«Unglücklich zu sein, ist ein kostbares Gefühl»

Eltern falle es heutzutage oft schwer, negative Stimmungen ihrer Kinder auszuhalten, sagt der Psychologe Claus Koch. Er erklärt, weshalb Unglücklichsein wichtig ist für die kindliche Entwicklung und wie Eltern darauf reagieren können.
Herr Koch, Sie sagen, unglückliche oder traurige Kinder seien nichts Schlechtes. Wie meinen Sie das?
Es ist interessant, dass man sich für diese Aussage mittlerweile rechtfertigen muss. Das Glück hat in unserer westlichen Gesellschaft heute einen ungeheuren Stellenwert. Man könnte auch sagen: Wir leben unter einem Glücksdiktat. So folgen dem Imperativ «Sei einfach glücklich!» unzählige Marketing- und Werbestrategien: Es gibt Glückskonfitüre, Glücksreisen, die Partnerwahl soll glücklich machen, Filme und Songs handeln davon. Und auch in der Erziehung hat es sich eingeschlichen: Gebe ich im Internet «glückliche Kinder» ein, werden mir unzählige Elternratgeber angezeigt, die genau dies versprechen.

Was haben Sie gegen glückliche Kinder?
Überhaupt nichts, im Gegenteil. Schwierig finde ich es aber, wenn im Umkehrschluss Unglücklichsein als Makel ausgelegt wird oder Eltern das Gefühl haben, ihr Kind müsse immer glücklich sein. Doch der Sohn ist nun mal wütend, weil der Vater Nein gesagt hat zur zweiten Glacekugel. Die Tochter ist traurig, weil sie nicht zu einem Geburtstag eingeladen wurde, oder gestresst, weil ihr die anstehende Mathearbeit auf dem Magen liegt.
Empfinden es viele Eltern als Schwäche, wenn es ihnen nicht gelingt, dass ihr Kind glücklich ist?
Ja, das erlebe ich in meiner Praxis so. Dahinter steckt die Annahme: Räume ich meinem Kind nicht alle Hindernisse aus dem Weg, mache ich es unglücklich – und bin dann selbst schuld daran, wenn ich es nicht schaffe, meiner Tochter die Angst vor der bevorstehenden Mathearbeit zu nehmen. Für Kinder wiederum, die in so einer Umgebung aufwachsen, ist es schwer, zuzugeben, dass sie traurig oder unglücklich sind.
Aus dem Überwinden unglücklicher Stimmungen fühlen sich Kinder oder Jugendliche stark.
Warum ist Unglücklichsein so wichtig für die kindliche Entwicklung?
Kinder sollten positive wie negative Stimmungen mitteilen können. Denn es gibt kein Aufwachsen ohne unglückliche Momente. Jedes Kind fühlt sich irgendwann einsam, nicht verstanden oder abgewiesen. Allein schon dies zuzugeben, mit anderen darüber sprechen zu können, befreit vom Unglück. Unglücklich zu sein, ist deshalb ein Zeichen von Lebendigkeit. Gerade aus dem Überwinden unglücklicher Stimmungen fühlen sich Kinder oder Jugendliche stark. Wer diese Stimmung nicht kennt, weil sie nicht zugelassen wird, weiss auch nicht, wie sich Glück anfühlt. Unglücklich zu sein, ist daher ein kostbares Gefühl.
Ab welchem Alter verstehen Kinder überhaupt, dass sie unglücklich sind?
Bis zu zwölf Jahren fällt es Kindern schwer, sich in abstrakten Formen zu äussern und zu benennen, wie sie sich fühlen. Sie kommunizieren dies eher durch Gebärden oder Körperhaltungen. Ist ein Achtjähriger unglücklich, fragt er sich nicht: «Was hat das mit mir zu tun?», sondern erlebt ganz situativ: Der beste Freund zieht weg, Vater und Mutter trennen sich, das Nachbarsmädchen will nicht mit ihm spielen.
Angenommen, die beste Freundin der zehnjährigen Tochter wendet sich einem anderen Mädchen zu, was die Tochter sehr traurig macht. Wie sollen die Eltern darauf reagieren?
Es gilt vor allem die Tochter nicht von oben herab zu beschwichtigen: «Ist doch nicht so schlimm!» Oder seine eigene Sicht auf das Kind zu übertragen: «Ich fand Lara noch nie sympathisch.» Stattdessen ist es wichtig, dem Kind feinfühlig zu begegnen, ihm die Freiheit zu lassen, von sich aus zu erzählen, und zu betonen: «Du darfst deine negativen Gefühle äussern!»
Generell helfen wir unglücklichen Kindern am besten, wenn wir sie ernst nehmen, ihnen auf Augenhöhe begegnen und Ich-Botschaften verwenden: «Ich verstehe dich, mir ging es auch schon so.» Es gilt also den unglücklichen Stimmungen der Tochter Raum zu geben, sie anzuerkennen und gleichzeitig das Kind darin zu bestärken, dass es aus eigener Kraft herausfindet. Denn diese Erfahrung korrespondiert mit dem so wichtigen Gefühl der Selbstwirksamkeit, das sich in der Kindheit herausbilden sollte; dem Wissen, «ich schaffe es selbst, mich wieder besser zu fühlen».
Was aber, wenn mein 14-jähriger Sohn gar keine Lust auf ein solches Gespräch hat?
In der Pubertät, mit der Ablösung von den Eltern, ist das Ganze anders gelagert. In dieser Phase fühlen sich Jugendliche oft dauerhaft unglücklich – mit ihrem Körper, in der Beziehung zu den Eltern. Häufig wollen sie dabei alleine gelassen werden, ganz in ihrem Unglück aufgehen – nur um eine Stunde später happy und wie ausgewechselt wieder aus dem Zimmer zu kommen.
Aber oft machen Teenager die Eltern für ihr aktuelles Unglück verantwortlich. Nach dem Motto: «Ihr seid schuld! Weil ihr mich nicht in den Club gehen lässt, habe ich keine Freunde!» Wie geht man mit solchen Gefühlsausbrüchen um?
Als Eltern gilt es hier gelassen zu bleiben und sich an seine eigene Jugend zu erinnern. Man hat ja schliesslich auch wahlweise den Eltern, den Lehrern oder der ganzen Welt die Schuld für sein Unglück gegeben. Aber Mütter und Väter sollten dem Nachwuchs nicht das Gefühl geben, alles besser zu wissen, sondern lieber fragen: «Mir ist nicht klar, wie es dir gerade geht. Kannst du mir helfen, dich besser zu verstehen?»
Damit gibt man die Initiative den Jugendlichen zurück – was meiner Erfahrung nach gerade bei 12- bis 16-Jährigen hervorragend funktioniert. Und stets signalisieren: «Wenn du möchtest, kannst du jederzeit mit mir reden.» Selbst wenn Jugendliche darauf nicht zurückkommen – es vermittelt ihnen das wichtige Gefühl, angenommen und verstanden zu sein.
Kinder dürfen unglücklich sein. Wenn sie jedoch dauerhaft leiden, müssen wir eingreifen.
Und wenn Kinder oder Jugendliche nicht mehr selbst aus unglücklichen Phasen herausfinden?
Dann muss ich als Mutter oder Vater intervenieren. Denn Kindern das Recht zu geben, unglücklich zu sein, ist etwas ganz anderes, als ihnen dabei zuzusehen, wenn sie dauerhaft leiden.
Wie aber erkennt man, wo die Trennlinie verläuft zwischen normalem Unglücklichsein und psychischen Problemen?
Das ist oft eine Gratwanderung. Gerade in der Pubertät gibt es Phasen, in denen Kinder nicht mehr so leicht zu erreichen sind. Ein Anzeichen, dass es meinem Kind nicht gut geht, können plötzliche Verhaltensänderungen sein: Wenn es bisher meist fröhlich war und sich nun vor mir verkriecht, ständig traurig ist, häufig Bauch- oder Kopfschmerzen hat. Oder wenn es sich auf nichts mehr freuen kann. In solchen Fällen sind spürende Begegnungen gefragt.
Was meinen Sie damit?
Eltern sollten das Kind feinfühlig im Auge behalten. Also nicht nur darauf schauen, ob es gesprächig ist, sondern insgesamt darauf achten, wie es aus der Schule kommt, wie es beim Essen sitzt, wie sein Körperausdruck ist. Daraus kann ich im besten Fall ersehen, ob es sich um etwas Ernstes handelt und es eventuell therapeutischen Beistand braucht. Oder ob es nur eine pubertäre Transitphase ist und das Kind ständig schwankt zwischen «Ich will alleine sein – aber doch nicht», «Ich will selbständig sein – aber auch nicht». Eltern, die ihren Kindern spürend begegnen, können dies am besten beurteilen. Den meisten gelingt dies auch.
Zurück zu den nur phasenweise unglücklichen Kindern. Sie setzen sich dafür ein, in der Kindheit mehr Platz für Unglück zu lassen, und plädieren deshalb auch für mehr Märchen im Kinderzimmer. Warum genau?
Märchen sind ein wichtiger Gegenpol zu den Heile-Welt-Geschichten. Denn sie bringen innere Vorgänge und Konflikte zum Ausdruck, die der Nachwuchs oft bei sich selbst spürt, aber sprachlich noch nicht zum Ausdruck bringen kann. So beginnen fast alle Märchen mit einem Unglück: Das hässliche Entlein muss sein Zuhause verlassen, weil die Geschwister es rauswerfen. Aschenputtel wird von seinen Halbgeschwistern geplagt.

Kinder erleben auf diese Weise: Auch andere sind unglücklich, doch am Ende geht alles gut aus. Ausserdem lieben Jungs und Mädchen Märchen, weil dort Gefühle beschrieben werden, die sie in ihrer Umgebung nicht zeigen dürfen, wie etwa Hass: So landet die Hexe bei «Hänsel und Gretel» zur Zufriedenheit aller zum Schluss im Ofen. Und auch ältere Kinder fasziniert der Gegensatz von Gut und Böse – nicht umsonst ist «Harry Potter» so erfolgreich.
Während «Harry Potter» jedoch nicht wegzudenken ist, scheuen sich viele Eltern davor, ihren Kindern Märchen vorzulesen.
Das stimmt. Viele haben wohl Angst davor, dass sich Kinder mit den grausamen Strafen identifizieren. Tatsächlich freut sich eine Fünfjährige, wenn die böse Stiefmutter im Märchen verbannt wird oder stirbt – weil Kinder in diesem Alter ein archaisches Gerechtigkeitsempfinden haben. Eltern können dies jedoch als Aufhänger nehmen, um ins Gespräch zu kommen («Was gäbe es denn sonst für Lösungen?»).
Die Helden in den Märchen sind stark. Sie können das Unglück, das ihnen widerfährt, überwinden.
Insgesamt sind Märchen sehr gute Beispiele für Selbstwirksamkeit, denn ihre Helden sind stark: So besiegen Hänsel und Gretel die Hexe ganz alleine. Damit wird Unglück in Märchen als etwas dargestellt, das sich überwinden lässt.
In Ihrem Buch schreiben Sie: «Nehmen Eltern das Unglücklichsein ihres Kindes ernst, ist dies ein Zeichen ihrer eigenen Stärke.» Wie ist das zu verstehen?
Eltern müssen ein Stück weit lernen, dass Kinder sich anders verhalten als sie selbst und sich damit abgrenzen von Mutter und Vater. Nur wenn Kinder erfahren, dass ihre Eltern ihnen das Selbständigwerden gestatten, werden sie auch wirklich selbständig. Ist dies nicht so, rebelliert der Nachwuchs viel mehr. Starke Eltern sind deshalb Eltern, die ihren Kindern erlauben, sich von ihnen zu lösen, und sie ihre eigenen Wege gehen lassen.
Die gleichzeitig aber auch nicht sagen: «So, das war es jetzt mit der Erziehung!», sondern weiterhin präsent bleiben. Die dem Nachwuchs vermitteln: «Du kannst dich jederzeit an uns wenden», ohne jedoch zu kontrollieren. Verlässt mein 17-Jähriger beispielsweise um 22 Uhr das Haus, muss ich darauf vertrauen, dass er selbst Verantwortung übernimmt. Jugendliche, die sich nicht kontrolliert oder beobachtet fühlen, akzeptieren es dann auch, wenn Eltern sie am nächsten Tag fragen: «Wie wars gestern?»
Tatsächlich ist das Elternglück sehr abhängig vom Kind. Nichts macht uns glücklicher, als wenn das eigene Kind happy ist. Bürden wir Kindern damit eine Last auf?
Ja, wenn wir Glücklichsein absolut setzen und Unglücklichsein nicht zulassen. Tatsächlich sind Kinder ihren Eltern gegenüber sehr loyal und wollen, dass es ihnen gut geht. Machen Kinder die Erfahrung, dass Mutter und Vater es sich sehr zu Herzen nehmen, wenn sie unglücklich sind, antworten sie auf Nachfragen mit «Alles gut» – auch wenn dies nicht der Wahrheit entspricht.
Kinder fangen also an, sich zu verstellen, um ihren Eltern keinen Kummer zu bereiten. Das Unglücklichsein nimmt dann jedoch Umwege: Die Kinder verkriechen sich in sich selbst, lassen Sachen nicht raus, haben es schwer, Emotionen mitzuteilen. Sie sind häufig krank und entwickeln zum Teil depressive Anteile. Auch später, im Erwachsenenleben, setzt sich diese Verhaltensstruktur oft fort. Deshalb ist es so ungeheuer wichtig, dass Kinder ihr Unglücklichsein zeigen können.

War es früher als Kind und Jugendlicher leichter, unglücklich zu sein?
Wie anfangs erwähnt: Wir leben heute in einer Welt, in der Traurig- oder Unglücklichsein weniger denn je angesagt ist. Hinzu kommt, dass sich auch die Eltern verändert haben.
Inwiefern? Konnten unsere Eltern besser mit unglücklichen Kindern umgehen?
Vor 30 Jahren haben Eltern ihrem Nachwuchs viel mehr Freiheiten gelassen. Kinder waren den ganzen Nachmittag draussen, ohne dass sich Mutter oder Vater Gedanken gemacht haben. Über glückliche oder unglückliche Kinder dachte man nicht viel nach. Ich will diese Zeit nicht verherrlichen, es gab damals auch viele Schattenseiten in der elterlichen Erziehung. Aber Kinder hatten definitiv mehr Freiheiten. Vor allem aber hatten Eltern damals weniger Schuldgefühle, wenn es dem Kind mal nicht so gut ging. Denn sie vertraten die Haltung: «Das ist in der Kindheit eben so.»
Wovor hat die heutige Elterngeneration Angst?
Etwas falsch zu machen. Heute beobachten Eltern ihr Kind extrem genau. Schon minimalste Abweichungen von der Entwicklung verunsichern sie, worauf Mutter und Vater die Schuld bei sich suchen und sich Hilfe holen. So ist vielleicht der Fünf- oder Sechsjährige vor Schuleintritt wieder viel anhänglicher. Deswegen muss aber niemand eine Therapeutin oder einen Therapeuten aufsuchen, das ist völlig normal. Hier hilft es, auf die Entwicklung des Kindes zu vertrauen.
Wie legt man als Eltern diese Angst ab?
Oft reagieren die Eltern ja unterschiedlich: der Vater, der sehr besorgt ist und sich ständig Gedanken macht; die Mutter, die eher beschwichtigend auftritt, oder umgekehrt. Am Ende gleichen sich die beiden wieder aus. Für Kinder ist es gut, verschiedene Stimmungen zu spüren und einen unterschiedlichen Umgang mit Unglücklichsein zu erfahren.
Wenn ich als Mutter oder Vater aber in meiner eigenen Kindheit die Erfahrung gemacht habe, dass ich meine Stimmungen gegenüber den Eltern nicht äussern darf, fällt es mir vermutlich schwerer, das Unglücklichsein des eigenen Nachwuchses zu akzeptieren.
Genau. Diese Eltern müssen lernen, ihrem Kind zu vertrauen und zu akzeptieren, dass unterschiedliche Stimmungen und Krisen zur Entwicklung gehören. Die elterliche Gelassenheit wiederum gibt auch Kindern Kraft: Fühlen sie sich unglücklich, spüren jedoch, dass die Eltern sich das nicht so zu Herzen nehmen, überträgt sich das auch aufs Kind.
Es lernt dadurch: «Wenn Mama und Papa so gelassen bleiben, muss ich das vielleicht auch nicht so ernst nehmen.» Umgekehrt gilt: Erleben Kinder, dass ihr Unglücklichsein ihre Eltern massiv runterzieht, steigert sich beim Nachwuchs das Gefühl, nicht in Ordnung zu sein.
Kann ich mein Kind dazu erziehen, ein glücklicher Mensch zu werden?
Ich kann zumindest die Voraussetzungen dafür schaffen. Also darauf achten, dass der Nachwuchs in seiner frühesten Kindheit die Erfahrung macht, dass seine existenziellen Bedürfnisse beachtet werden – wie etwa Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung, Resonanz. Werden diese stabilen Grundlagen in früher Kindheit geschaffen, ist das Kind sicher gebunden und vertraut in sich und die Welt. Dies wiederum ist eine gute Grundlage, um später Glück zu empfinden.
Claus Koch: Das Recht des Kindes, unglücklich zu sein. Ängste, Frust & Co. zulassen und verstehen. Herder 2023, 208 Seiten, ca. 25 Fr.