Erziehung braucht Beziehung

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren
Wird Erziehung in einem hierarchischen Sinn betrachtet, kann sie sehr zerstörerisch sein. Kinder brauchen von ihren Eltern Führung, aber auch Gleichwertigkeit innerhalb der Familie.
Es gibt allerdings auch eine neue Gruppierung von jungen Eltern, die so sehr damit beschäftigt sind, Geld zu verdienen, und die diesbezüglich einen abnormen Ehrgeiz entwickeln, dass sie tatsächlich meinen, sich auch ihr Familienglück und ihre Gesundheit mit Geld erkaufen zu können. Sie sind bereit, grosse Summen zu zahlen, nur damit ihr Kind irgendwo gut untergebracht ist, und wenn es dann Probleme gibt, wollen sie die «schwierigen» Dinge möglichst rasch weghaben und zahlen dafür, was immer es kosten mag.
Mein Ehrgeiz ist es, Eltern wahrzunehmen: mit ihnen eine gewisse Zeit zu verbringen, um ihnen dann mitzuteilen, was ich beobachte und auf sie zukommen sehe. Worauf ich dabei immer achte, ist, wie ich meine Mitteilungen verpacke, damit meine Worte sie in der Tat erreichen und sie sich darin wiederfinden. Um einen Veränderungsprozess in Gang zu setzen, ist es wesentlich, die Eltern nicht zu verurteilen, sie nicht schlecht und schuldig zu machen. Damit erreicht man gar nichts, ausser dass sie sich ausgesetzt fühlen. Nachdem ich den Eltern meine Wahrnehmungen mitgeteilt habe, erwähne ich einige Möglichkeiten, wie sich ihr Familienklima verändern könnte, und ich mache auch kein Hehl daraus, dass ich möglicherweise eine von den Möglichkeiten bevorzuge. Sie dürfen dann entscheiden, ob und wie wir weiterarbeiten, denn der erste entscheidende Schritt ist, dass sie sich daran gewöhnen, selber Verantwortung zu übernehmen.
Im Dänischen kann man mit dem Wort «erziehen» zweierlei ausdrücken: «erziehen» im herkömmlichen Sinne von «korrigieren, massregeln», aber auch «erziehen» im Sinne von «grossziehen», und das heisst: jemandem helfen, erwachsen zu werden, ihn ins Leben «hineinziehen». Und diese zweite Bedeutung von «erziehen» ist mir sehr sympathisch.
Die Entwicklung begleiten
Und wenn man Dinge verändern will, dann braucht man Zeit. Man muss Dinge loslassen können. Ein Beispiel: Wenn wir, meine Frau und ich, über das Benehmen unseres Sohnes erstaunt und entsetzt waren, haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, diesen Tag im Kalender rot anzukreuzen. Dann haben wir einen bestimmten Zeitpunkt festgelegt und uns gedacht: Wenn er sich bis dahin nicht verändert hat, dann müssen wir etwas unternehmen. Und es war tatsächlich jedes Mal so, dass sich immer etwas verändert hat – und eine Intervention überflüssig wurde. Dies hat sich bei uns öfters bewährt: nicht gleich handeln, geschweige denn mit Strafen drohen oder gar bestrafen, sondern erst mal abwarten. Im Deutschen gibt es ein Sprichwort, das hierzu gut passt: Gut Ding braucht Weile.
In einem gegenseitigen Prozess werden beide Seiten «erzogen»
Beziehung ist insofern ein guter Begriff, als er die Gleichwertigkeit zwischen Eltern und Kindern betont – worauf es tatsächlich ankommt –, nur meine ich nicht, dass die Erwachsenen die Führung abgeben sollen: Kinder kommen mit sehr viel Weisheit, aber sehr wenig Erfahrung zur Welt, sodass sie der Führung durch die Erwachsenen bedürfen. Kinder, denen diese Führung nicht zuteilwird, sind sehr unglücklich, und sie bleiben es, wenn sie älter werden.
Kinder kommen mit sehr viel Weisheit, aber sehr wenig Erfahrung zur Welt. Sie bedürfen der Führung, sonst werden sie unglücklich.
Kinder brauchen eine Führung, aber nicht die, die wir ihnen bislang angeboten haben. Sie brauchen eine kontinuierliche Begleitung und keine militärische Oberaufsicht.
Ich habe mit meiner ersten Frau und meinem Sohn bis zu seinem achten Lebensjahr in einer Kommune gelebt. Und ich werde den Tag, an dem wir ausgezogen sind, nie vergessen: Mein Sohn war so froh, obwohl er sich bis dahin nie beklagt hatte.
Es gibt keine Alternative zur Familie
In der Familie entwickelt sich der innere Halt des Kindes – das heisst: das Selbstwertgefühl, jene Stimme in uns, die sagt: «Okay, die Welt ändert sich, die Menschen auch, aber zumindest weiss ich, was ich mir selbst bedeute!» Wenn dem so ist, können wir getrost in die Zukunft blicken und nicht jeden Tag aufs Neue schockiert, sondern jeden Tag aufs Neue überrascht sein.
Wenn wir zum Beispiel in einer Partnerschaft leben, können wir uns sagen: «Ich bin gespannt, wer sie heute ist!» Das bedeutet: offen sein. Mit dieser Haltung lädst du jeden in deiner Umgebung ein, sich auch zu öffnen, und schaffst eine Atmosphäre, in der sich jeder frei entfalten kann – und das wiederum ist für Kinder sehr wichtig. Viele Eltern behaupten nämlich, sie würden ihre Kinder kennen, aber damit meinen sie nur: «Ich kenne sie besser, als sie sich selbst kennen, deshalb darf ich sie bevormunden!» Im Grunde kennen sie nur ihre äussere Seite, und auch die besteht zu 80 Prozent aus Projektionen der Eltern.
Viele Eltern sagen, sie würden ihre Kinder kennen und meinen: «Ich kenne sie besser als sie sich selbst, daher darf ich sie bevormunden.»
Eltern können zwar durchaus Ratgeber für ihre Kinder sein, aber nicht indem sie sich aufs Podest stellen und sagen: «Du musst dies oder das tun, denn ich kenne dich! Niemand kennt dich so gut wie ich!» Wäre es nicht angemessener zu sagen: «Schau, so wie ich dich kenne, meine ich, dass dies oder das nicht sehr zu dir passt»? Mit so einem Satz habe ich ausgedrückt, dass ich einen persönlichen Bezug zu meinem Kind habe und dass ich es aufgrund unserer Beziehung kenne und nicht, weil ich über ihm stehe. Das entspricht überhaupt nicht der Wahrheit und muss auch total unpersönlich auf es wirken, sodass ihm nichts anderes übrig bleiben kann, als zu protestieren.
Jesper Juul (1948 – 2019)
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