«Wir nehmen Dinge anders wahr»
Erst als ihre Tochter in den Kindergarten kommt, versteht Stephanie Hoppeler ihre eigene Hochsensibilität. Die beiden erzählen von den Herausforderungen und Chancen dieser Eigenschaft.
Stephanie Hoppeler, 44, und Stefan Fasnacht, 41, leben mit ihren Kindern Anabelle, 12, und Xavier, 9, in Liebistorf FR. Stephanie arbeitet als Teamleiterin in der Forschungsförderung beim Schweizerischen Nationalfonds, Stefan als Teamleiter der Schreinerei im Blinden- und Behindertenzentrum. Stephanie und Anabelle sind beide hochsensibel.
Stephanie: «Als ich jünger war, hiess es oft: ‹Sei doch nicht so empfindlich. Nimm dir das nicht so zu Herzen.› Besonders Situationen, in denen ich mich erschreckt habe, haben mich stärker getroffen als andere. Es konnte dann passieren, dass ich in Tränen ausbrach – völlig unverhältnismässig aus der Sicht anderer.
Für diese Empfindsamkeit gab es damals keine Erklärung. Hochsensibilität, dieses Persönlichkeitsmerkmal, kannte man in unserer Generation nicht wirklich. Erst als meine Tochter Anabelle im Kindergarten ähnliche Empfindungen und Schwierigkeiten hatte, habe ich mich mit den Hintergründen beschäftigt.
Ich habe durch Anabelles Hochsensibilität gelernt, meinem Bauchgefühl mehr zu vertrauen.
Stephanie, 44
Anabelle war schon früh ein sehr empfindsames Kind. Als sie in den Kindergarten kam, dachten wir, dass sie das gut meistern würde. Sie war kognitiv weit entwickelt. Doch sie wollte morgens nicht dorthin, weinte viel und klammerte sich an uns oder ihre Betreuerin. Es war ihr alles zu viel, zu laut, zu grell.
Schliesslich machte uns eine Lehrerin auf Hochsensibilität aufmerksam. Ich las Bücher dazu und wir liessen uns medizinisch und psychologisch beraten. Zu erkennen, dass Anabelle und auch ich die Dinge nachweislich anders wahrnehmen und verarbeiten, war ein Schlüsselmoment.
Strategien, die den Alltag erleichtern
Wir haben Strategien entwickelt, um Anabelle den Alltag zu erleichtern. Es ist wichtig, dass sie sich neuen Erfahrungen stellt, aber wir bereiten Situationen vor, damit sie weiss, was auf sie zukommt. Steht der Schwimmunterricht an, besichtigen wir vorab gemeinsam das Schwimmbad, damit sie das erste Erlebnis positiv empfindet. Wenn sie sich sicher fühlt, funktioniert alles viel besser.
Mein Mann Stefan ist nicht hochsensibel. Manchmal fällt es ihm schwer, zu verstehen, warum Anabelle und ich länger brauchen, um Emotionen zu verarbeiten. Aber er sorgt dafür, dass wir den nötigen Raum für unsere Bedürfnisse haben.
Ich habe durch Anabelles Hochsensibilität gelernt, meinem Bauchgefühl mehr zu vertrauen. Als Teamleiterin spüre ich meistens, wenn jemandem etwas auf der Seele liegt, und das hilft mir, die richtige Unterstützung zu bieten. Die Hochsensibilität sehe ich heute nicht als Schwäche, sondern als besondere Fähigkeit, die ich bewusst in meinen Alltag integriere.»
Lauter, greller und stärker
Anabelle: «Manchmal fühlt es sich so an, als wäre alles ein bisschen lauter, greller und stärker für mich als für andere. Das kann schön sein, aber auch anstrengend. Wenn in der Schule alle durcheinanderreden, werde ich nervös und möchte am liebsten rausgehen.
Ich habe auch gemerkt, dass ich auf Dinge reagiere, über die andere vielleicht hinwegsehen. Wenn jemand aus Spass etwas Gemeines sagt, beschäftigt mich das lange. Einmal haben wir in der Schule ein Video über das Mittelalter angeschaut. Es hat mich so geängstigt, dass ich fast ohnmächtig wurde.
Manchmal spüre ich, wie sich jemand fühlt, ohne dass er es mir sagt. Das ist eine Fähigkeit, die ich mag.
Anabelle, 12
Inzwischen weiss ich, dass ich hochsensibel bin. Mama ist es auch und kann mich gut verstehen. Ich habe es auch meiner besten Freundin erzählt. Sie sagt mir, dass es okay ist, so zu sein, wie ich bin. Das hilft mir, weil ich manchmal das Gefühl habe, nicht in die Gruppe zu passen.
Ich habe auch gelernt, dass es schön sein kann, hochsensibel zu sein. Ich kann Dinge hören oder sehen, die andere gar nicht bemerken. Wenn jemand nicht ehrlich ist, merke ich das schnell. Manchmal spüre ich auch, wie sich jemand fühlt, ohne dass er es mir sagt. Das ist eine besondere Fähigkeit, die ich mag.
Inzwischen weiss ich auch, was ich machen kann, wenn alles zu viel ist. Es hilft mir, wenn ich in solchen Momenten tief durchatme und an etwas Schönes denke. Manchmal male ich auch, um mich zu beruhigen.»