hinschauen: «Das ist eine Art Hilferuf, denn diese Kinder merken in den Stillephasen zum ersten Mal, was eigentlich in ihnen vorgeht, und das können sie mitunter nicht aushalten.
Interventionsprogramm «Aischu» und die Wissenschaft
Das Interventionsprogramm «Aischu» war inzwischen auch auf dem wissenschaftlichen Prüfstand. Niko Kohls und Sebastian Sauer, Forscher an der Ludwig-Maximilian- Universität München, haben in einer kleinen Pilotstudie untersucht, welchen Einfluss die Achtsamkeit auf Aufmerksamkeitsleistung, Lebensqualität, Wohlbefinden und Stress von Fünftklässlern hat.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich Achtsamkeit in allen Punkten positiv auswirkt. Besonders auffällig war die verbesserte Aufmerksamkeitsleistung. Die Wissenschaftler betonen, dass die Studie Pilotcharakter hat und die Ergebnisse nur als erste Anhaltspunkte dienen könnten, die weiter abgesichert werden müssten.
Was schmeckt man eigentlich am Eis zuerst? Das Süsse? Die Kälte? Oder die Frucht?
Professor Gunther Meinlschmidt von der Psychologischen Fakultät der Universität Basel und der Ruhr-Universität Bochum findet «das Thema so spannend, dass derzeit einige Studien und Untersuchungen laufen und man in einigen Jahren mehr wissen wird».
Was man aber jetzt schon weiss: Stress kann zu sogenannten epigenetischen Veränderungen führen. Damit sind Veränderungen an den Genen gemeint, die nicht vererbt sind, sondern von äusseren Faktoren herrühren.
Stress ist ein solcher Faktor. «Als Eltern gemeinsam mit dem Kind das Innehalten und Wahrnehmen zu üben, davon können alle profitieren», sagt Meinlschmidt. Zum Beispiel bei einem Waldspaziergang: Tief einatmen und die einzelnen Düfte schnuppern, die Ohren spitzen und den Geräuschen der Tiere und Pflanzen lauschen, einen Baum anfassen und mit den Fingerspitzen die Rinde erfühlen – all das kann die Achtsamkeit fördern.