Wie der Arbeitsweg Ihr Leben verändern kann

Wie finden Eltern Entspannung? Es fängt im Alltag an, schreibt Fritz+Fränzi-Redaktorin Maria Ryser und zeigt am Beispiel ihres Arbeitswegs, wie wir in routinierten Handlungen mehr Tiefgang erfahren können.
Ob Sies glauben oder nicht: Ich liebe meinen Arbeitsweg. Ich liebe ihn so sehr, dass ich mich schon am Vorabend auf diesen Moment freue. Die spinnt, denken Sie jetzt vielleicht. Mag sein, doch wissen Sie was? Entspannung – und genau darum geht es in diesem Beitrag – fängt im Alltag an. Nicht auf der Yogamatte, nicht beim Wandern in der Freizeit, nein, wenn wir unser Familienleben langfristig entspannen wollen, tun wir gut daran, die alltäglichen Abläufe unter die Lupe zu nehmen.
Lassen Sie sich verführen und horchen Sie mit mir auf die tieferen Töne hinter dem Offenkundigen.
Also raus aus dem ermüdenden Hamsterrad unserer Routinen und rein in die Frische des Augenblicks. Der unspektakuläre Arbeitsweg eignet sich dabei hervorragend als Musterbeispiel für mehr Tiefgang in Ihrem Leben. Sie glauben mir nicht? Dann lassen Sie sich verführen und horchen Sie mit mir auf die tieferen Töne hinter dem Offenkundigen.
Wie riecht dieser Morgen?
Es fängt schon mit dem Verlassen Ihres Zuhauses an. Routiniert geht das so: Türe auf, Türe ins Schloss fallen lassen. Losmarschieren. In Gedanken gehen Sie vielleicht schon die To-Do-Liste Ihres Arbeitstages durch. Oder kleben bereits am Handy.
Spulen Sie nochmals zurück und seien Sie sich der Grösse dieses alltäglichen Schrittes bewusst: Sie verlassen Ihre vertrauten vier Wände und gehen in die grosse weite Welt hinaus!
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Dachs oder Fuchs oder sonst ein Tier, das morgens aus seiner Höhle kriecht und als erstes seine Nase in den Wind streckt. Wie riecht dieser Morgen? Welche Düfte und Botschaften trägt die aktuelle Jahreszeit Ihnen zu?
Nehmen Sie sich zehn Sekunden Zeit, in denen Sie reglos vor Ihrer Haustüre stehen bleiben und den neuen Tag beschnuppern. Spüren Sie den Unterschied zum achtlosen Raustschalpen? Grandios, finden Sie nicht?
Ella, meine treue Begleiterin
Nun geht das Abenteuer erst richtig los. Kommen wir zu Ella, meiner treuen Drahteselin. Ein orangefarbener Citycruiser mit schneeweissen Reifen (naja, nicht mehr ganz, doch es klingt so schön…) und einer simplen, doch genialen Sechsgang-Shimano-Schaltung.

Sie merken, ich fahre mit dem Velo zur Arbeit, und zwar bei jedem Wetter. Auch wenn es Katzen hagelt (dann ist es besonders schön, da völlig leer). Es gibt bekanntlich kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleider. Und Regen im Gesicht weckt sofort. Da sind Sie instant-wach. Nur bei Schnee und Eis lasse ich Ella im Stall, was allerdings selten vorkommt.
Mein Arbeitsweg führt mich von Zürich-Wollishofen ins Seefeld. Also einmal ums Seebecken. Eine wundervolle Strecke, auf der wir einer famos duftenden Kurve, einer Zwergenburg und meinem Morgenritual auf dem See begegnen werden. Die spinnt tatsächlich (Sie wurden vorgewarnt…). Doch bleiben Sie dran – es lohnt sich.
In der Zedernduftkurve krieg ich jedes Mal ein olfaktorisches Flash.
Vom Entlisberg zum Zürisee
Ich gebe zu, es ist ein besonderer Luxus, zu Beginn den Berg hinunterzusausen. Völlig schwerelos, mit viel Wind im Gesicht fädeln Ella und ich uns in den Morgenverkehr an der Albisstrasse ein. Wir lassen diesen rasch hinter uns und biegen bei der Post Wollishofen ab Richtung See.
Vor der Bahnunterführung in einer Linkskurve grüsst mich der betörende Duft einer Zeder. Da krieg ich jedes Mal ein olfaktorisches Flash. Im Sommer vermag allerdings auch der gute Baum den wenig verführerischen Geruch der Kanalisation nicht zu überdecken. Was solls, es ist Spätherbst, ich bin schon vorbei und auf der anderen Seite angelangt. Bei der ersten Baustelle.

Dazu gibts eine lustige Anekdote: Ich fuhr einmal im Sommer vorbei, mit Röckli und freudestrahlend. Spontan winkte ich den Bauarbeitern zu. Sie liessen subito ihre Werkzeuge fallen, hüpften auf und ab und winkten wie verrückt zurück. So sehr haben sie sich gefreut. Die Armen dürfen heutzutage ja keiner Frau mehr nachpfeifen. Was ich persönlich schade finde. Ist doch ein schönes Kompliment, verspielt und lebensfroh, finden Sie nicht auch?
Ein Aha-Moment
Kurz vor der Saffa-Insel, direkt neben der Strasse hat ein Obdachloser sein Hab und Gut deponiert. Ich bewundere den virtuos verknüpften und unscheinbaren Haushaltsberg jedes Mal.

Der unbekannte Lebenskünstler kommt mit dem allernötigsten aus. Davon würde ich mir manchmal gerne eine Scheibe abschneiden, wenn ich an all den Karsumpel denke, der sich in einer fünfköpfigen Familie über die Jahre ansammelt. Weniger ist mehr. Eine Lebensweisheit, die wir in Zeiten knapper werdender Ressourcen zwingend beherzigen sollten.
Perspektivenwechsel tun gut und öffnen Räume für Unerwartetes.
Extrarunde auf der Saffa-Insel
Nun folgt ein erster Höhepunkt: Die Extrarunde auf der Saffa-Insel. Einmal 360 Grad Seeblick, bei Nebel sogar mit der Vorstellung, am Meer zu sein. Wunderschöne alte Bäume wiegen andächtig ihre Kronen, das Wasser plätschert an die 1958 im Rahmen der zweiten schweizerischen Landesausstellung für Frauenarbeit erbaute Saffa-Insel.



Im Geist und Herzen danke ich den mutigen Vorreiterinnen der Frauenbewegung. Ohne euch könnte ich heute nicht so frei und selbstbestimmt leben. Habt tausend Dank!
Ob noch eine zweite Runde in umgekehrter Richtung drinliegt? Klar doch, die gönn ich mir. Perspektivenwechsel tun gut und öffnen Räume für Unerwartetes. Der Mann mit dem Hund schaut mich verdutzt an, als ich seinen Weg erneut Mal kreuze. Ich lächle und er lächelt zurück.
Eine Zwergenburg mitten in der Stadt
Von der Saffa-Insel aus fahre ich um diese Jahreszeit je nach Lust und Laune direkt dem See entlang durch die Badi Mythenquai. Im Sommer tummeln sich hier Tausende Kinder und Senioren lassen sich jassend ihr Fell gerben.
Im Winter kehrt Stille ein. Fussgänger, zwei Schwäne und ein paar Enten säumen das Ufer. Gegen Abend reihen sich Möwen auf dem Geländer des 5-Meter-Sprungturms aneinander und recken ihre Köpfe der untergehenden Sonne entgegen.

Mein zweiter Höhepunkt folgt beim Hafen Enge. Am Rande eines Pflastersteinplatzes, auf dem das überdimensionierte Haupt des Schriftstellers Gottfried Keller thront, versteckt zwischen dem letzten Bootssteg und dem Restaurant Samigos liegt unter den langen Ästen von Nadelbäumen eine Zwergenburg.




In meiner Fantasie ist sie das zumindest, auch wenn Zwerge wohl eher in Wäldern und Bergen zuhause sind. Am Zürichseeufer mitten in der Stadt fühlen sich auch ein paar wasserliebende Zwerge heimisch.
Ihre Burg besteht aus den grossen, knorrigen Wurzeln der Bäume, die hier ins Wasser wachsen. Im Morgenlicht glitzert das Wurzelgebilde besonders majestätisch und ich sehe Thorin, Balin, Gloin und wie die Zwerge aus Tolkiens Klassiker, «Herr der Ringe», alle heissen, genüsslich ihre Tabakpfeife rauchen. Dürfen Zwerge überhaupt noch rauchen? Egal, bei mir rauchen sie (und pfeifen Frauen hinterher…).
Mit diesem Morgenritual wird Sie nichts so schnell aus dem Gleichgewicht bringen.
Mein Morgenritual auf dem Wasser
Vor der Zwergenburg auf dem bereits erwähnten Bootssteg ganz vorne darf sich meine Ella einen Moment lang ausruhen, während ich mich dem dritten Höhepunkt meines Arbeitsweges widme: meinem Morgenritual auf dem Wasser. Es handelt sich um eine Übung aus dem Thai Chi, die mich meine Mutter gelehrt hat.

Jede der folgenden Aussagen wird mit einer meditativen Bewegung ausgeführt. Mögen diese Worte Ihnen ebenfalls wohltun und Sie inspirieren:
«Ich grüsse den Himmel, ich grüsse die Erde und hier stehe ich. Ich öffne mich, ich schütze mich und verbinde Himmel und Erde. Ich wecke das Feuer in mir und schicke es in die Welt. Es kommt zurück zu mir als Tau. Ich gehe in die Welt, schaue mich um und pflücke, was mir gut tut. Ich verdaue es und lasse los, was ich nicht brauchen kann. Ich hole die Kraft der Erde durch mich hindurch und übergebe alles, was ich nicht verstehe, dem Universum. Ich umarme die Tigerin in mir und komme zu meiner Felsen-Kraft.»
Das Ritual dauert nicht länger als drei Minuten. Drei Minuten, die, wenn Sie es täglich ausführen, Ihr Leben verändern werden. Sie legen damit ein stabiles Fundament für Ihren Tag. Mag es draussen in der Welt tosen und krisen und krosen. Nichts wird Sie im Inneren so schnell aus dem Gleichgewicht bringen. Das dürfen Sie mir gerne glauben.
Werde ich eine grüne Welle haben?
Auf Ella strample ich weiter dem Hafen entlang, vorbei am Seebad Enge, unter den uralten und mächtigen Baumriesen der Rentenanstalt hindurch bis zum Bürkliplatz, die endlose Autoschlange des Morgenverkehrs hinter mir lassend.

Auf wie vielen japanischen oder chinesischen Fotoschnappschüssen ich beim Passieren der Quaibrücke wohl schon verewigt wurde? Ich muss mal wieder Touristin in meiner eigenen Stadt spielen. Die Fahrt mit einem Trollybus steht schon eine Weile auf meiner Bucket-Liste.
Nun wird es immer belebter. Vom Bellevue her strömen Fussgänger an den See. Ich umkurve sie elegant und geniesse die letzte Etappe unter den Kronen der Kastanienallee des rechten Zürisee-Ufers. Die Goldküste liegt am Morgen in Wollishofen. Hier im Seefeld umfangen mich kühle Morgenschatten, die erst zögerlich von Sonnenstrahlen durchbrochen werden.

Werde ich eine grüne Welle haben? Es ist jedes Mal eine Genugtuung, wenn ich vom See her ohne Stopp bei der Ampel in die Kreuzstrasse einbiegen kann. Eine letzte Kurve und Ella und ich sind da: an der Dufourstrasse 47.
Herzlich Willkommen beim Elternmagazin Fritz+Fränzi. Schön, Sind Sie zu Gast bei uns und haben Sie lieben Dank für diese Morgenreise mit Ihnen.