Und täglich grüsst das Schuldgefühl

Neigen wir Eltern zu übermässiger Selbstkritik, färbt das Gefühl des Ungenügens auch auf unser Kind ab. Wir sollten wohlwollender mit uns umgehen und Gelungenes stärker würdigen.
Während das Kleine in der Trage schläft und die älteren Kinder im Wald spielen, wirft ein befreundeter Vater, selbst Kinder- und Jugend-Psychotherapeut, folgende Frage auf: «Glaubt ihr eigentlich, dass ihr gute Eltern seid?» Sie bringt meinen Mann und mich zum Nachdenken: Machen wir unsere Sache als Mutter, Vater, Elternpaar wirklich gut? Und woran genau macht man das fest?
Schnell wird klar: Ganz sicher sind wir uns bei diesen Fragen alle nicht. Unser Freund ergänzt: «Es hat mich eben interessiert, weil ich den Eindruck habe, dass unsere Elterngeneration sich andauernd hinterfragt und oft diejenigen am meisten an sich zweifeln, die objektiv doch eigentlich gute Eltern sind. Anders als die Generation unserer Eltern, die vielfach erstaunlich überzeugt meint: Erziehung? Haben wir doch super hinbekommen! Wir waren gute Eltern.»
Höhere Ansprüche, mehr Selbstzweifel
Dass so viele von uns heute an ihrer Erziehungskompetenz zweifeln, hängt sicherlich auch mit den gewachsenen Ansprüchen zusammen: Wir möchten unsere Kinder als gleichwürdige Gegenüber behandeln, ihre Gedanken und Gefühle ernst nehmen und ihnen das Rüstzeug mitgeben für ein gesundes, erfülltes und selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft. Auf keinen Fall wollen wir etwas in der Erziehung verpassen oder gar unreflektiert ungünstige Muster weitergeben, die unsere Kinder schlimmstenfalls zeitlebens belasten.
Es täte uns gut, unseren Fokus bewusst auf das Gelungene zu lenken: Tadaaaa! statt To-do.
Dabei täte es uns gut, etwas positiver auf unsere Erziehungskompetenz zu blicken, wie eine belgische Untersuchung von Bénédicte Mouton und Isabelle Roskam aus dem Jahr 2015 nahelegt. In dieser Studie wurden Mütter gebeten, Erziehungsfragebögen auszufüllen. Später beobachtete man sie in der Interaktion mit ihrem Kind.
Schuldgefühle trotz Erziehungskompetenz
«Ihr Kind zeigt alle Anzeichen eines gesunden, gut entwickelten Kindes, sowohl zu Hause als auch im schulischen Kontext.» Diese Rückmeldung erhielt die Hälfte aller Mütter, unabhängig von den tatsächlichen Ergebnissen. Aber damit nicht genug: Man teilte ihnen auch noch mit, dass sie – verglichen mit anderen Familien in Belgien in einer ähnlichen Lebenssituation – zu den 20 Prozent der Eltern mit der höchsten Erziehungskompetenz zählten. Es würde ihnen besonders gut gelingen, ihre Kinder in den drei zentralen Erziehungsbereichen gut zu begleiten: Herzlichkeit und Wärme, Emotionsregulation und Umgang mit Grenzen.
Der Clou: Mütter, die diese Rückmeldung erhielten, waren daraufhin tatsächlich feinfühliger, positiver und unterstützender mit ihrem Kind und weniger gereizt. Interessanterweise übertrug sich der Glaube an die eigenen Erziehungsfähigkeiten auch auf die Kinder: Diese zeigten sich unbeschwerter, weniger irritierbar und im Spiel ausdauernder und freudvoller. Diesem Ergebnis liegt ein seit Langem bekannter psychologischer Effekt zugrunde: der sogenannte Rosenthal- beziehungsweise Pygmalion-Effekt. Dabei steht am Anfang eine Erwartung, der wir unbewusst nachkommen – wodurch diese Erwartung am Ende bestätigt wird.
Für uns und unsere Kinder wäre es also durchaus hilfreich, wenn wir auf die Frage «Glaubst du, dass du eine gute Mutter, ein guter Vater bist?» antworten könnten: «Es gibt zwar ein paar Punkte, an denen ich arbeiten möchte – aber im Grossen und Ganzen: Ja!»
Was aber tun, wenn die Selbstzweifel überwiegen und man bei sich einen Hang zu übermässiger Selbstkritik feststellt?
Machen Sie sich Ihre Sonnenseiten bewusst!
Unser Gehirn neigt von Natur aus dazu, Negatives stärker wahrzunehmen als Positives und ihm auch mehr Bedeutung beizumessen. Kein Wunder also, dass uns beim abendlichen Tagesrückblick vorwiegend Momente einfallen, in denen wir uns offenbar nicht optimal verhalten haben: Hier haben wir genervt reagiert, dort das Kind ganz gestresst zur Eile angetrieben, da nur mit einem Ohr zugehört. Und wieso gab es eigentlich schon den vierten Tag in Folge wieder nur Pasta?
Es täte uns gut, unseren Fokus bewusst auf das Gelungene zu lenken: «Tadaaaa!» statt To-do quasi! Wir können abends auf den Tag zurückblicken und uns fragen: «Was habe ich heute alles geschafft?» anstatt «Was ist alles liegen geblieben?», «In welchen Momenten war ich heute mit meinem Kind in einem liebevollen Kontakt?» anstatt «Was hat heute alles gefehlt?», «An welcher Stelle ist es mir heute gelungen, nicht einfach aus dem Bauch heraus zu reagieren?» anstatt «Was habe ich heute wieder alles falsch gemacht?».
Indem wir anderen Müttern und Vätern wertschätzende Blicke schenken, stärken wir uns gegenseitig als Eltern.
Vergleiche mit anderen bieten einen idealen Nährboden für Selbstzweifel: «Warum bekommen die das so gut hin und ich nicht?» Wenn uns dieser Strudel mitreisst, können wir bewusst dagegenhalten: «Eigentlich kann ich mir kein Bild machen, weil ich diese Familie nur von aussen sehe und nicht weiss, wie es wirklich ist und mit welchen Problemen sie vielleicht kämpft.»
Darüber hinaus empfiehlt es sich, darauf zu achten, was man konsumiert. Gerade auf Social Media erlangen hoch emotionalisierte Inhalte viel Reichweite und nicht unbedingt solche, die weiterhelfen. Wir dürfen uns fragen: Wie viel Social Media tut mir wirklich gut? Welche Fachpersonen helfen mir, welche stressen mich nur oder lösen ein Gefühl von Inkompetenz aus? Misten Sie daraufhin ruhig munter aus!
Sich verletzlich zeigen
Selbstkritische Menschen haben meist den Anspruch, nach aussen hin ein möglichst gutes Bild abzugeben. Keinesfalls soll jemand merken, dass man eben nicht alles im Griff hat und man im Alltag öfter schwimmt, als einem lieb ist! Dieser Anspruch setzt nicht nur unter Druck, er kann auch sehr einsam machen.
Wer sich aber einen Ruck gibt und sich anderen Eltern öffnet, wird spüren, wie heilsam das ist. Auf ein «Ich habe im Moment das Gefühl, es als Mutter/Vater nicht so gut hinzukriegen» folgt häufig ein «Damit bist du nicht allein». Das kann ein Ausgangspunkt für gegenseitiges Verständnis, Entlastung und Unterstützung sein.
Menschen mit einem Hang zur Selbstkritik glauben oft, alles schaffen zu können, wenn sie sich nur gut genug organisierten. Und weil das nicht klappen will, sind Druck und Unzulänglichkeitsgefühle ihr ständiger Begleiter. Diese reduzieren sich erst, wenn wir uns zugestehen, dass unsere Zeit und Energie am Tag endlich sind.
Dann können wir uns ehrlich fragen: Was ist mir für unseren Familienalltag besonders wichtig? Was weniger? Und welche ein, zwei Dinge sollen in unserem Alltag unbedingt Platz finden? Anstatt überhöhter Ansprüche definieren wir davon ausgehend ein Minimalziel, zum Beispiel: «Ich möchte einmal täglich mit meinem Kind in einem echten Kontakt sein» oder «Ich möchte dafür sorgen, dass wir zumindest einmal im Monat mit der ganzen Familie einen Ausflug machen».
Zu guter Letzt möchte ich uns alle dazu ermutigen, einander in der Elternschaft zu bekräftigen. Schenken wir anderen Müttern und Vätern wertschätzende Blicke, sprechen wir aus, welche Stärken wir bei ihnen wahrnehmen, für welche Qualitäten wir sie vielleicht sogar bewundern!