Eltern-Burnout: Am Ende ihrer Kräfte
Sie versucht, ihn zu überzeugen. Sie verstehe, dass er weiter baden möchte, aber es sei schon spät, das Essen fast fertig, und wenn er länger aufbleibe, werde er am nächsten Morgen müde sein. Es nützt nichts. Im Gegenteil, auch Theo ist nun ungehalten und wirft ihr vor: «Nie lässt du mir in der Badewanne Zeit zum Spielen!» Judith ärgert sich, wird laut. Schliesslich holt sie ihren Sohn mit Gewalt aus dem Wasser.
Online-Dossier Burnout
Im Alltag weiss sie häufig weder ein noch aus. Sie fühlt sich erschöpft und leer. Immer öfter wünscht sie sich, woanders zu sein, alles hinter sich zu lassen. Sie hat keine Freude mehr daran, sich um ihre Kinder zu kümmern. Leidet Judith an einem Burnout?
von Kindern, die bereits 30 sind, können ein Eltern-Burnout erleiden.
Typische Kennzeichen waren Erschöpfung, Gleichgültigkeit, geringe Leistungsfähigkeit sowie sinkende Identifikation mit der Arbeit. Meist traf es gerade jene, die sich zuvor am stärksten engagiert hatten.
In den 80er-Jahren erwogen einige Wissenschaftler erstmals, dass auch Eltern unter einem Burnout leiden können. Allerdings untersuchten sie zunächst nur Mütter und Väter von chronisch kranken Kindern und liessen die Allgemeinheit weitgehend unbeachtet. Diese Lücke wollen wir Forscherinnen und Forscher vom Psychological Sciences Research Institut der Université Catholique de Louvain in Belgien mit unserer Arbeit schliessen.
In Frankreich leiden nach unseren jüngsten Erhebungen fünf Prozent der Mütter oder Väter unter einem elterlichen Burnout, und weitere acht Prozent tragen ein erhöhtes Risiko, im Lauf des folgenden Jahres daran zu erkranken. Das heisst: 13 Prozent quält ihr Elterndasein.
Mit dem sogenannten Baby-Blues hat das nichts zu tun: Er beruht auf hormonellen Schwankungen in den ersten Tagen nach der Geburt. Ein Burnout-Syndrom kann unabhängig davon einsetzen, egal wie alt die Kinder gerade sind; auch Eltern von Teenagern können betroffen sein und selbst jene, deren Nachwuchs bereits 30 Jahre alt ist, wie unsere Erhebung zeigt. Von einer Depression unterscheidet es sich insofern, als die Lustlosigkeit nur das Familienleben und die Erziehung der Kinder betrifft.
Was sind die Symptome eines Eltern-Burnouts?
Zwei dieser drei Symptome genügen, um von einem Burnout zu sprechen. Umstritten ist, welche Rolle chronischer Stress dabei spielt. Auch wenn das Elterndasein oft wunderbar ist, kann es durchaus eine Belastung sein. Die Eltern müssen das Familienleben organisieren, den Alltag managen, eigene Aktivitäten zugunsten des Nachwuchses hintanstellen – aber das ist nicht für jeden und in jedem Moment gleichermassen belastend.
Von akutem Stress spricht man, wenn es einen eindeutigen, zeitlich begrenzten Auslöser gibt, zum Beispiel eine kurzfristige Erkrankung des Kindes. Chronisch wird er, wenn die Situation anhält oder eine akute Belastung auf die nächste folgt, ohne Erholungspausen dazwischen.
Der ganz normale Wahnsinn
Hinter einem Burnout steckt jedoch nicht immer ein dramatisches Erlebnis. Der ganz normale Alltag ist manchmal Herausforderung genug: Eltern wollen ihrem Nachwuchs möglichst viel Gutes tun; er soll gesund und glücklich sein und sich optimal entwickeln.
Dennoch kommt man ab und zu einfach zu müde von der Arbeit, um sich noch aufmerksam seinem Kind widmen zu können. Dann fehlt es an Zeit, Lust und Geduld, um zuzuhören, zu loben oder zu helfen. Stattdessen ist man schnell genervt oder regt sich über Kleinigkeiten auf, obwohl man eigentlich Autonomie fördern und mit Bedacht urteilen wollte.
Manchmal möchte man auch etwas für sich tun, obwohl man die Kinder den ganzen Tag nicht gesehen hat. Ein legitimes Anliegen, doch schon kommen die Schuldgefühle hoch.
Ist das Burnout erst einmal da, folgen weitere Probleme: «Wenn ich nur einen Moment mit dem Baby verbringen wollte, verlangte meine Älteste permanent nach Aufmerksamkeit. Ich war unglaublich genervt und musste mich ständig zusammenreissen », berichtet Elisabeth, die Mutter von zwei Kindern ist. «Wenn dann mein Mann nach Hause kam, bin ich explodiert. Ich habe lieber alles an ihm ausgelassen als an den Kindern.» Eheprobleme und Streitereien nehmen zu, und die Libido kann ebenfalls unter einem Burnout leiden.
Einige Betroffene vernachlässigen ihre Kinder, waschen sie nicht mehr, passen nicht genug auf sie auf oder vergessen, ihnen etwas zu essen zu machen. Manche beschimpfen oder schlagen sie auch. Derzeit ist uns zwar keine Studie bekannt, die belegt hätte, dass Burnout zwangsläufig mit Vernachlässigung, verbaler oder körperlicher Misshandlung einhergeht. Aber alle von uns befragten Personen haben uns von solchen Verhaltensweisen berichtet.
Burnout verstärkt Süchte
Die Forscher zeigten bei einer Befragung von mehr als 3000 Angestellten, dass jeder zusätzliche Punkt auf einer Burnout-Skala das Risiko einer Alkoholabhängigkeit bei Männern um 51 Prozent und bei Frauen um 80 Prozent steigerte. Derzeit untersuchen wir, ob sich Eltern mit Burnout häufiger das Leben nehmen.
Das gilt jedenfalls für berufliches Burnout: Danielle Mohren und ihre Kollegen von der Universität Maastricht stellten anhand von Daten von 12'000 Angestellten fest, dass es im Fall eines Burnouts auch häufiger zu viralen Infektionen kommt; so verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit, an einer Magen-Darm-Grippe zu erkranken.
Und das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung stieg um 80 Prozent, wie ein Team um Sharon Toker von der Universität Tel Aviv zeigte. Die Forscher hatten den Gesundheitszustand von rund 8800 Berufstätigen in Israel über drei Jahre hinweg verfolgt.
Tabu brechen, darüber reden
Wenn viele dieser Punkte zutreffen, sollten die Betroffenen ein Burnout in Betracht ziehen (siehe Selbsttest zum Download). Danach gilt es, eine Reihe von Dingen zu ändern. Wichtig ist vor allem, darüber zu reden. Unter dem Elterndasein zu leiden, unterliegt einem Tabu.
Dennoch sollten Mütter und Väter, die sich quälen, einen Arzt oder einen Psychologen um Hilfe bitten. Medikamente können die Probleme zwar nicht einfach beseitigen, aber womöglich unterstützend wirken, wenn das Burnout weit fortgeschritten ist oder der Betroffene an Suizid denkt.
Der grösste Teil der Arbeit ist allerdings psychologischer Natur. Es gilt herauszufinden, wie es so weit kommen konnte und welche Belastungen besonders schwer wiegen. Das kann von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Unsere Erfahrung zeigt, dass bestimmte Faktoren häufig eine Rolle spielen: die Qualität der Partnerschaft, die Erziehungspraktiken, die Persönlichkeiten der Betroffenen. Oft sind sie perfektionistisch, tun sich aber schwer, mit ihren eigenen Emotionen umzugehen und die Gefühle ihrer Kinder zu erkennen und zu verstehen.
Was bei einem Eltern-Burnout helfen kann
Es kann helfen, Unterstützung von den Grosseltern einzuholen, Aufgaben klarer zu verteilen, Freizeitaktivitäten auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren, das Essen notfalls auch mal aus der Tiefkühltruhe zu holen oder den Pizzakurier zu bestellen – kurz: ab und an weniger streng mit sich zu sein. Den betroffenen Müttern und Vätern fehlt es häufig an konkreter Hilfe seitens des Partners, bedingt durch dessen Arbeit oder ein traditionelles Rollenverständnis.
Familientherapeuten können dem Paar helfen, eine gemeinsame Linie zu finden.Widersprüche und inkonsequentes Verhalten lassen sich nicht immer vermeiden. Wenn ein Elternteil auf einer Autofahrt droht, das Kind am Strassenrand auszusetzen, wenn es nicht brav ist, so sollte diese Drohung natürlich nicht wahr gemacht werden. Aber wer immer wieder Konsequenzen androht und nicht umsetzt, macht sich unglaubwürdig.
Das Kind lernt auf diese Weise, dass es den Aussagen der Eltern keine Bedeutung beimessen muss. Nicht zuletzt geht es darum, die gemeinsame Zeit gut zu verbringen. Das bedeutet nicht, dass sich Eltern oder Kinder zu etwas zwingen sollten, was ihnen eigentlich keine Freude bereitet. Vielmehr sollte die Familie Aktivitäten suchen, die allen Beteiligten Spass machen. Und diese müssen nicht immer pädagogisch wertvoll sein. Anders als erwartet hängt die Wahrscheinlichkeit, als Mutter oder Vater ein Burnout zu erleiden, weder vom Alter der Kinder noch von dem der Eltern oder von deren Einkommen ab.
Patchwork-Eltern leiden ebenfalls nicht häufiger oder seltener darunter. Und selbst ein schwieriges, dickköpfiges Kind allein genügt nicht, um ein Burnout auszulösen. Das bedeutet jedoch auch: Kein Elternteil ist grundsätzlich davor gefeit.
Wer unter einem solchen Burnout leidet, sollte die Hoffnung nicht aufgeben. Es mag schwierig erscheinen, aus dem Tief herauszukommen, wenn man für nichts mehr Kraft hat. Aber ein Burnout dauert nicht ein Leben lang. Manchmal sind es zwei Wochen, manchmal vier Monate oder zwei Jahre. Doch wenn es überwunden ist, gelangt man zu neuen Kräften und kann die Freuden des Elterndaseins wieder geniessen.
Dieser Text erschien erstmals in der Zeitschrift Gehirn & Geist 12 / 2017.
Bilder: Alamy & Getty Images
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