Verbale Gewalt – wenn Worte die Kinderseele verletzen
Drohen, Erpressen, Demütigen – im Familienalltag können nicht nur Ohrfeigen Kinder verletzen. Psychische Gewalt ist die häufigste Form von Gewalt gegen Minderjährige, sagt der Psychologe und Heilpädagoge Franz Ziegler. Der Kinderschutzexperte über ein Phänomen, das schwer einzugrenzen ist, aber quasi jede Familie betrifft.
Der Weg zu Franz Ziegler führt vorbei am Kindergarten und der Dorfschule. Kindergeschrei, dann wieder Stille. Noch schnell die Dorfstrasse überqueren, und man steht vor einem schneeweissen Haus, dahinter grasen Kühe und Schafe. «Sie haben es aber schön hier!», sage ich, als die Tür aufgeht. Franz Ziegler lächelt: «Nicht wahr? In Zäziwil scheint seit Monaten die Sonne.»
Herr Ziegler, eine Mutter, total gestresst, sagt im Zorn zu ihrer kleinen Tochter: «Manchmal würde ich dich am liebsten verkaufen!»
Da hat die Mutter ihre Tochter geschlagen, würde ich sagen.
Geschlagen?
Ja, mit Worten. Verbale Gewalt ist die typischste Form von psychischer Gewalt. Deshalb spricht man auch von Wortschlägen.
Wie definiert man generell psychische oder seelische Gewalt an Kindern?
Das ist ein sehr komplexes und weites Thema. Psychische Gewalt kann von einem einfachen Nebensatz wie «Kapierst du das eigentlich nie?» bis zum verbalen Treiben in den Selbstmord führen: «Ich wünschte, du wärst tot.» Das wichtigste Merkmal von psychischer Gewalt ist, dass Eltern ihrem Kind das Gefühl von Minderwertigkeit oder Wertlosigkeit vermitteln, sei es durch Drohen, Erpressen, Lächerlichmachen, Demütigen, Isolieren, Ignorieren oder auch permanente Schuldzuweisungen.
Mit dem Kind nicht mehr zu reden, ist eine Form der Erpressung.
Ein Fünfjähriger will sein Zimmer nicht aufräumen, die Mutter redet auf ihn ein, nichts passiert. Irgendwann sagt sie gar nichts mehr. Auch auf die verunsicherte Nachfrage des Kindes hin, «Mama, was ist denn?», schweigt sie beharrlich. Kann man in diesem Fall von seelischer Gewalt sprechen?
Auf jeden Fall. In dem Moment, in dem ich die Entwicklung seines Selbstvertrauens und das Vertrauen in andere zu untergraben anfange, reden wir von psychischer Gewalt. Mit dem Kind nicht mehr zu reden beziehungsweise ihm zu vermitteln, ich lieb dich nur, wenn dein Zimmer aufgeräumt ist, und trete auch erst dann wieder in sozialen Kontakt mit dir, ist eine Form von Erpressung.
Und wenn sich die Mutter nur zurückzieht, um am Ende nicht die Fassung zu verlieren?
Das ist eine andere Situation. Es ist ein Unterschied, ob sich eine Mutter ein Timeout von zehn Minuten nimmt, dieses auch als solches deklariert, um dann wieder ruhiger mit dem Kind sprechen zu können, oder ob sie beharrlich schweigt und jeden Versuch des Kindes, wieder mit ihr in Kontakt zu treten, boykottiert.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Eine 13-Jährige kommt wiederholt mit schlechten Noten nach Hause, am Nachmittag möchte sie mit ihren Freundinnen reiten gehen. «Lern du erst einmal vernünftig rechnen, so blöd wie du kann man doch gar nicht sein», macht ihr Vater ihren Freizeitplan zunichte. Was tut er mit diesem Satz seiner Tochter an?
Er stellt sie bloss, erniedrigt sie, unterwandert die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls. Ein grosses Problem bei psychischer Gewalt sind Dinge, die ein Kind immer und immer wieder zu hören bekommt. Ein Kind kann unter diesen Umständen kein gesundes Vertrauen in sich selbst und in andere gewinnen. Das ist ja klar. Es hört permanent: Du bist nichts und du wirst auch nichts werden.
Also kommt es auf die Häufigkeit dieser Äusserungen beziehungsweise Handlungen an?
Nein, schon beim ersten Mal handelt es sich um Gewalt. Das gilt genauso für eine Ohrfeige, also körperliche Gewalt. Und wenn wir grundsätzlich etwas am Ausmass der ausgeübten Gewalt an Kindern ändern wollen, müssen wir diese Tatsache akzeptieren. Nicht die möglichen Folgen sind entscheidend, sondern die Handlung selbst. Die Tat an sich ist ein Ausdruck von Gewalt und insofern verurteilenswert.
Welches sind denn die möglichen Folgen seelischer Gewalt?
Diese können sehr vielfältig sein und umfassen beispielsweise das ganze Spektrum psychischer Störungen, aggressives oder depressives Verhalten, Drogen- oder Alkoholmissbrauch. Ein Kind, das über Jahre kleingehalten wurde, kann kein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Dies wiederum führt zu Beziehungsproblemen, sozialen Problemen.
Oder die kognitive Entwicklung des Kindes wird beeinträchtigt, weil es den Kopf nicht frei hat für intellektuelle Leistungen. Es entwickelt massive Schulprobleme. Und klar ist, wenn man einem Kind Gewalt antut, dann lernt es primär eins: Gewalt. Das Kind imitiert die Eltern. Es wird ein Lernprozess in Gang gesetzt.
Wenn man einem Kind Gewalt antut, lernt es primär eins: Gewalt.
Wie machen es diese Kinder später mit ihren eigenen Kindern?
Da gibt es diejenigen, die bewusst oder unbewusst auf die eigene Kindheit zurückblicken und das, was sie selbst erlebt haben, so weitergeben. Und es gibt die anderen, die aus Überzeugung genau das Gegenteil machen. Die sagen, ich werde meine Kinder niemals so erziehen, wie ich selbst erzogen wurde! Dazwischen gibt es viele Varianten.
Ist jedes Kind, dem psychisches Leid angetan wird, gleichermassen stark betroffen?
Die Verletzlichkeit ist von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Und damit auch die Eigenschaft der Resilienz, der psychischen und physischen Widerstandsfähigkeit, Dinge auszuhalten. Es gibt Kinder, die zehn, zwölf Jahre schlimmsten Psychoterrors ausgesetzt sind und die trotzdem eine unglaubliche Selbstbehauptung, ein Selbstbewusstsein entwickeln. Das sind Kinder, denen kann man einen Felsbrocken in den Weg legen und sie kommen drum herum, anderen legt man einen Kieselstein in den Weg und sie stolpern darüber.
Da sprechen Sie von Extremfällen. Trotzdem, das Leben mit Kindern kann sehr fordernd sein, einen manches Mal an seine Grenzen bringen. Da passiert es doch wahnsinnig schnell, dass einem in einer Stresssituation eine unüberlegte Bemerkung herausrutscht.
Absolut. Wie oft das passiert, wissen wir leider nicht. Es gibt keine aussagekräftigen Erhebungen beziehungsweise Untersuchungen. Es ist sehr schwer abzugrenzen, wo psychische Gewalt anfängt und wo sie endet. Klar ist aber: Psychische Gewalt ist die häufigste Form von Gewalt, da sie sowohl in physischer und sexueller Gewalt impliziert ist als auch alleine vorkommen kann.
Sie beschäftigen sich beruflich schon über ein Vierteljahrhundert mit Kindern und Jugendlichen. Dabei sind Ihnen sicher einige Fälle von psychischer Gewalt begegnet.
Ja, sehr viele und auch unterschiedliche. Doch häufig lässt sich ein solches elterliches Verhalten in Scheidungssituationen, besonders bei Kampfscheidungen, beobachten. Oder in Familien, in denen ein oder beide Elternteile psychisch erkrankt sind. In beiden Situationen sind die Eltern derart mit sich selbst beschäftigt, dass sie für die Anliegen und Bedürfnisse der Kinder nicht offen sind.
Klar ist: Psychische Gewalt ist die häufigste Form von Gewalt.
Ihnen fehlt die Sensibilität gegenüber den Kindern oder sie instrumentalisieren die Kinder für ihre eigenen Anliegen. Kinder werden dann oft auch in eine Erwachsenenrolle gedrängt und müssen quasi für einen Elternteil sorgen – physisch und psychisch.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Ein 12-jähriger Junge, integriert und aktiv, zieht sich plötzlich zurück, bleibt dem geliebten Training im Fussballklub fern, entwickelt körperliche Symptome wie Entzündungen und Schmerzen ohne medizinisch erkennbare Ursachen, trifft sich in der Freizeit nicht mehr mit seinen Freunden. Wie sich herausstellt, ist seine Mutter psychisch erkrankt und hat ihren Sohn an sich gebunden. Er muss die Rolle eines Pflegenden und Verpflegenden übernehmen und verliert dadurch die Möglichkeit, noch Kind sein zu können.
Ein anderer Junge meldet sich per E-Mail und schreibt, dass er es nicht mehr aushalte zu Hause. Seine Mutter schreie ihn mindestens einmal wöchentlich «den ganzen Abend» an, werfe ihm vor, wie böse und undankbar er sei. Sie wecke ihn nachts auf und verletze fortlaufend seine Privatsphäre.
In welchen Fällen müssen die Behörden eingreifen?
Immer dann, wenn das Kindeswohl gefährdet ist und die Eltern nicht fähig beziehungsweise nicht willens sind, an ihrem Verhalten beziehungsweise der Gefährdungssituation etwas zu ändern.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Ich erinnere mich an eine 15-Jährige, die sich selbst an den Sozialdienst gewandt hat, weil sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Ihre Mutter, in der Trennung zum Vater lebend, sagte Dinge zu ihr wie: «Wenn du nicht mehr leben würdest, hätten wir kein Problem mehr.» Die Jugendliche wurde für das zerrüttete Verhältnis der Eltern verantwortlich gemacht.
Das können Eltern wie Sie und ich sein, die in Situationen von Stress an ihre Grenzen kommen.
Dass sie Hilfe und Unterstützung nötig hatte, war naheliegend. Jemand, der dem Teenager ein Umfeld bieten konnte, das ihm half, die Verletzungen zu verarbeiten und das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen aufzubauen. Ihre Eltern haben nie eine Beziehung zu ihrem Kind aufbauen können oder wollen.
Was ist mit ihr passiert?
Die Behörden haben entschieden, dass das Mädchen in einer betreuten Wohngruppe platziert werden soll. Alle Beteiligten haben dem zugestimmt.
Wie erkennen Sie einen Fall von psychischer Gewalt?
Wir sind vor allem auf die Aussagen von Eltern und Kindern angewiesen. «Mein Mami sagt, dass sie mich lieber nie geboren hätte.» Es gibt Eltern, die so etwas völlig unbedarft vor Zeugen aussprechen. Im Rahmen von Untersuchungen wurde festgestellt, dass in Misshandlungsfamilien weniger kommuniziert wird und, wenn kommuniziert wird, oftmals negativ.
Mehr Fantasie im Umgang mit Kindern würde vielen guttun.
Und in einem Umfeld, wo Beleidigungen und Schimpfwörter zum Standard der Kommunikation gehören, werden Beschimpfungen auch eher ausserhalb der eigenen vier Wände geäussert.
Sie sprachen gerade von typischen Missbrauchsfamilien …
… so einfach ist das leider nicht. So vielfältig die Formen und Ausprägungen von psychischer Gewalt sind, so vielfältig sind auch die Familien. Das können Eltern mit niedrigem Bildungshintergrund sein, Mütter oder Väter mit einer psychischen Krankheit oder einem Suchtproblem. Es können aber auch Eltern wie Sie und ich sein, die manchmal in Situationen von Stress, Überforderung an ihre Grenzen kommen.
Ein Kind ist kein Objekt, sondern ein Subjekt mit Rechten und einem Anrecht auf Integrität.
Die aus einer Enttäuschung heraus eine Äusserung machen und danach denken: «Oh nein, so etwas willst du doch eigentlich gar nicht sagen!» So wie es auch in der Kommunikation unter Erwachsenen passieren kann. Nur darf man dann nicht, weil es sich beim Gegenüber um ein Kind handelt, einfach darüber hinwegsehen.
Kann man das Gesagte zurücknehmen, sich entschuldigen?
Ja, unbedingt. «Sorry, es tut mir leid. Jetzt habe ich wieder etwas total Unüberlegtes gesagt.» Aber dann lassen Sie es auch darauf bewenden. Diese Dinge passieren fast jeder Mutter oder jedem Vater mal. Davor ist keiner gefeit.
Und was können Eltern tun, damit es erst gar nicht so weit kommt?
Wenn man merkt, dass es auf eine Eskalation zuläuft: sich zurücknehmen, ein Timeout nehmen, nachdenken und schauen, was man anders machen kann, um die Situation zu einem guten Ende zu bringen. Es gibt nur sehr wenige Situationen, in denen man unmittelbar handeln muss. Doch nicht selten beharren Eltern auf ihren Erziehungsmustern. Und das sind jahrhundertealte, unkreative Muster.
Mehr Fantasie im Umgang mit Kindern würde vielen Familien guttun. Darüber hinaus sollte man sich immer wieder fragen: Möchte ich wirklich so behandelt werden, wie ich mein Kind gerade behandle? Ein Kind ist kein Objekt, sondern ein Subjekt mit Rechten und einem Anrecht auf Integrität.
Ich persönlich finde es immer hilfreich, in extremen Stresssituationen mit den Kindern an meinen Partner zu übergeben: «Mach du das bitte, ich explodiere gleich.» Er ist in diesem Moment vielleicht entspannter und kann mit der Konfliktsituation gelassener umgehen. Aber was machen Eltern, die diese Möglichkeit nicht haben, weil sie beispielsweise allein erziehend sind?
Ein altes Postulat von mir ist die Nachbarschaftshilfe. Warum schotten wir uns, wenn es um Erziehungsfragen geht, nach aussen hin so ab? Warum tun wir uns so schwer, über Erziehungsprobleme zu reden? Es ist so wichtig, dass eine Mutter bei der Nachbarin klingeln und fragen kann, ob sie ihr die Kinder mal für eine Stunde abnehme.
Eltern sollten das formelle Netzwerk, bestehend aus Beratungsstellen, Kursangeboten und so weiter, ebenso in Anspruch nehmen wie das informelle: die eigenen Eltern, Geschwister, Freunde, Nachbarn. Aber dafür muss man erst einmal das Bewusstsein dafür schaffen, dass Hilfe annehmen kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke ist.
Um noch einmal auf den Beginn unseres Gesprächs zurückzukommen: Das Mädchen, das verkauft werden sollte, ist heute erwachsen. Die Szene ist ihr gut im Gedächtnis geblieben, trotzdem zweifelt sie keine Sekunde daran, dass ihre Mutter sie damals wie heute über alles geliebt hat beziehungsweise liebt.
Ja, das ist die gute Nachricht. Nur weil man sein Kind mal psychisch verletzt, entwickeln sich daraus nicht notwendigerweise Probleme und Störungen. Wenn es spürt, okay, jetzt hat meine Mama die Fassung verloren, aber grundsätzlich weiss, sie liebt mich über alles, dann kann es ein Urvertrauen entwickeln, auf dessen Boden es so etwas gut verarbeiten kann. Wenn solche Szenen jedoch immer wieder und wieder vorkommen, gelingt dies irgendwann nicht mehr.