Meine beiden Kinder wissen, wo ich arbeite. Sie waren natürlich noch nie dort, das ist auch verboten. Ich erzähle auch keine Details. Aber sie werden mit dem Wissen gross, dass ihre Mutter sich um fremde Menschen kümmert,
die Mitgefühl und Hilfe brauchen. Das prägt sie sichtbar. Ausserdem ist mein Ex-Mann Psychologe, er arbeitet als Pädagoge mit Kindern. Im Punkt ‹Erziehung zu mehr Mitgefühl› sind wir uns einig und auf einer Linie.
Entgegen dem Klischee ist Jordan, mein achtjähriger Sohn, feinfühliger als seine grosse Schwester. Er ist kein lauter Junge, der die Welt retten will. Aber er erkennt kleine Stimmungsveränderungen schnell, er hat ein gutes Auge für andere. Er agiert mit kleinen Gesten, stellt sich nahe neben jemanden, zeigt Solidarität. Er hat auch sehr feine Antennen für das Leid von Tieren.
Meine Grosse hat einen pragmatischen Zugang zum sozialen Miteinander. Viele Menschen zögern, ihrem empathischen Reflex zu folgen und einen Fremden gegebenenfalls zu fragen, ob es ihm gut geht oder ob er Hilfe braucht. Zoe hat keine Berührungsängste und keine Scheu, auch fremden Kindern Hilfe anzubieten. Sie hat sich in der Schule zur Konfliktlotsin ausbilden lassen. Für dieses Amt muss man sich zunächst bewerben, dann wählt die Klasse jene aus, von denen man annimmt, dass sie ausreichend Gerechtigkeitssinn haben. Zoe ist überhaupt kein Engel, nicht besonders brav. Aber Ungerechtigkeit akzeptiert sie nicht. Wenn jemand gehänselt wird, schreitet sie ein. Dabei hat sie auch schon begriffen, was ich erst als Erwachsene gelernt habe. Mit meiner Empathie allein kann ich kein Menschenleben retten. Zoe sagt: ‹Ich kann nur denen helfen, die meine Hilfe annehmen. Ich kann nur einen Konflikt lösen, wenn die Streitenden sich auch vertragen wollen.› Ich glaube, dass diese Haltung hilfreich ist. Zu viel Mitgefühl kann einen auch selbst lähmen.»