Schuldgefühle: Ballast auf der Seele

Bilder: Salvatore Vinci / 13 Photo
In keiner anderen Beziehung wird so viel Hingabe und Aufopferung erwartet wie in derjenigen zwischen Eltern und ihren Kindern. Wir sorgen, trösten, fördern und stellen uns doch immer wieder die Frage: Tun wir genug? Oder gar zu viel? Hat mein Kind, was es braucht? Wann sind Schuldgefühle berechtigt und wann einfach sozial gelernt – und wie unterscheidet man das eine vom anderen?
Benno, Vater von zwei mittlerweile erwachsenen Mädchen, hat sich von seiner Frau getrennt und damit auch seine Töchter verletzt. Die Gefühle, sich falsch verhalten zu haben, lassen ihn nicht mehr los. Hätte er für die Familie kämpfen müssen?
Delia hat einen vierjährigen Sohn, eine zweijährige Tochter – und ein 80-Prozent-Arbeitspensum. Sie hört immer wieder die Frage, ob sie denn nicht mehr mit den Kindern sein möchte. Möchte sie das?
«Herzogin Kate, Duchess of Cambridge, haben Sie ihren drei Kindern gegenüber Schuldgefühle?» «Absolut», lautet ohne ein kleinstes Zögern die Antwort auf diese erste Frage in einem Radiointerview. «Und jeder, der sagt, er habe das nicht, der lügt», schiebt sie hinterher. Sie mache sich ständig Vorwürfe, sagt sie und ist mit dieser Antwort in guter, vor allem in grosser Gesellschaft. Elternschaft und Schuldgefühle scheinen untrennbar miteinander verknüpft zu sein. Und nicht nur bei Herzogin Kate, Benno, Nadja oder Delia. Das Thema ist in Blogs, Artikeln und Posts, aber auch in alltäglichen Gesprächen allgegenwärtig.
Elternschaft und Schuldgefühle scheinen untrennbar miteinander verknüpft zu sein.
Wer in einer Buchhandlung die Abteilung «Erziehung» oder «Pädagogik» betritt, könnte den Eindruck bekommen, dass sich alles, was Eltern tun, negativ auf die Psyche ihrer Kinder und damit deren Zukunft auswirken kann. Titel wie «Deine Kinder sind deine Schuld! Der Tritt in den Hintern für alle, die bessere Eltern sein wollen» oder «Verhaltensauffällig: Schuld der Eltern?» reihen sich nahtlos aneinander. Es geht um verwöhnte Kinder, drogenabhängige Kinder, kleine Narzissten und Zuspätkommer. Ob die Nachkommen übergewichtig sind, hänge zu 35 bis 40 Prozent von ihren Eltern ab, heisst es. Die Eltern sind unverantwortlich, streiten sich zu viel, kümmern sich zu wenig, kümmern sich zu viel, lassen nicht los, sind zu schwach, um Grenzen zu setzen, oder zu wenig liebevoll. Sie fördern das Kind nicht oder überfordern es.

Ein Alarmsystem der Seele
«Schuldgefühle helfen uns, ethisch durch diese Welt zu navigieren», sagt die Psychologin Tina Malti.
Schuldgefühle können auch auftauchen, wenn es einem besser geht als jemand anderem. Oder dann, wenn man nicht genug getan hat, um jemand anderem zu helfen. Dass dementsprechend Schuldgefühle in den Beziehungen zwischen Eltern und Kind übermässig präsent sind, ergibt Sinn. Denn in keiner anderen menschlichen Beziehung sorgen wir auch nur annähernd so viel für den anderen. In keiner anderen Beziehung wird bedingungslose Liebe und Fürsorge bis zur totalen Erschöpfung verlangt.
Der österreichische Psychiater und Gründer des Instituts für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie, Raphael Bonelli, hat sich unter anderem im Rahmen einer Weiterbildung für Arbeitskolleginnen in das Thema «Schuld» vertieft. Dabei merkt er an: Für Priester sei das Thema einfach. «Da gibt es mit den zehn Geboten einen objektiven Kriterienkatalog. Danach wird geurteilt, gesühnt, es folgt die Absolution und gut ist», so Bonelli. In der nichtreligiösen alltäglichen Realität jedoch fehlt ein einfacher Kriterienkatalog.
Tipps für den richtigen Umgang mit Schuldgefühlen
- «Legen Sie eine Grübelzeit fest», empfiehlt der Schweizer Psychotherapeut Jürg Kollbrunner. Dafür könne man einmal in der Woche eine halbe oder ganze Stunde Zeit einplanen, in der man sich mit der Schuld hinter dem Gefühl (berechtigt oder unberechtigt) beschäftigt und sich Vorwürfe macht. Doppelt gut: Damit gewinnt man Zeit und erfüllt sich den inneren Wunsch nach Bestrafung. Beurteilen Sie sich dabei rücksichtsvoll. Wie Sie es bei jemand anderem auch tun würden. Und vergeben Sie sich.
- Fragen Sie sich: «Wer spricht in diesem Schuldgefühl? Wer hat es mich gelehrt?» Und gestehen Sie sich zu, sich darüber zu ärgern. Haben Sie Verständnis dafür, wagen Sie aber auch die Auseinandersetzung mit den Lehrern und Lehrerinnen – den eigenen Eltern beispielsweise.
- Notieren Sie sich eigene Übertreibungen und Unsachlichkeiten.
- Erkennen Sie Ihr Recht an, eigene Interessen wahrzunehmen.
- Noch bevor Schuldgefühle überhaupt entstehen können: Achten Sie darauf, wie Sie Ideale bilden. Der österreichische Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli betont dabei, dass wir zwar nicht selbst entscheiden können, ob wir beeinflusst werden, aber von wem. «Was wir lesen, mit wem wir sprechen, welche Musik wir hören, welche Filme wir uns anschauen.»
Online-Dossier
Authentische und anerzogene Schuldgefühle
Dieses Credo greift bei den authentischen Schuldgefühlen, dann, wenn wir Gefahr laufen, uns wirklich etwas zuschulden kommen zu lassen. Bei den anerzogenen wird das Ganze etwas schwieriger. Denn der Zeitgeist verändert sich und wir verinnerlichen Ideale, die nicht unbedingt mit unserer inneren Wahrheit übereinstimmen. Damit wird es diffus.
Wenn sich unter dem Weihnachtsbaum haufenweise Geschenke türmen, ist der zweifache Vater Remo beispielsweise hin- und hergerissen zwischen der Freude für seine Kinder und dem Gefühl, dass das alles zu viel ist, seine Söhne überfordert, zu sehr verwöhnt und undankbar werden. Das jedenfalls hat der 40-Jährige gelesen. Und als er seinen Ältesten beim Beginn der Schulzeit nach dessen ersten Erlebnissen fragt, taucht bald das Gefühl auf, ein ungenügender Vater zu sein. Denn in der Klasse ist das Mädchen, das bereits fliessend schreibt, der Junge, der dreisprachig aufwächst. «Und der ganz vorne links, der spielt richtig gut Klavier.» Hat Remo sein Kind wirklich zu wenig gefördert?

Und tatsächlich befremdet es Remos Vater, dass sein Sohn dreimal pro Woche früh Feierabend macht, um seine Buben vom Hort abzuholen. «Ich hätte dafür überhaupt keine Zeit gehabt», sagt der 70-jährige Rolf. Ein schlechtes Gewissen habe er deswegen nicht gehabt. «Warum auch? Ich musste eine Familie ernähren und an den Arbeitszeiten gab es nichts zu rütteln.» Dass Remo sein Arbeitspensum gerne reduzieren würde, um zu Hause noch präsenter sein zu können, kann Rolf nicht nachvollziehen.
Von Wissen und Gewissen
Erziehung ist individueller geworden
Früher erzog man so, wie es schon immer gemacht wurde. Heute geht es für Eltern oft um die richtige Wahl.
Durch die vielen Angebote und Erziehungsmethoden entsteht auch eine Eigendynamik unter Eltern. Im guten Willen gibt man sich gegenseitig Tipps und baut damit zusätzlich Druck auf.
Was bewirken die Schuldgefühle erwerbstätiger Mütter bei Kindern?
Bei einer negativen Sicht auf die mütterliche Erwerbstätigkeit wirkten sich Schuldgefühle der Mutter nachteilig auf das kindliche Wohlergehen aus. Wird dem Kind hingegen ein positiver, natürlicher Umgang mit der Erwerbstätigkeit der Mutter vermittelt, sind die innerpsychischen Schuldgefühle der Mutter für das Kind nicht sonderlich bedeutsam. Diese Erkenntnisse lassen sich auf den Alltag übertragen:
- Betonen Sie berufsbezogene Schuldgefühle nicht gegenüber dem Kind.
- Personen in der Umgebung des Kindes sollten sich nicht negativ über die Berufstätigkeit der Mutter äussern.
Die Flut von guten Tipps als Teil des Problems

Um die verinnerlichten Ideale von der inneren Wahrheit zu trennen, spricht Raphael Bonelli die Wichtigkeit an, unsere Schuldgefühle nicht zur Seite zu schieben, sondern als eine Art Warnsignal zu prüfen: Hätte man zum Wohl der Kinder während der Trennung anders kommunizieren sollen, hätte man mehr zu Hause sein sollen? Hätte man da nicht so laut schimpfen sollen? Wird gerade eine berechtigte Schuld angezeigt oder eine, die über die Ideale aus Filmen, Literatur, aus Werbung eingeimpft wurde?
Hinter anerzogenen Schuldgefühlen steht eine Gesellschaft oder eine Autoritätsperson, vor deren Liebesverlust wir uns fürchten.
Gegen das Wohl der Kinder handeln?
Denn davon auszugehen, dass Eltern nie bewusst gegen das Wohl ihrer Kinder handeln würden, wäre falsch, sagt Jürg Kollbrunner. Auch Eltern machen Fehler. Sei es aus Bequemlichkeit oder wegen schlecht überprüften fixen Ideen wie «ein paar Schläge haben noch keinem Kind geschadet». Oder einfach aus einer Überforderung heraus.
Wenn der vierjährige Max trotzte, wenn er nicht mehr zu beruhigen war, wusste sich seine Mutter Nina manchmal nicht mehr zu helfen. Als ihre Worte nicht mehr zu ihm durchdrangen und die Verzweiflung in Wut umschlug, rutschte ihr die Hand aus. Danach war er ruhig. So wie sie auch. Das Drama war vorbei, doch der Kloss in ihrem Hals sass fest.
Die Wurzel der Schuldgefühle erkennen
Eine Entschuldigung kann helfen, Verzeihung zu erfahren – vom Gegenüber oder von sich selbst.
Man sollte sich Hilfe holen, sobald man das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren, sobald man weiss, dass man etwas tut, das anderen oder auch einem selbst Schmerzen zufügt. Und wenn man sich selbst nicht mehr ausstehen kann. Diese Hilfe kann erst einmal nur in anonymen Gesprächen bestehen. Darin, auszusprechen, was man getan hat, und dafür keine Verurteilung zu erfahren, sondern Unterstützung in einer Veränderung der Situation. Eine Entschuldigung kann helfen, Verzeihung zu erfahren – vom Gegenüber oder von sich selbst.

Was unterscheidet das schlechte Gewissen von Schuldgefühlen?
Beim Schuldgefühl ist man davon überzeugt, sich schuldig gemacht zu haben, und übernimmt damit Verantwortung. Unabhängig davon, ob eine objektive Schuld vorliegt oder nicht. Beim schlechten Gewissen hingegen ahnt man eine Schuld, versucht sich aber deren Wahrnehmung zu entziehen. Wer also sein Ahnungsbewusstsein ernst nimmt, zieht es in seine Entscheidungen bewusst mit ein und fühlt sich schuldig.
Wer sein Ahnungsbewusstsein verdrängt («Ich habe ja gar nichts gemacht»), hofft, dass niemand darauf reagiert und es einem erspart bleibt, Verantwortung übernehmen zu müssen. Trotzdem kann einen das schlechte Gewissen dann plagen.
Bedeutung in der Erziehung
In der Kindererziehung spielt das Ahnungsbewusstsein eine besonders wichtige Rolle. Eltern erleben oft Situationen, in denen sie vom Kind etwas fordern – sei es auch bittend oder garniert mit Erklärungen –, nicht weil es für das Kind gut wäre, sondern weil es bequemer für die Eltern ist. Wenn solche kleinen Unehrlichkeiten wiederholt auftreten, erzeugen sie im Kind eine Unsicherheit und im Erwachsenen ein schlechtes Gewissen.
Literatur & Hilfe holen
Piper 2020, 288 Seiten, ca. 27 Fr.
Daniel Niederberger: Weniger erziehen – mehr leben. Alternativen zum Erziehungsstress. Publishing Partners 2019, 104 Seiten, ca. 24 Fr.
Raphael Bonelli: Selber schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen. Droemer Taschenbuch 2016, 336 Seiten, ca. 15 Fr.
Jürg Kollbrunner: Gespräch über Schuld und Schuldgefühle in der therapeutischen Beratung. Schulz-Kirchner 2018, 120 Seiten, ca. 28 Fr.
Suchen Sie den Dialog und professionelle Unterstützung, wenn Schuldgefühle überhandnehmen und Sie …
- sich sofort beschuldigt fühlen.
- bei Kleinigkeiten Wutausbrüche bekommen.
- kränkende Witze machen, die nur lustig gemeint seien.
Lesen Sie mehr zum Thema Schuldgefühle:
- «Mit der Trennung wuchsen bei mir die Schuldgefühle»
Benno Roth*, 60, Vater von zwei Töchtern,18 und 20, aus Zug lebt nicht mehr mit der Mutter seiner Kinder zusammen. Um diese schwierige Zeit und die damit einhergehenden Gefühle zu bewältigen, brauchte der Schulleiter professionelle Hilfe. - «Schuldgefühle sind für mich stark mit Mutterschaft verbunden»
Die Sozialarbeiterin Nadja Stadelmann, 41, und der Automobilverkaufsberater Beat Limacher, 42, leben mit ihren Töchtern Luisa Ella, 9, und Joanna Emma, 7, in Wolhusen LU. Da beide arbeiten, werden die Töchter an zwei Wochentagen fremdbetreut. Das hat vor allem bei Nadja Schuldgefühle ausgelöst. - «Das Bild perfekter Eltern lässt sich im Alltag nicht erfüllen»
Maël, 37, und Delia, 32, Leuenberger versuchen Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, was von anderen mitunter kritisch kommentiert wird. Der Lehrer und die Erziehungswissenschaftlerin leben mit ihren Kindern Loïn, 4, und Eliv, 2, in Luzern. - «Es braucht äusserst schwierige Eltern, um Kinder zu verderben»
Der Familientherapeut Daniel Niederberger beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Frage, wie sich Erziehung seit den 1960ern verändert hat. Dabei spielt das Thema Schuldgefühle eine grosse Rolle.