«Hochsensibilität ist keine Schwäche, sondern ein Geschenk»
Hochsensible Eltern spüren die Bedürfnisse ihres Kindes oft besonders intensiv. Brigitte Küster leitet das Institut für Hochsensibilität in Altstätten. Sie rät hochsensiblen Eltern, gezielt für sich selbst zu sorgen, um ihre besondere Gabe in der Erziehung positiv einsetzen zu können
Frau Küster, dass Eltern sich oft erschöpft und überfordert fühlen, gehört in vielen Familien längst zum Alltag. Hochsensible Eltern scheint das noch stärker zu betreffen. Welche Auswirkungen hat dieses Persönlichkeitsmerkmal auf den Alltag von Müttern und Vätern?
Kinder fordern generell eine Menge Aufmerksamkeit, bringen viel Unberechenbarkeit und Lärm mit sich. Hochsensible Menschen neigen dazu, sensorische und emotionale Reize intensiver wahrzunehmen und zu verarbeiten. Sie sind also von den täglichen Anforderungen stärker betroffen und erleben den Alltag mit Kindern intensiver als nicht hochsensible Eltern. Dazu kommt, dass hochsensible Eltern oft sehr hohe Ansprüche an sich selbst haben: Sie werden von den Bedürfnissen ihrer Kinder stark eingenommen und möchten für sie da sein. Gleichzeitig sind sie aber schneller erschöpft als weniger sensible Eltern.
Nennen Sie bitte ein Beispiel, wie der Alltag von hochsensiblen Eltern aussehen kann.
Stellen Sie sich vor, dass eine hochsensible Mutter morgens von ihrem Kind um kurz vor sechs Uhr geweckt wird. Das Kind ist voller Energie und möchte frühstücken oder spielen, während die Mutter noch nicht bereit ist. Das strengt alle Eltern an, klar. Aber eine hochsensible Mutter braucht eine längere Anlaufzeit und sie ist möglicherweise bereits überreizt, noch bevor sie richtig aufgestanden ist, weil sie in der Nacht nicht genügend Zeit hatte, sich zu regenerieren. Im Laufe des Tages wird sie trotz fehlender Regeneration ständig gefordert sein. Das kann zu einem Teufelskreis von Erschöpfung und Selbstzweifeln führen und schliesslich zu psychischen Erkrankungen.
Wissen hochsensible Eltern denn, dass ihre Überforderung möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass sie hochsensibel sind?
Viele Menschen erkennen ihre Hochsensibilität erst im Erwachsenenalter, und zwar tatsächlich meist dann, wenn sie selbst Eltern werden. Für viele ist diese Zeit ein Auslöser, um sich mit ihrer eigenen Veranlagung auseinanderzusetzen. Einige erkennen ihre Hochsensibilität, wenn sie bei ihren Kindern ähnliche Verhaltensweisen feststellen. Es gibt aber viele Erwachsene, die von ihrer Veranlagung nichts ahnen oder verinnerlicht haben, nicht so empfindlich sein zu dürfen.
Wie wirkt sich diese unerkannte Hochsensibilität auf das Leben der Eltern aus?
Wenn Eltern ihre Hochsensibilität nicht erkennen oder akzeptieren, kann das zu erheblichen Schwierigkeiten führen. Sie überfordern sich permanent. Das Wissen um die eigene Sensibilität hilft, den Alltag besser zu strukturieren und sich bewusst Pausen zu gönnen, bevor die Erschöpfung eintritt. Ein Beispiel aus meiner Praxis zeigt, wie wichtig das ist: Eine Mutter bemerkte, dass sie jeden Nachmittag an einem Punkt ankam, wo sie das Gefühl hatte, «explodieren» zu müssen. Als sie lernte, ihre Stresssignale früher zu erkennen und sich gezielt kleine Pausen zu gönnen – auch wenn es nur fünf Minuten waren, in denen sie die Tür schloss und tief durchatmete –, verbesserte sich ihre Lebensqualität erheblich.
Im familiären Alltag Pausen einzufordern, gelingt nicht immer.
Es ist deshalb wichtig, diese Sensibilität frühzeitig innerhalb der Familie zu kommunizieren. Schon kleine Kinder können verstehen, wenn ihre Eltern erklären, dass sie gerade eine Auszeit brauchen, um wieder Kraft zu schöpfen. Ausserdem hilft eine enge Abstimmung mit dem Partner. Ein Beispiel wäre, dass ein nicht hochsensibler Partner morgens die Kinder übernimmt, damit der hochsensible Part in Ruhe in den Tag starten kann und Energie für die restlichen Aufgaben hat. Wichtig ist, dass hochsensible Eltern sich von überhöhten Ansprüchen an sich selbst lösen.
Das klingt so selbstverständlich. Aber was ist, wenn Elternpaare unterschiedliche Sensibilitätsgrade aufweisen?
Dann kann es zu Missverständnissen und Unmut kommen über vermeintliche Unsensibilität auf der einen und Überempfindlichkeit auf der anderen Seite. Es ist wichtig, dass beide Partner Toleranz und Verständnis füreinander aufbringen. Ich rate dazu, die unterschiedlichen Stärken bewusst einzusetzen – der weniger sensible Partner kümmert sich eher um praktische Aufgaben, während der hochsensible Partner emotional intensivere Arbeiten übernimmt.
Hochsensible Eltern nehmen die Bedürfnisse und Stimmungen eines Kindes besonders feinfühlig wahr und reagieren darauf entsprechend.
Selbstzweifel bei hochsensiblen Eltern sind wohl stark verbreitet.
Das schlechte Gewissen ist tatsächlich ein ständiger Begleiter. Aber nur Eltern, die gut auf sich selbst achten, können gut für ihre Kinder sorgen. Hochsensible Eltern sollten lernen, sich selbst mit Mitgefühl zu begegnen. Ihre Veranlagung ist kein Fehler im System! Hochsensibilität ist oft eine Stärke.
Welche Vorteile haben hochsensible Mütter und Väter im Umgang mit ihrem Kind?
Sie bauen eine tiefe intuitive Verbindung zu ihrem Sohn oder ihrer Tochter auf. Sie nehmen die Bedürfnisse und Stimmungen eines Kindes besonders feinfühlig wahr und reagieren darauf entsprechend. Hochsensible Eltern können beispielsweise sehr gut spüren, wann ihr Kind Ruhe braucht oder wann es überfordert ist. Diese Fähigkeit ist ein grosser Vorteil, denn sie stärkt die emotionale Entwicklung der Kinder und fördert eine vertrauensvolle Beziehung.
Welche Botschaft möchten Sie hochsensiblen Eltern auf den Weg geben?
Hochsensibilität ist keine Schwäche. Es mag Tage geben, an denen es sich schwer anfühlt, hochsensibel zu sein, doch es gibt genauso viele Momente, in denen diese Veranlagung ein Geschenk ist. Hochsensible Mütter und Väter sollten stolz auf ihre besondere Fähigkeit sein, tief zu empfinden und ihre Kinder in ihrer Ganzheit zu erfassen. Wenn sie sich selbst mit Mitgefühl und Liebe begegnen, können sie diese Werte auch an ihre Kinder weitergeben und sie auf ihrem Lebensweg stärken.