«Mitfühlende Kinder sind glücklicher» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

«Mitfühlende Kinder sind glücklicher»

Lesedauer: 4 Minuten

Die Heilpädagogin und Lehrerin Barbara Jüsy sagt, Empathie sollte unbedingt an der Schule gelehrt werden. Kinder lernen bei ihr, auf sich selbst zu achten, sich für andere zu öffnen und sozial zu interagieren. Das macht sie resilienter.

Frau Jüsy, Sie vermitteln im Schulkreis Bümpliz bei Bern das Konzept des sozial-emotional-ethischen Lernens (SEE Learning). Warum heisst dieses Schulfach bei Ihnen an der Schule «Glück»?

Ich brauchte einen Namen, mit dem die Schülerinnen und Schüler etwas anfangen können. Ich unterrichte Sieben- bis Zehnjährige. Sozial-emotional-ethisches Lernen klingt für die Ohren von Kindern unverständlich, auch für manchen Erwachsenen ist das Konzept abstrakt. Wir schulen das Selbstmitgefühl und die Selbstwahrnehmung, arbeiten am zwischenmenschlichen Gewahrsein und an Beziehungskompetenzen. Ich habe das vereinfacht. Worum geht es im Endeffekt? Wir finden zusammen heraus, was jeden Einzelnen und uns als Gemeinschaft zufrieden und glücklich macht.

Wie gehen Sie in einer typischen «Glücks-Schulstunde» vor?

Ich fange damit an, die Selbstwahrnehmung der Kinder für sich selbst zu trainieren. Wir sitzen beispielsweise im Kreis und fragen uns: Wie geht es mir gerade? Um das zu verdeutlichen, gibt es verschiedene Zonen, denen die Kinder sich zuordnen können. Wenn ich mich beispielsweise in der «Okay-Zone» befinde, dann fühle ich mich gut. Vielleicht bin ich ein bisschen müde, aber insgesamt bin ich mit mir im Reinen.

Was mir guttut, hilft vielleicht auch anderen – diese Einsicht macht Kinder innerlich sicherer.

Manchmal bemerke ich aber, dass ich energieloser, unmotivierter oder schlapper bin als an anderen Tagen. Dann bin in der sogenannten «windstillen Zone». Ich lasse die Kinder beschreiben, wie ihr Körper das signalisiert. Sie sagen dann Dinge wie «Ich fühle mich irgendwie schwer» oder «Mein Kopf fühlt sich dumpf an». Bei dieser Übung lernen die Kinder das Repertoire ihrer Körpersprache zu deuten und zu benennen.

Woher kommen die Begriffe für diese «Gefühlszonen»? 

SEE Learning entstand aus einer Idee des Dalai Lama heraus, wurde an der US-amerikanischen Emory University in Atlanta entwickelt und arbeitet mit englischen Begriffen. Ich habe für die unterschiedlichen Gefühlszustände kindgerechte Ausdrücke gewählt: Die englische «high zone» heisst bei uns zum Beispiel «Sturm-Zone». Wenn man sich ­darin befindet, hat man viel nega­tive Energie im Körper, das passiert, wenn man wütend, gestresst oder ängstlich ist. Die Kinder fühlen sich kribbelig und angespannt, viele haben einen ungeheuren Bewegungsdrang. Der Körper verrät uns oft, was zu tun ist.

Wer wütend ist, hat auch das Gefühl, schreien zu müssen oder um sich schlagen zu wollen. Das wollen Sie sicherlich nicht.

Genau deshalb beschäftigen wir uns damit, was dabei helfen kann, zurück in die «Okay-Zone» zu kommen. Wir entwickeln gemeinsam Strategien, die uns aus dem Tief herausbringen, ohne dass dabei andere Schaden nehmen. Wenn ein Kind sich zum Beispiel müde und traurig fühlt, kann ein Gespräch mit einem Freund guttun. Manchmal hilft es einfach, den Nacken ein wenig zu massieren, die Schultern zu lockern. Für die «Sturm-Zone» haben wir ein paar Soforthilfestrategien entwickelt wie Hände gegeneinander reiben oder einen Schluck Wasser trinken.

Und wenn trotz alledem aus der ­kleinen Flamme ein Waldbrand wird?

Dann können die Kinder jemanden fragen, der ihnen bei dem Konflikt hilft. Auch das lernen sie in diesem Unterricht. Ich stelle mich manchmal vor die Klasse und sage etwas wie: «Ah, schaut mal, jetzt bin ich in der Sturm-Zone. Ich bin megawütend, weil das gerade nicht geklappt hat. Könnt ihr mir helfen?» Meine Schülerinnen und Schüler wissen, dass wir uns alle manchmal so fühlen. Diese Erfahrung ist sehr hilfreich, um das Gegenüber zu verstehen und entsprechend zu reagieren.

Studien haben gezeigt, dass bei ­Teenagern das Ansehen von Leistung weit vor dem sozialen Engagement steht. Wie nehmen Ihre Schülerinnen und Schüler dieses Fach wahr?

Mich hat sehr berührt, wie sie diesen Unterricht und die dort erworbenen Kompetenzen reflektieren. Ein Kind hat gesagt: «Ich habe das Gefühl, ich lerne mich besser kennen.» Eine andere Schülerin hat zusammengefasst: «Das, was wir in Glück lernen, ist ganz echt.» Ich bin sehr froh, dass der neue Lehrplan 21 diese überfachlichen Fähigkeiten berücksichtigt. Die sozialen und emotionalen Kompetenzen werden darin stärker gewichtet. Mitfühlende Kinder sind glücklicher. Die Einsicht «Aha, was mir guttut, hilft vielleicht auch anderen» macht innerlich sicherer. Wenn wir uns gegenseitig unterstützen, fällt es jedem Einzelnen und dann auch der Gemeinschaft leichter.

Ein Ziel von SEE Learning ist auch, die Atmosphäre im Klassenzimmer zu verbessern. Warum reicht es nicht, einfach Regeln des sozialen ­Miteinanders aufzustellen und auf deren Einhaltung zu bestehen?

Die Lehrerfahrung zeigt, dass das Androhen von Konsequenzen wenig Einfluss auf den Umgang der Schülerinnen und Schüler miteinander hat. Die Kinder halten sich viel ­stärker an Vereinbarungen, die wir gemeinsam gemacht haben und von denen sie überzeugt sind. Wenn ich weiss, dass mein Gegenüber genauso mit Unsicherheiten, Ängsten und Stress zu kämpfen hat wie ich, wenn ich weiss, dass ich ihm helfen kann und wie das geht, dann schafft das eine andere Grundlage. Wenn ich weiss, dass mein Gegenüber das Bedürfnis teilt, sich in der Klasse wohlzufühlen, hilft mir diese Einsicht, mich an unsere Klassenvereinbarungen zu halten.

In den meisten Schulklassen treffen heute Kinder aus unterschiedlichen Kulturen und mit verschiedenen Erfahrungen aufeinander. Ist es ­wirklich so einfach, eine gemeinsame Basis zu schaffen?

Ich habe das noch nie als Problem wahrgenommen. Kinder sind sich doch sehr ähnlich in ihren Bedürfnissen und in dem, was sie spielen wollen und wie sie miteinander agieren. Was manchmal Schwierigkeiten bereitet, ist der religiöse Hintergrund der Eltern. Ich hatte in einer Klasse Eltern, die in einer christlichen Freikirche waren und sich wegen des Dalai Lamas sorgten, dass SEE Learning ein buddhistischer Religionsunterricht sei. Ich war froh, dass sie ihre Bedenken angemeldet haben, so konnte ich sie in den Unterricht einladen und sie haben ihre Befürchtungen schnell abgelegt. Es geht um eine säkulare Ethik. Um Mitfühlen, Respekt, Freundlichkeit. Das sind universelle Werte.

Sie unterrichten «Glück» ein Mal pro Woche. Reicht das aus?

Diese einzelne Stunde würde nicht ausreichen. Aber ich komme nicht nur fürs «Glück», ich komme auch zum Mathematik- und Förderunterricht. Das Herz des Curriculums ist, dass es ein Bestandteil von allen Fächern ist. Auch die Kollegen und Kolleginnen wenden die Vereinbarungen und Strategien in ihrem Unterricht an. Diese Kompetenzen müssen immer wieder trainiert werden, damit sie selbstverständlicher Teil des täglichen Miteinanders sind.


Barbara Jüsy ist schulische Heilpädagogin, Lehrerin und Vorstandsmitglied im Verein «Achtsamkeit – Schule – Bildung».
Barbara Jüsy ist schulische Heilpädagogin, Lehrerin und Vorstandsmitglied im Verein «Achtsamkeit – Schule – Bildung».

Mehr zum Thema Empathie

sportcamp kinder elternmagazin fritz und fraenzi
Advertorial
Kinder-Camps: Fun & Action für dein Kind
An alle Mamas und Papas: Du suchst eine Ferienbetreuung für dein Kind? Dann bist du bei Kinder-Camps genau richtig!
Erziehung
«Kein Mensch kann von morgens bis abends empathisch sein»
Ein Anliegen von Psychologin Claudia Brantschen ist es, Eltern im Alltag zu unterstützen. Sie erklärt, wie beziehungsstärkende Kommunikation gelingt.
Mikael Krogerus Kolumnist
Familienleben
Eltern sein heisst nie mehr nicht Vater oder Mutter sein
Dies ist der letzte Beitrag von Mikael Krogerus für Fritz+Fränzi. Darin zieht der Kolumnist viele lehrreiche Fazits zum Eltern sein.
Lernen
Wie wird die Schule zu einem glücklichen Ort?
Menschen, Abläufe und Orte können Kindern dabei helfen, die Herausforderungen in einer Lernumgebung wie der Schule zu meistern.
Elternbildung
Was Kinder wirklich brauchen – und was nicht
Kindern fehlt die praktische Lebenserfahrung. Gütige, einfühlende Anleitung ist deshalb ein wichtiger Teil von elterlicher Führung.
Elternbildung
So lernt Ihr Kind Verantwortung zu übernehmen
Mit der Zeit sollte Verantwortung Schritt für Schritt von den Eltern aufs Kind übergehen. Wie Mütter und Väter diesen Balanceakt meistern.
Elternbildung
«Wir sollten Kindern etwas zutrauen»
Gwendolyn Nicholas und Nico Lopez Lorio liessen ihre Söhne schon mit acht allein im ÖV durch die Stadt fahren. Heute ist auch die fünfjährige Tochter oft dabei.
Elternbildung
«Kinder müssen wissen, was sie brauchen»
Karin und Stephan Graf sind überzeugt, dass Empathie der Schlüssel zur ­Eigenverantwortung ist.
Elternbildung
«Ich dachte, ich würde es locker nehmen»
Simone Steiner und Paolo Bogni waren als Kinder früh selbständig. Umso mehr erstaunt beide, dass ihnen Loslassen als Eltern oft schwerfällt.
Elternbildung
Diese Schulen machen Eltern und Kinder sozial fit
Viele Schweizer Schulen bieten sozialpädagogische Konzepte an, die Kindern helfen sollen, ihre Sozialkompetenzen zu entfalten. Wie sich drei davon in der Praxis bewähren.
Erziehung
«Ein Kind sollte Konflikte selbst lösen dürfen»
Psychologe Fabian Grolimund sagt, die Grundsteine für ein soziales Verhalten würden schon früh gelegt. Daher gelte es besonders für Eltern, ein solches vorzuleben.
Michèle Binswanger Kolumnistin
Elternblog
Wie man die Teenage-Safari-Jahre überlebt
Unsere Kolumnistin Michèle Binswanger sagt, wie eine Mutter Einblicke ins Leben ihrer Teenager erhalten kann.
Fabian Grolimund Kolumnist
Entwicklung
Ich liebe dich, so wie du bist!
Bedingungslose Elternliebe heisst nicht, dem Kind alles durchgehen zu lassen. Es geht darum, Ihrem Kind auch in schwierigen Situationen zugewandt zu bleiben.
Elternbildung
Erziehung braucht Beziehung
Wird Erziehung in einem hierarchischen Sinn betrachtet, kann sie sehr zerstörerisch sein. Kinder brauchen von ihren Eltern Führung, aber auch Gleichwertigkeit.
Geschwister-Mythen: Ein Bund fürs Leben
Erziehung
Geschwister – ein Bund fürs Leben
Von Beginn an sind Geschwister Verbündete, die gemeinsam Schlachten gegen Mama und Papa schlagen. Über eine besondere und besonders stürmische Beziehung.
Ein gutes Gefühl
Entwicklung
Ein gutes Gefühl: Wie lernt man Empathie?
Die Fähigkeit zur Empathie steckt in ­unseren Genen. Wie lernen Kinder, andere zu verstehen, Gefühle zu lesen und entsprechend zu handeln?
«Kinder müssen üben
Entwicklung
«Kinder müssen üben, eigene und fremde Gefühle zu erkennen»
Die 33-jährige Journalistin Janine Schönenberger hat mit ihren ­Söhnen Joan, 6, und Yanis, 4, schon früh darüber geredet, welche ­Gefühlszustände es gibt.
«Emojis können kein ­Gespräch ersetzen»
Entwicklung
«Emojis können kein ­Gespräch ersetzen»
Sarah Pel, 45, und ihrem Mann Oliver, 50, ist es wichtig, dass ihre Kinder auch im Netz respektvoll und empathisch mit anderen umgehen.
Ein gutes Gefühl
Entwicklung
Ein gutes Gefühl: Wie lernt man Empathie?
Die Fähigkeit zur Empathie steckt in ­unseren Genen. Wie lernen Kinder, andere zu verstehen, ihre Gefühle zu lesen und entsprechend zu handeln?
Meine Kinder haben keine Angst, ihr Mitgefühl zu zeigen
Entwicklung
«Meine Kinder haben keine Angst, ihr Mitgefühl zu zeigen»
Petra Ribeiro ist Pflegefachfrau und arbeitet mit randständigen Menschen. Ohne Empathie für könnte sie ihren Beruf nicht ­ausüben.
Empathie ist kein Geschenk
Entwicklung
Empathie ist kein Geschenk, ­sondern eine Verpflichtung
Verständnisvoll und einfühlsam zu sein, wurde mit dem Lockdown zu einer alltäglichen ­Herausforderung.
Stefanie Stahl: Wie wirken sich eigene Erfahrungen in der Kindheit auf Eltern aus?
Gesundheit
«Frau Stahl, wie wirken sich eigene Kindheitserfahrungen aufs Elternsein aus?»
Die Psychotherapeutin Stefanie Stahl hat einen Ratgeber darüber geschrieben, was die Gefühle von Eltern zu ihren Kindern beeinflusst. Das Interview.
Mein Lehrer
Gesundheit
Mein Lehrer, das Baby
«Roots of Empathy» möchte Primarschülern mehr Einfühlungsvermögen vermitteln und Aggressionen abbauen. Mit Erfolg, wie eine Schweizer Studie belegt.
Beziehungen lernen im Kindergarten
Gesellschaft
Wie Kinder soziale Kompetenzen erwerben
Der Kindergarten ist ein Übungsfeld für soziale Beziehungen. Hier lernen Kinder ihre Bedürfnisse zu äussern und knüpfen erste Freundschaften.
Mary Gordon: «Wir sind emotionale Analphabeten»
Entwicklung
Mary Gordon: «Wir sind emotionale Analphabeten»
Roots of Empathy-Gründerin Mary Gordon: wie Eltern das Mitgefühl ihrer Kinder entwickeln können und was ihr der Dalai Lama über seine Mutter verraten hat.